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Beiträge: 85 Ort: Oebisfelde
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Erstellt: 17.12.10, 00:02 Betreff: 1986: Selige Sehnsucht
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Selige Sehnsucht
Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet. In der Liebesnächte Kühlung, die dich zeugte, wo du zeugtest, überfällt dich fremde Fühlung, wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen in der Finsternis Beschattung, und dich reißet neu Verlangen auf zu höherer Begattung. Keine Ferne macht dich schwierig, kommst geflogen und gebannt, und zuletzt, des Lichts begierig, bist du, Schmetterling, verbrannt. Und solang du das nicht hast, Dieses: Stirb und werde! bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde. – Johann Wolfgang von Goethe
Eine Nacht im November 1986. Aufgewühlt liege ich im Bett und rätsele, wo meine Schwester jetzt sein könnte. Seit Tagen kreisen meine Gedanken nur um sie. Still und heimlich ist sie gegangen. Nichts ist uns geblieben außer einem großen Fragezeichen: Warum? Ihr Fortgehen zermürbt uns alle. Zu makaber war das, was wir in ihrem Badezimmer vorfanden. Könnte ich sie nur erreichen, mit ihr reden! Unter ihrem Abschiedsbrief stand „Pfüati“. Aber der Grund, den sie genannt hat, entbehrt jeder Logik. – Lisa, wo bist du? – frage ich ins Dunkle. – Bitte melde dich! – Da höre ich ihre Stimme in meinem Kopf: "Hallo? Bist du ’s?" – Lisa! – Es hat geklappt. Ihre Stimme klingt so nah, als säßen wir uns gegenüber. Ob es Einbildung ist oder Wirklichkeit, wer kann das sagen? Wichtig ist nur, dass ich mich gut dabei fühle. Von klein auf hatten wir beide das Gefühl, uns seit Jahrtausenden, seit eh und je zu kennen. Als ich drei Jahre nach ihr auf die Welt kam, soll sie mich mit den Worten begrüßt haben: „Da bist du ja endlich.“ – Lisa, erzähl mir doch, warum du gegangen bist. Was ist nur in dich gefahren an diesem Tag? "Also, ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, war völlig überdreht und gegen alles empfindlich. ‚Was mach ich bloß?’, dachte ich. ‚Wie soll das nur weitergehen?’ Ein Leben ohne Bühne, ohne Proben, ohne Premieren, stattdessen Bestrahlungen, Wartezimmer, weiße Kittel und Krebspatienten, die mir in allen Einzelheiten ihre Krankengeschichten erzählen. Das hatte mit mir und meinem Leben nichts mehr zu tun." Ihre Stimme klingt bedrückt, die Sätze kommen stockend, mit langen Pausen. "Mein Hauptbuch war vollgeschrieben bis zur letzten Seite, da dachte ich, jetzt klappst du ’s einfach zu." Ihr Hauptbuch, dieser sieben Kilo schwere Foliant, liegt jetzt kalt und schwer in unserer Garage zwischen Kisten voller Bücher, Fotos und besprochener Kassetten. Ihr Eintrag auf der ersten Seite schildert, wie sie hinter dem Wandregal einer Mansarde eine Tür zur Rumpelkammer ihrer Wirtin öffnete und neben einem Spinnrad dieses Buch von 1885 fand, mit 365 leeren Doppelseiten „Soll und Haben“. Manchmal in grüner Tinte, meistens in Violett füllte sie die Seiten mit Briefen, Gedichten und Tagebuchnotizen. Ein viertel Jahrhundert lang war dieses Buch ihr stiller Lebensgefährte und nahm ihre Beichten über Liebesfieber und Liebeskummer geduldig entgegen. Eingeklebte Bühnenfotos, Kritiken und Ausschnitte aus den Programmheften zeigen sie als Ehrbare Dirne Lissy bei der Landesbühne, als Effi Briest im Kleintheater, als Mutter Courage im Theater der Altstadt. Alle ihre Hauptrollen und Spielzeiten sind dokumentiert, von Bruchsal über Köln und Bern bis Stuttgart. Nur von ihrer Zeit in München gibt es keine Bilder. Dort hat sie lediglich ab und zu Hörspiele für den Bayrischen Rundfunk gesprochen. Ohne Bühnenarbeit verkroch sie sich immer tiefer in sich selbst, verliebte sich in die Stille ihres Zimmers mit dem sonnigen Balkon zum Garten und ging fast nur noch zum Einkaufen hinaus in den Straßenlärm. Vor sechs Wochen schrieb sie mir nach Indien, sie habe Gebärmutterkrebs und müsse operiert werden. – Du hättest ein neues Hauptbuch aufklappen können. Der Krebs war doch weg. – "Das war noch nicht sicher. Laufend sollte ich zu Nachuntersuchungen kommen. Schon vor der Operation hatte ich mich darauf eingestellt, dass meine Zeit auf Erden abgelaufen war. Eine Patientin im Krankenhaus hatte mir zwei Adressen gegeben: Vereinigung für freiwillige Euthanasie und Gesellschaft für humanes Sterben. Ich hatte sie angeschrieben und um Prospekte gebeten. Als ich später zur Bestrahlung bestellt wurde, ging ich einfach nicht hin. ‚Das ist der Anfang vom Ende‘, dachte ich, ‚ein Teufelskreis.‘ Da kamen die Prospekte. Es klang alles so vernünftig: kein Dahinsiechen, keine Belastung der Krankenkasse und der Familie. Es schien tatsächlich das Sinnvollste zu sein, jetzt von der Bühne abzutreten." Sie schweigt und gibt mir Gelegenheit, mich an die Zeit mit ihr zu erinnern. Als ich zwei Jahre alt war, sah sie mich mit dem Gesicht unter Wasser in einem Bach liegen und rettete mich vor dem Ertrinken. Als meine Mutter starb, übernahm sie für mich deren Rolle, später führte sie mich in Künstlerkreise ein, machte mich mit Schauspielern, Schriftstellern und Malern bekannt. Wir lasen zusammen Rilkes Malte Laurids Brigge, und seitdem empfand sie den Tod als etwas Heiliges, als das große Einswerden mit dem göttlichen Licht. Alle ihre Liebschaften scheiterten früher oder später an dieser seligen Sehnsucht nach jenem geheimnisumwitterten Gesellen, den die meisten Menschen fürchteten und flohen, ohne ihm je entkommen zu können; dem Freund der Lyriker und Denker, der vor keinem Würdenträger Halt machte. Ihn, den sie ihr Leben lang verehrte, rückte der Krebs nun in greifbare Nähe. "Drei Tage zuvor hatte ich es schon mit Tabletten versucht. Aber am nächsten Morgen wachte ich nur mit einem dumpfen Druck im Kopf auf und fühlte mich wie gelähmt. ‚Es muss doch irgendwie gehen, ich bräuchte ein Buch’, dachte ich. Also hab ich jemanden angerufen, so einen jungen Kerl." – Wen? "Den Namen sage ich nicht, sonst kriegt er noch Ärger. Ich hab ihn gefragt: ,Kannst du mir nicht ein Buch besorgen, wo drin steht, wie man ’s machen muss?‘ Er wollte erst nicht, aber ich ließ nicht locker, bis er sagte: ,Is gut. Aber vorbeibringen du i ’s net.‘ ,Warum nicht?‘ ,Naa, naa! Do will i nix mit z’ due ham.‘ Ich traf ihn am U-Bahnhof, er gab mir das Buch, ich versteckte es unterm Mantel und wurde auf einmal ganz ruhig. Ich drückte es ans Herz und sah alles mit anderen Augen: Wie die Leute alle hin und her rannten ... mit sorgenzerfurchter Stirn! Zu all dem hatte ich plötzlich einen ganz großen Abstand. Das war vorbei, das ging mich nichts mehr an. Als ich über die Straße lief, hätte mich beinahe ein Auto überfahren. Der Fahrer hupte und fing an zu schimpfen: ,Bassen ’s doch auf, des wär fast daneben ganga!‘ Und ich dachte: ‚Na wenn schon. Das ist doch genau, was ich will. Wenn der wüsste, welchen Schatz ich unterm Mantel trage!‘ Ich bog in meine Straße ein und sagte mir: ‚So. Jetzt gehst du zum letzten Mal diese Straße entlang, steigst zum letzten Mal die Treppe hoch, schließt zum letzten Mal deine Wohnungstür auf.‘ Wenn du aus einer Gegend wegziehst, in der du lange gewohnt hast und wo du so manches erlebt hast ... Vieles kommt dir dann in den Sinn. Ich dachte an die stillen Stunden in meinem Zimmer mit Nachmittagssonne und Vogelgezwitscher, an die Freunde, die ich hier hatte ... an deinen Besuch ... an unseren Zukunftstraum von der Wanderbühne mit eigenem Schattentheater ... Von all dem nahm ich jetzt Abschied. Ich war ganz ruhig und fühlte mich federleicht, so als wär’ ich schon ohne Körper. Im Zimmer blätterte ich in dem Buch und dachte: ‚Das ist mein Tor zum Licht. Bald wird es hell um mich sein.‘ Ach, furchtbar, was es für Todesarten gibt und was man alles dazu braucht! Ich hatte doch nichts, keinen Strick, keinen Haken an der Decke, keinen Revolver. Ich war schon ganz ratlos. Da sah ich auf einmal die Überschrift: ,Mit Messer und Hammer‘ . Ein Brotmesser hatte ich doch, genau in der richtigen Länge, und einen Hammer auch. Um die Wohnung nicht zu verschandeln wurde empfohlen, sich in die Badewanne zu setzen. Schon vor dem ersten Versuch hatte ich den Brief an dich geschrieben und zusammen mit meinen Ersparnissen in einen Umschlag gesteckt. Das lag alles noch da wie vor drei Tagen. Jetzt schrieb ich noch einen Zettel, wie in dem Buch geraten wurde, damit kein anderer verdächtigt wurde: ,Ich scheide aus dem Leben, weil ich Krebs habe.‘ Ich legte eine Kassette mit ruhiger Musik in den Recorder und stellte das Band auf endlos. Eine feierliche Stimmung überkam mich, eine Art heiliger Rausch. Ich war richtig glücklich. Endlich war es so weit. Ich stand vor dem Ziel meiner Wünsche. Ich nahm Messer und Hammer und stieg in die Wanne. Das Buch legte ich neben mich auf den Stuhl. Dann ging alles sehr schnell. Ich setzte mir das Messer auf die Brust und nahm den Hammer in die andere Hand. In dem Buch war genau gezeigt, wo das Herz sitzt und durch welche Rippen man drankommt. Ich drückte das Messer zwischen die Rippen und schlug mit dem Hammer drauf. Als er mit lautem Krach zu Boden fiel, erschrak ich und dachte: Hoffentlich hat das keiner gehört und kommt jetzt rein. Da merkte ich, es hatte geklappt, und dachte: ‚Endlich erlöst.‘ Dann wurde ich bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich das Gefühl, durch eine lange, dunkle Röhre gezogen zu werden. Es war wie ein Sog zum hellen Ende eines Tunnels. Dort stand eine Frau, die sah mich traurig an und sagte: ,Siehst du, das ist dein Körper.‘ Da sah ich meinen Körper in der Badewanne. Der Kopf war zur Seite gekippt, die Augen standen offen, die Kinnlade hing herunter, ich konnte die Zähne sehen. Das Blut floss noch als dünnes Rinnsal aus der Wunde. Ich bekam einen Schreck: ‚Mensch, es hat wirklich geklappt. Jetzt gibt es kein Zurück.‘ Und wie ich meinen toten Körper so betrachtete, schüttelte ich mich und dachte: ‚Wie ekelhaft der jetzt aussieht. Gut, dass du den endlich los bist.‘ Ich blieb lange im Bad und sah, wie das Blut aufhörte zu fließen und gerann. Da klingelte das Telefon. Aber ich konnte ja nicht mehr abheben und sagen: ,Es hat geklappt. Ihr könnt meinen Körper abholen. Er liegt in der Badewanne.‘ Ewig hat es geklingelt, später wieder, tagelang. Außer dem Schrillen des Telefons war nur das Knarren der Dielen von oben zu hören und der feierliche Gesang, den ich auf endlos gestellt hatte. Und im Bad brannte die ganze Zeit Licht, die Heizung war aufgedreht, es wurde stickig und stank. Die Wangen fielen ein, die Nase wurde spitzer. Niemand kam. ,Siehst du, das ist dein Körper‘ , sagte die Frau. Sie stand immer noch hinter mir, als wäre nur ein Augenblick verstrichen. ,Ich habe mich selbst ermordet.‘ ,Leider ja.‘ Sie hatte Verständnis und nickte mir zu. ,Es tut mir Leid für dich. Aber jetzt ist es zu spät.‘ “ Lisas Stimme schweigt in meinem Kopf. Ich denke daran, was mein Vater, meine Stiefmutter und meine Geschwister inzwischen erlebt haben. – Nach einer Woche haben sie dich gefunden. Deine Nachbarin rief bei uns an und fragte, ob du bei uns wärst. Seit Tagen wärst du nicht mehr aufgetaucht, ans Telefon gingst du auch nicht. Sie versuchten immer wieder, dich zu erreichen. Als du den Hörer nie abnahmst, wurden sie stutzig. Schließlich sind sie nach München gefahren und haben mit der Polizei die Wohnung aufgebrochen. Der Schock sitzt ihnen jetzt noch in den Knochen. Ich selber hab ’s erst Tage später erfahren, am Flughafen Frankfurt. Ich rief zu Hause an, da sagte Baba: ,Endlich meldest du dich. Lisa ist tot. Sie hat sich ein Messer in die Brust gerammt.‘ – Ich sehe mich im Geiste wie vor den Kopf geschlagen in die S-Bahn steigen. Auf dem Weg nach Hause denke ich an die Kartenlegerin, die Lisa aufsuchte, als sie siebzehn war. “Du wirst viele Charakterrollen spielen“, prophezeite sie ihr, “aber erst im Alter berühmt werden.“ Darauf sagte Lisa: “Ich will kein altes Weib werden. Wenn ich über Vierzig bin, bring ich mich um.“ Vierundvierzig ist sie geworden. Warum bin ich nicht eher zurückgeflogen? Schon seit Wochen hatte ich mich hundeelend gefühlt und wollte unbedingt nach Deutschland, ohne zu wissen warum. – Seit Tagen sehe ich alles wie durch einen Schleier, als stünde ich mit einem Fuß bei dir im Jenseits und schaute von dort auf die Erde. Im Vergleich zur Ewigkeit ist hier alles so hektisch und lächerlich. Wie Eintagsfliegen schwirren die Menschen durch die Gegend. Ich bin froh, dass ich dich hören kann. Wenigstens geistig bleiben wir verbunden. "Nur wenn du mich rufst. Ich selber kann mich nicht melden. Wir haben nur Verbindung, wenn du im Stillen an mich denkst." – Und wo bist du jetzt? "Im Dunkel." – Wie fühlst du dich? "Dunkel." – Was siehst du? "Dunkel." – Bist du in einem Raum? "Ja." – Kannst du dich bewegen? "Nein." – Wie furchtbar! Was ist los mit dir? "Ich bin in der Dunkelkammer." – Wieso? "Meine Ankunft war nicht vorgesehen, erst Jahrzehnte später, nachdem ich mit Charakterrollen berühmt geworden wäre. Bis dahin sitze ich im Dunkeln, weder hüben noch drüben." Unser Gespräch bricht ab. Erschüttert liege ich im Bett und finde keine Ruhe. Das alte Sprichwort ‚Wie du säst, so wirst du ernten‘ geht mir durch den Sinn. Wie grausam! – Gibt es irgendwo im Universum eine Instanz –, frage ich ins Dunkle hinein, – an die ich mich wenden kann, um meiner Schwester zu helfen? – Ja. – Eine fremde Stimme meldet sich in meinem Kopf. – Wie heißt diese Instanz, wie kann ich sie erreichen? – Du sprichst bereits mit ihr. – Was kann Lisa tun, um sich aus der Dunkelkammer zu befreien? – Nichts. Sie erntet nur die Früchte ihrer Handlung. – Aber sie kann doch nicht Jahrzehnte in der Dunkelkammer bleiben! Gibt es keinen Ausweg? – Doch! Jetzt entspinnt sich in meinem Kopf ein Gespräch, das mir am nächsten Morgen wie ein Spuk vorkommt. Habe ich geträumt? Ist meine Einbildung mit mir durchgebrannt? Das darf ich niemandem erzählen! Auch Lisa nicht. Die Ereignisse des Tages bringen mich zurück ins Diesseits. Ich fahre mit meinem Vater zum Notar, um die Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Für die kommende Woche ist eine Trauerfeier in der Kirche bestellt. Die nächsten Tage, besser Nächte, vermeide ich es, mit Lisa zu sprechen. Ich habe Angst, sie weiterhin in der Dunkelkammer vorzufinden. Ich sichte und ordne ihren Nachlass und reise nach der Trauerfeier ab, um zu der Gruppe zurückzukehren, zu der ich gehöre. Das letzte halbe Jahr war ich mit einer Meditationsgruppe, die höhere Bewusstseinszustände erforscht, in Indien. Jetzt ist die Gruppe wieder in Europa und wohnt in einer früheren Klosterschule. Der Tod meiner Schwester hat meine Ankunft um eine Woche verzögert. „Du kommst zur Unzeit“, sagt der Rezeptionist. „Alle Zimmer sind vergeben. Vor einer Woche wäre noch was frei gewesen.“ „Ich konnte nicht früher. Irgendwo wirst du doch ein Zimmer haben.“ Er schaut den Belegungsplan durch und schüttelt den Kopf. „Kein einziges Zimmer mit Bad, keines mit Dusche, höchstens eine Abstellkammer unterm Dach, einen schmalen Schlauch voller Gepäck und alter Möbelstücke. Das Gerümpel könntest du in den Speicher räumen, dann hättest du ein Zimmer. Aber ein Bad gibt ’s dort nicht. Da musst du runter gehen ins Schwimmbad hinter der Turnhalle.“ Die Kammer hat eine schräge Dachluke, die vom Schnee verdunkelt wird. Ich fühle mich beengt und abgeschoben, doch mein allabendliches Zwiegespräch mit Lisa tröstet mich: Während ich in dieser Abstellkammer hause, hat sie inzwischen die Dunkelkammer verlassen. Ein Jahr lang schreibe ich begierig mit, wie sie mir die helle, weite Landschaft schildert, ihre erwachende Begeisterung für klassische Musik und Opern, wie sie mir von einem Mann vorschwärmt, der sie betreut, oder das Gleichnis vom Salz in der Küche erzählt: "Du gehst in die Küche, um Salz zu holen, und siehst dort Rosinen und Mandeln, Erdnüsse, Kuchen, Käse und saure Gurken. Du fängst an zu naschen, kommst zurück ins Zimmer, setzt dich an den Tisch und merkst: ‚Ach, das Salz hab ich vergessen!‘ Also musst du noch einmal in die Küche." – Was willst du damit sagen? "Jede Seele entscheidet sich vor der Geburt, was sie auf Erden erreichen will. Wenn du das Salz vergisst, musst du noch einmal geboren werden, um es zu holen. Lass dich nicht vom Alltag überschatten, vergiss nie den Grund, warum du in einem Körper wohnst." Sie macht eine Pause, dann sagt sie: "Erinnerst du dich? Ich war doch anfangs in der Dunkelkammer. Jetzt habe ich erfahren, dass mir jemand geholfen hat, sonst säße ich heute noch dort. Einer, der auf Erden lebt. Das kannst nur du sein." – Wie kommst du darauf? "Wer denn sonst? Wie hast du das gemacht?" Ich berichte ihr, was in der Nacht nach dem ersten Gespräch mit ihr geschah, als sie in der Dunkelkammer war. – Gibt es keinen Ausweg? – hatte ich die fremde Stimme in meinem Kopf gefragt. – Doch. Du kannst die Wirkung ihrer Handlung übernehmen. – Ich? Wie macht sich das bei mir bemerkbar? – Das wirst du sehen. – Was muss ich dafür tun? – Formuliere deinen Entschluss in einem Satz. – Ich kam mir vor, als stünde ich vor einem Tribunal. – Wozu verpflichte ich mich dadurch? Werde ich es bereuen? – Nein. Du lebst in einem Erdenkörper und kannst mit jeder neuen Tat etwas bewirken. Lisa ist nicht mehr in der Lage, ihr Karma zu verändern. Niemand kann ihr helfen außer einem Menschen, der auf Erden lebt. – Im Geiste stellte ich mich vor das Tribunal und formulierte meinen Antrag. – Bist du sicher, dass du diesen Antrag stellen willst, mit allen seinen Folgen? – Ja. – Dann wiederhole ihn in vollem Wortlaut, damit du dir im Klaren bist, was du beantragst. – Ich wiederholte den Antrag in vollem Wortlaut, dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen kamen mir Zweifel: Gab es im Jenseits tatsächlich ein solches Tribunal? War meine Vorstellung nicht viel zu irdisch? Würde ich die Wirkung spüren? Würde es Lisa tatsächlich helfen? Das durfte ich niemandem erzählen! Auch ihr nicht. Ein Jahr lang hat sie nichts davon erfahren. Am Tag nach diesem Gespräch mit Lisa erklärt mir der Rezeptionist: „Heute wird ein Zimmer für dich frei, mit Bad und Balkon!“ Seither sind meine Gespräche mit Lisa selten geworden. Ich bin beruhigt, dass sie im Jenseits ihren Platz gefunden hat. Sie braucht mich nicht mehr. Aber irgendwann, das weiß ich, sehen wir uns wieder. © 2004 Jan Müller
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband: https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html
[editiert: 04.01.23, 13:11 von Jan]
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