Retinoblastom - Forum

Ildiko · Mitglied Beiträge: 29

Liebe Ingrid,

dann doch noch schnell einen Brief. Muss heute einen Beitrag für den rumänischen Germanistenkongress nächsten Montag schreiben, deshalb in Eile und kurz angebunden.

Meine Geschichte müsstest du mehr oder weniger aus dem Forum kennen (so wie ich dich einschätze, eher mehr), es war hier mein coming-out und Frieden schließen mit mir selbst. Es war schwer verdaulich, dass ich scheinbar diesseits der Oder (oder soll ich Leithe schreiben?) so ziemlich die einzige Überlebende von bilat. RB bin, zumindest bis nach der Wende. Ich suche seit cca 6 Jahren systematisch nach alten RB-Hasen in Osteuropa und bin bislang auf keinen gestoßen. In den Augenkliniken war ich während meiner Kindheit immer der kleine Star, aber halt das fünfköpfige Schaf, das achte Weltwunder, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Jetzt, wo ich militant geworden bin, werde ich richtig angefeindet von Augenärzten. Auf einen Satz reduziert könnte es heißen: ich soll mich was schämen, dass ich ihnen die Statistik kaputtzumachen wage (Sterberate 100% bei bilat. RB). Tagungen und Beiträge zum Thema gibt es noch und nöcher (ich sitze ihnen im Nacken), doch die an Überlebenden und Augenlicht messbaren Ergebnisse bleiben bislang aus. Deshalb war mir meine homepage so wichtig, deshalb ist es so schlimm, dass die Email-Adresse tot ist, ich habe nämlich über diesen Kontakt schon 2 Kinder nach Essen gebracht, inkl. Finanzierung organisiert.

Meine Position als Jahrmarktsattraktion hat nicht unbedingt zu meiner psychischen Stabilität beigetragen. Eigentlich bin ich ein tatkräftiger, heiterer, sonniger Mensch, der Energie versprühen kann und seine Umgebung mitreißt, doch tief im Inneren brodelt immer noch – nach 6 Jahren höchst erfolgreicher Therapie - die Hölle, das angeknackste Selbstwertgefühl reißt mir immer noch in wesentlichen, entscheidenden Momenten den Boden unter den Füßen weg und ich muss mich – wie Münchhausen – anhand der Vernunft, die bei mir als Einzige richtig zu funktionieren scheint – selber am Kragen aus dem Strudel ziehen. Bislang hat es zum Glück funktioniert.

Deshalb ist mir der Kontakt zu euch so wichtig. Deshalb wäre ich so gerne beim RB-Treffen dabei. Deshalb muss ich mich jedes Mal zusammenreißen, um nicht ungehalten zu werden, wenn in diesem Forum jemand auch nur ansatzweise versucht, Probleme anzusprechen, wo es wirklich um die Wurscht geht und dann ein Schwall von Lippenbekenntnissen unter dem Motto „glückliches und erfolgreiches Leben mit und trotz RB“ sich über jenen ergießt, der noch nicht einmal die Worte gefunden hat, über seine Ängste zu sprechen. Zumindest zwei solcher Menschen habt ihr im Laufe der vergangenen Jahre aus dem Forum vertrieben. Ein Vater hat sich privat an mich gewendet, zaghaft, verängstigt, kaum die Worte findend. Es ging um Magersucht, um schwere Depression, und – wenn ich zwischen den Zeilen richtig gelesen habe – um Suizidgefahr (aus anderen Privatkontakten weiß ich, dass das kein Einzelfall ist). Ich habe ihm ehrlich geantwortet, wie sich meine RB-Vergangenheit auf meine Weiblichkeit und auf meine Selbstwahrnehmung als Mensch ausgewirkt hat. Trotz aller Vorsicht scheine ich ihn verschreckt zu haben; er hat sich nie wieder gemeldet.

Mein Gott, der Brief wird hart, ich werde ihn aber so stehen lassen, und ihn nicht, - wie beabsichtigt, liebe Ingrid – privat an dich abschicken, sondern posten.

Zur Entschärfung: es gibt niemals ’history’, es ist immer ‚his story’, nämlich das und so, wie der Einzelne seine Geschichte wahrnimmt und verarbeitet. Da ist Eure Rolle als Eltern ausschlaggebend, und zwar vom ersten Augenblick an. Deshalb ist dieses Forum auch so wichtig. Was unter den Teppich gekehrt wird, fängt irgendwann an zu stinken. Es ist schwer genug, sich in der Öffentlichkeit bloßzustellen, eben, wenn man selber mit seinen Problemen überfordert ist und den Eindruck hat, mutterseelenallein auf der Welt dazustehen. Deshalb flehe ich euch an: lest auch zwischen den Zeilen, versucht zu erfühlen, was den Menschen bewegt, was er noch gar nicht aussprechen kann. Wir müssen für einander da sein, auf einander zugehen können, wenn Not am Mann ist, einander virtuell in den Arm nehmen können, oder dieses Forum erfüllt seinen Zweck nicht.

Entschuldigt vielmals: hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Liebe Grüße

Ildiko