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Antisemitismus: Wie er alltäglich daherkommt und ......

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Baba Yaga


New PostErstellt: 11.01.04, 20:30  Betreff: Antisemitismus: Wie er alltäglich daherkommt und ......  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen

....und weitergesät wird!

Ich war gestern wieder einmal mit der Eisenbahn unterwegs,
...mein Bericht betrifft den Streckenabschnitt Fürth-Nürnberg.

In Fürth stieg eine Gruppe Senioren ein, die sich über das Großraumabteil des Zuges verteilte.
Ich habe ein Weihnachtsgeschenk gelesen und den Eingestiegenen so lange keinerlei Beachtung geschenkt, bis schräg hinter mir die ziemlich deutliche Unterhaltung zweier Damen mich im Lesen unterbrach und meine Konzentration auf den Buchinhalt störte.

"Schau nur ´mal nauss, jetzt regnets auch noch und den ganzen Dreck und das Salz schleppt man wieder ins Haus. Da muß ich heute noch den Eingang im Treppenhaus putzen!"

"Ja, ja, am schlimmsten ist der Splitt auf den Platten und den alten Holztreppen, alles wird verkratzt.
Ich hab eine Waschmittel-Allergie an den Händen, aber ich muß den Lappen auswaschen, sonst wird alles weiter ins Haus getragen!

"So eine Allergie habe ich auch, schon seit meinem 20. Lebensjahr! Man kann nix dagegen machen und Handschuhe kann man auch nicht zu aller Arbeit anziehen!"

Ich dachte, jetzt sind als Nächstes bestimmt die Fenster an der Reihe, oder die bösen Kinder der Mieter,
...man kennt ja solche Gesprächsketten.

Die Bahngleise laufen auf diesem Streckenabschnitt genau parallel zur Straßenbahnlinie, wo auf der ehemaligen Zugtrasse zwischen Nürnberg und Fürth die ersten Züge verkehrten.
Links und rechts dieser Trassen wurden um die Jahrhunderwende die üblichen, großen Geschäftshäuser errichtet,
...jene mit den hohen Fenstern und Stockwerken und den Fassaden mit Zement-Lisenen, Gesimsen und klassizistischen Rahmenschmuck um Fenster, Türen und Balkone!
Man findet diese "Herrschaftshäuser" auch in den Innenstädten von Nürnberg und Fürth und in fast allen anderen Großstädten dieser Republik.

"Jetzt fahren wir gleich an Deinem Haus vorbei, aber so alt sind doch Eure Holztreppen auch wieder nicht.
Ihr habt doch nach dem Krieg wieder ganz neu aufgebaut"

"Ist aber auch schon eine Weile her! War gar nicht einfach, der Wiederaufbau! Hat uns allen viel Geld gekostet und Sorgen gemacht!"

"Da kommt Euer Haus, ist ein sehr schönes Anwesen, zwischen den alten Burgen daneben!"

"Weißt Du damals, bei den Fliegerangriffen von Nürnberg und Fürth, da haben die die Häuser von den Juden stehen gelassen und nur die Häuser von uns Deutschen bombardiert!"

Ich drehte mich um und schaute nach hinten!

Das gibt´s doch nicht, daß jemand ernsthaft solch ein Lügenmärchen erzählt,
...jemand der zum damaligen Zeitpunkt die Bombenteppiche erlebt haben mußte, die wahllos über Wohngebieten, Industrie- und Verkehrsanlagen im Raum Nürnberg-Fürth abgeworfen wurden,
...jemand, der das total ausgebombte Nürnberg gesehen hat!

Ich erinnerte mich an Fotos, welche vom ausgebombten Nürnberg noch heute zu aufzufinden sind!

Ich mußte mir die beiden Damen nun doch ansehen!

Zwei Frauen im Alter zwischen 70 und 75 Jahren, jede von ihnen hatte eine naturweisse Mohair-Baskenmütze über die Ohren gezogen, die eine war in einen altrosa Wollmantel, die andere in einen beigen Lama-Mantel gehüllt, mit den Händen umklammerten sie ihre Handtaschen und drückten sie vor sich auf den Bauch,
...nichts Ungewöhnliches also,
...ältere Frauen, die nach außen ihren angstammten, bürgerlichen Status zu repräsentieren versuchen.

Sie verstummten zwar beide sofort, als ich sie zornig ansah,
...ob sie sich aber bewußt waren, daß ich sie für den "Schoß" halte, "der noch fruchtbar ist", bezweifle ich!

Baba Yaga


[editiert: 11.01.04, 20:35 von Baba Yaga]
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bjk

Beiträge: 7353
Ort: Berlin


New PostErstellt: 07.01.08, 12:07  Betreff: Re: Antisemitismus: Wie er alltäglich daherkommt und ......  drucken  weiterempfehlen



... weil das Thema sehr gut in diesen Thread paßt, hab ich nachfolgenden Artikel aus der heutigen jW hierherkopiert

bjk
ALG II-Unterschichtler




kopiert aus: http://www.jungewelt.de/2008/01-07/028.php


Sprache des Herzens

Jagdszenen aus Oberbayern (1): Wie vor 57 Jahren in Landsberg Verteidiger der Naziverbrechen auf deren Opfer stießen
Von Markus Mohr



Zu Beginn des Jahres 1951 überschlugen sich in Landsberg bei München die Ereignisse. In der ersten Januarwoche, genauer am 5.Januar, einem Freitag, waren nachmittags in Bonn Gerüchte aufgetaucht, das am 10.1. in Landsberg die Hinrichtungen von Nazikriegsverbrechern und Massenmördern wiederaufgenommen werden sollten. Aus den Nachfolgeprozessen von Nürnberg und Dachau waren neben einer Vielzahl von zu lebenslanger Haft verurteilten Nazis 28 Todeskandidaten übrig geblieben, die im »War Criminal Prison No.1« einsaßen, das die US-Army 1947 im Landsberger Gefängnis eingerichtet hatte.

Darunter auch Oswald Pohl, der als Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes eine Schlüsselfigur in der Maschinerie der Shoah gewesen war, und SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, ab 1939 Chef des Sicherheitsdienstes (SD) Inland im Reichssicherheitshauptamt und als Leiter der Einsatzgruppe D in den Jahren 1941/42 in der Sowjetunion für die Ermordung von 90000 Juden verantwortlich.

Zwischen der bayrischen Kleinstadt und der Bundeshauptstadt glühten die Drähte. »Verschiedene Landsberger Persönlichkeiten« erhielten »Anrufe aus dem Bundeshaus in Bonn«, berichtete die Lokalzeitung. In Landsberg sollte am Sonntag, den 7. Januar auf einem zentralen Platz »eine überparteiliche Protestkundgebung« gegen die Hinrichtungen abgehalten werden – unter Beteiligung von Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen mit Ausnahme der KPD.

Die Stadtverwaltung unter CSU-Oberbürgermeister Ludwig Thoma trommelte für die Protestkundgebung. Der Termin wurde im Bayerischen Rundfunk durchgegeben, in Landsberg selbst propagierte ihn ein Lautsprecherwagen auf den Straßen. Dessen Anlage war umstandslos vom örtlichen Radio- und Elektrohaus Rampp, Eschenlauer & Co »anläßlich der Kundgebung ›Menschenrechte‹«, wie es auf einer an den Oberbürgermeister gerichteten Rechnung heißt, »kostenlos!« zur Verfügung gestellt worden. Am Sonntag fand sich dann pünktlich um 11 Uhr auf dem Rathausmarkt eine rund 4000köpfige Menschenmenge zu einem »Protest gegen die Unmenschlichkeit« (Landsberger Nachrichten) ein; ein fulminanter Mobilisierungserfolg in weniger als 48 Stunden. Es sollte sich um die erste öffentliche Protestveranstaltung gegen die Vollstreckung der Urteile an Kriegsverbrechern auf deutschen Boden handeln.

Detailliert wurden in den Landsberger Nachrichten in drei ungezeichneten Artikeln über die Kundgebungsredner berichtet, die auf der vor dem Rathaus errichteten Bühne das Wort ergriffen. In seiner Eröffnungsansprache bemerkte Oberbürgermeister Thoma, daß die Stadt – die in ihrem Gefängnis mit Adolf Hitler in den Jahren 1923/24 einen außerordentlich prominent gewordenen Gefangenen beherbergt hatte – »durch den Vollzug der Todesurteile einen traurigen Ruhm« erhalte. Der örtliche CSU-Bundestagsabgeordnete und spätere Bundesjustizminister Richard Jäger machte der Zeitung zufolge in »markanten, zielklaren« Ausführungen deutlich, daß »jedes Menschenleben heilig« sei, und von daher »die heutige Art genauso verurteilt werden [müsse], wie jene, die den Juden oder dem Heimatvertriebenen das Leben nahm.« Nun, so Jäger, müsse »die Sprache des Herzens gesprochen werden, eine Sprache, die in der ganzen Welt die gleiche sei.« Nachfolgend thematisierte der Bundestagsabgeordnete und spätere Botschafter der Bundesrepublik in Brasilien, Gebhard Seelos, »in scharfen Angriffen die Nürnberger Prozesse«. Das Mitglied der ansonsten die Todesstrafe befürwortenden Bayernpartei erklärte, daß die USA den Anspruch verloren hätten, »sich einen Rechtsstaat zu nennen«. Demgegenüber repräsentiere diese Kundgebung »das ganze deutsche Volk«, das jedes Unrecht ablehne, gleich, so Seelos, »ob es vor oder nach 1945 begangen wurde (…). Darum rufe er den Amerikanern zu: ›Hört auf mit dem grausamen Spiel, zerschlagt nicht die heiligen Güter des Christentums, der Menschlichkeit und des Rechts.‹« Die Landsberger Nachrichten verzeichneten zu dieser Aussage »stürmischen Beifall«

Der Landtagsabgeordnete Klotz von der Bayernpartei »zog Vergleiche zwischen den Verurteilten, die meist nichts anderes getan haben als jene Leute auf seiten der Alliierten, die noch heute in den höchsten Stellen säßen (Beifall)«. Als letzter Redner erinnerte der Ortsvorsitzende des Bundes Heimattreuer und Entrechteter (BHE) von Straussingen »an den Tod von Millionen von Flüchtlingen bei der Austreibung und auf den Fluchtwegen«, die er als »das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit« bezeichnete. Zum Ende der Kundgebung verlas Oberbürgermeister Thoma eine von den Lokalparteien Ende November 1950 auch an die Adresse von US-Präsident Harry S. Truman persönlich verfaßte Resolution, in der die Freilassung der inhaftierten Kriegsverbrecher und NS-Massenmörder mehrfach zur »Herzenssache« der Unterzeichenden erklärt worden war. Er bat, diese als Beschluß der Kundgebung anzunehmen, worauf sich – so die Landsberger Nachrichten, »sofort ein großer Sturm der Zustimmung« erhob.

Ob mit dieser »Sprache des Herzens« auch die von einigen Rednern immer mal wieder mit erwähnten »Juden« rechnen durften? Daß sie überhaupt angesprochen wurden, hatte damit zu tun, daß die Unterstützer für die in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Delinquenten während ihrer Manifestation nicht ganz unter sich geblieben waren: Zehn Minuten vor Beginn der Kundgebung waren auch 300 sogenannte Displaced Persons (DP) aus den umliegenden Lagern auf dem Kundgebungsplatz eingetroffen. Die FAZ sollte sie später als »mit sieben Omnibussen aus dem DP-Lager Lechfeld herbeigeschaffte Ausländer« identifizieren. Entgegen dieser Herabwürdigung lebten Tausende DP als Überlebende der Shoah schon seit über einem halben Jahrzehnt in Lagern um die Stadt herum und hatten auch den Marktplatz schon für eigene Kundgebungen genutzt. Nun sah sich die für das weitere Schicksal der Nazimörder Pohl, Ohlendorf und anderen mobilisierte Bevölkerung für mindestens lange zwei Stunden mit der physischen Präsenz mehrerer hundert Überlebender der Shoah konfrontiert. Zu Beginn der Kundgebung bekamen sie von Oberbürgermeister Thoma zu hören, er erwarte, daß die Kundgebung »einen ruhigen und würdigen Verlauf nehme und sich auch die DPs sachlich verhalten«.

Doch dieser »Erwartung« wollten nicht alle DPs entsprechen – sie bekamen ja von den Rednern auch einiges geboten. Besonders bei den Ausführungen des Bundestagsabgeordneten Jäger notierten die Landsberger Nachrichten »große Unruhen seitens der DPs«, so daß »durch die Krawalle (…) ein großer Teil der Ausführungen des Redners verloren« gegangen seien. Trotzdem, heißt es lapidar, sei es der Polizei gelungen«, den eindrucksvollen und würdigen Verlauf der Kundgebung zu sichern.« So konnte Oberbürgermeister Thoma am Ende der Kundgebung betonen, »daß die Störungsversuche nicht von deutscher Seite erfolgt seien«. Die Landsberger Nachrichten ergänzten, daß »Störungsversuche auswärtiger DPs im Keime erstickt« worden wären und »die zu Beginn der Protestkundgebung in Schutzhaft genommenen Unruhestifter (…) nach Feststellung ihrer Personalien wieder entlassen« worden seien.

Im direkten Anschluß an die von der Lokalzeitung auch als »Gemeinschaftsveranstaltung« bezeichnete Kundgebung führten die Displaced Persons am selben Ort eine »Gedächtnisfeier« für die 90000 auf Anweisung von Ohlendorf ermordeten russischen Juden durch. Doch das erschien dem anonymen Lokalreporter eine »wenig glaubhafte Angabe« zu sein. Aus seiner Sicht hatten die DPs »wohl nur das eine Ziel im Auge (…) die Protestkundgebung zu stören oder zu sprengen oder Kundgebungsteilnehmer zu Ausschreitungen zu veranlassen«, um – ungebrochen antisemitisch formuliert – »wieder Geschäfte« zu machen. Als der Redner der DPs Heinrich Sklarz vom Opferverband »Deutsche Rehabilitierung e.V« aus München den Massenmörder Ohlendorf attackierte, machte Oberbürgermeister Thoma »durch das Mikrofon« die Ansage, »daß diese Veranstaltung nichts mit der Protestkundgebung zu tun habe und die deutsche Bevölkerung daher wisse, was sie zu tun habe«. Anschließend habe »die Abwanderung von Tausenden« eingesetzt, hieß es in der Lokalzeitung. Außerdem findet sich in dem Artikel die in Klammern gesetzte Information des Ohlendorf-Verteidigers Rudolf Aschenauer, daß nicht sein Mandant, »sondern Hitler den Befehl zur Tötung der 90000 Juden in Rußland gegeben habe, der dafür zusammen mit Himmler auch die Verantwortung trage.« Der, der diese pointierten Darstellungen ohne Angabe seines Autorennamens schrieb, und dafür nur wenig später den Dank des CSU-Oberbürgermeisters erhalten sollte, war Paul Winkelmayer, der Vorsitzende der CSU-Stadtratsfraktion in Landsberg.



Markus Mohr nimmt an der Podiums­diskussion »Partei für alle?« auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 12.1. in der Berliner Urania teil



Es ist allerhöchste Zeit, Art. 1, Abs. 1 und Art. 20, Abs. 4, GG, Geltung und Wirkung zu verschaffen!
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bjk

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Ort: Berlin


New PostErstellt: 09.01.08, 08:03  Betreff: Re: Antisemitismus: Wie er alltäglich daherkommt und ......  drucken  weiterempfehlen

kopiert aus: http://www.jungewelt.de/2008/01-08/014.php



»Eine schwüle Stimmung«

Jagdszenen aus Oberbayern (2 und Schluß). Wie vor 57 Jahren in Landsberg Verteidiger der Naziverbrechen auf deren Opfer stießen

Von Markus Mohr



Am 7.1.1951 war es in Landsberg bei München zur ersten öffentlichen Verteidigung von Nazikriegsverbrechern gekommen. Mit Unterstützung aller Bundestagsparteien außer der KPD wurde auf einer vom Landsberger Oberbürgermeister Ludwig Thoma (CSU) geleiteten Veranstaltung auf dem Rathausmarkt vor 4000 Zuhörern dagegen protestiert, daß die in Landsberg einsitzenden, in Nürnberg und den Nachfolgeprozessen verurteilten Nazifunktionäre und Militärs hingerichtet werden sollten. Danach fand am selben Ort eine Shoa-Gedenkveranstaltung von zirka 300 sogenannten Displaced Persons, Überlebenden der KZ, die in Sammelunterkünften nahe Landsberg lebten, statt. (jW)



In der FAZ war anschließend zu lesen, daß die »Störversuche« der DPs, nicht nur »von der Polizei«, sondern auch von »der deutschen Bevölkerung unterbunden« worden seien. Die Süddeutsche Zeitung berichtete über die Gedenkfeier für die 90000 Juden, für deren Ermordung der in Landsberg einsitzende SS-Führer Otto Ohlendorf verantwortlich war, daß dem Redner Heinrich Sklarz zeitweise »durch Pfeifen und Zwischenrufe das Sprechen unmöglich gemacht« worden sei. Sollte der CSU-Stadtrat Winkelmayer in seinem anonym gehaltenen Bericht für die Lokalzeitung etwas übersehen oder gar überhört haben?

Es muß schon zu Beginn der Kundgebung zu Unmutsäußerungen bei den Displaced Persons gekommen sein. Nach einem Bericht der Neuen Augsburger Zeitung machte der Landsberger Oberbürgermeister die Bemerkung, »daß diese Kundgebung notwenig sei, weil die Macht des Schweigens und die Kraft des Wartens nicht mehr ausreiche, um den Gesetzen der Menschlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen«. In der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland las sich das anders. Demzufolge soll der Oberbürgermeister seine Rede mit der Bemerkung begonnen haben, daß »die Zeit des Schweigens« vorbei sei, nun müsse endlich gehandelt werden; die protestierenden Juden sollten dorthin zurückgehen, woher sie gekommen seien. Konsequent warf die Allgemeine Wochenzeitung die Frage auf, ob der Bürgermeister nicht den Anlaß dafür geliefert hatte, »daß aus den Kehlen von Hunderten von Schreiern die Worte ›Juden raus‹« erschollen seien? Ähnlich auch die Darstellung in dem Bericht der New York Times: Die deutsche Kampagne gegen die Vollstreckung der Todesstrafe an Kriegsverbrechern habe anläßlich der Landsberger Demonstration eine »antisemitische Wende« (anti-semitic-turn) genommen: »Nieder mit den Mördern« riefen die einen, »Juden raus« (a favorite Nazi-Slogan) lautete die Antwort der Landsberger. Am deutlichsten beschrieb die US-amerikanische Soldatenzeitung The Stars and Stripes in die in den Landsberger Nachrichten vergessenen Vorgänge auf dem Hauptplatz »Jüdische Displaced Persons stießen in Faustkämpfen mit einer Menge von 3000 deutschen Demonstranten zusammen, deren Ziel die Freilassung deutscher Kriegsverbrecher aus dem Landsberger Gefängnis ist. Die Polizei griff auf der Seite der Deutschen ein und nahm eine Reihe jüdischer Führer ›zur ihrer eigenen Sicherheit‹ fest. Eine ungenannte Zahl von Juden wurde in einem wilden zehnminütigen Handgemenge verletzt, während die Deutschen skandierten: ›Juden raus!‹. Die Polizei sprach später davon, daß versucht worden war, einige Inhaftierte zu befreien.«

Drei Tage nach den zwei Veranstaltungen bemerkte Oberbürgermeister Thoma auf einer Stadtratssitzung »daß alle Berichte in Zeitungen, die ihm bekannt wurden« – mit Ausnahme natürlich der Artikel des Parteikameraden Winkelmayer in den Landsberger Nachrichten – »den Kern der Protestkundgebung nicht getroffen haben.« Er hob hervor, daß sich doch alle Verantwortlichen in der Stadt darum bemüht hätten, »aus dieser Protestkundgebung nicht (…) das zu machen, was sie durch das plötzliche Auftreten der DPs hätte leicht werden können«. Danach entfaltete er eine rege Brieftätigkeit mit diversen Funktionsträgern, wobei er die ungezeichneten Berichte aus den Landsberger Nachrichten zirkulieren ließ. Einer seiner Adressaten war Philipp Auerbach aus München, Präsident des Landesentschädigungsamtes und Mitglied des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland. Dieser hatte in einer Rundfunkansprache seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, daß sich »in dem kleinen Landsberg 3000 Personen zu einer Demonstration zugunsten der wenigen Häftlinge bereit gefunden hatten, während für die Tausende, die in der Umgebung Landsbergs von den Nationalsozialisten umgebracht worden waren, niemand demonstriert habe«.

In einem persönlichen Brief an Auerbach nahm Thoma in Anspruch, daß es »sich bei dieser Kundgebung nicht um eine Verteidigung von Kriegsverbrechen und Kriegsverbrechern handelt, sondern um einen Protest für Recht und Gerechtigkeit, für die Menschenrechte im allgemeinen«. Thoma unmißverständlich: »Rufe ›Juden hinaus‹ habe ich nicht gehört.«

In einem postwendend formulierten Antwortschreiben stellte Auerbach seinerseits unmißverständlich fest: »Ich habe von verschiedensten Seiten Berichte erhalten, die übereinstimmend sind. Die Rufe ›Juden heraus‹ sind erfolgt.« Kurz darauf leitete Auerbach noch einen an ihn gerichteten Brief von Herrn Krajden Schulim, wohnhaft »DP Camp, Lagerlechfeld Block 62, by Augsburg« an den Oberbürgermeister weiter, in dem dieser schildert, wie er mit einer Gruppe DPs aus Lechfeld nach Landsberg reiste, um an der Gedächtnisfeier teilzunehmen. In Landsberg hörte er nicht nur deutlich »Juden raus«-Rufe. Er bemerkte auch, wie eine Jüdin angegriffen wurde und versuchte, ihr zu helfen. Dabei wurde er von einer Gruppe Deutscher, »die furchtbare antisemitische Ausdrücke« gebrauchten, erst zusammengeschlagen und dann zur Polizei gebracht.

Daraufhin bedauerte der Landsberger Oberbürgermeister in einem Antwortschreiben an Auerbach eine solche »Entgleisung aus Anlaß der Protestkundgebung«, die er auf eine »sehr schwüle Stimmung, die damals über »dem schönen Marktplatz in Landsberg« gelegen haben soll, zurückführte. Verblüffenderweise an einem kalten Januartag des Jahres 1951. In der im Stadtarchiv aufbewahrten Akte zur Demonstration findet sich keinerlei Schreiben des emsigen Oberbürgermeisters an Herrn Schulim; weder der persönliche Ausdruck des Bedauerns noch gar ein Aufklärungsinteresse erschienen ihm angemessen. Im Gegenteil: Aus einem Vermerk eines Oberwachtmeisters der Stadtpolizei Landsberg ergibt sich, daß »auf Grund tel. Rücksprache des Herrn Oberbürgermeisters« unmittelbar nach der Kundgebung gegen DPs ermittelt wurde. Es sollte polizeilich herausgefunden werden, »ob von jüdischen DPs vor der Kundgebung am Sonntag den 7.1.1951 im Ladengeschäft Zettl Schnaps gekauft und anschließend vor dem Geschäft und am Seelberg getrunken wurde«. Doch von den »Vorgeladenen« und Befragten – immerhin zwei namentlich erwähnte Einwohner sowie die Namen von vier Familien – konnte hierüber niemand genauere Angaben machen.

Während des Verlaufes der Landsberger Kundgebung wurden von fast allen Rednern die abstrusesten Parallelisierungen und Gleichsetzungen zwischen dem Nazi-Massenmord, der Vertreibung aus den Ostgebieten, der Praxis der US-amerikanischen Besatzungsbehörden und dem Schicksal einiger weniger verurteilter Massenmörder gezogen. Gegenüber den DPs reagierten Redner wie Zuhörer mit einer Mischung aus Sentimentalität und Brutalität. »Sachlichkeit« erwartete man allein von denjenigen, deren Verwandte von den in Landsberg einsitzenden Funktionsträgern der Nazis ermordet worden waren. Weil diese aber dagegen zu intervenieren versuchten, bekamen sie Klartext zu hören: »Juden raus!«

Und all dies »im Namen Deutschlands neuer Begeisterung für demokratische Gerechtigkeit«, wie der Manchester Guardian Ende Mai 1951 die Kampagne für die Freilassung verurteilter Massenmörder und Kriegsverbrecher kommentierte. Die britische Zeitung verwies auf »die Beziehung zwischen solch einer pervertierten Linie des Argumentierens und dem Geist hinter den Verbrechen«. Allein die physische Präsenz der 300 Displaced Persons auf der Kundgebung machte dieser Beziehung für einen kurzen historischen Moment einen Strich durch die Rechnung.

Doch die Landsberg-Kampagne zur Verteidigung von Nazi- und Kriegsverbrechern war insgesamt erfolgreich. Am 31. Januar gab der US-Hochkommissar John Jay McCloy die lang erwarteten Entscheidungen in der seitens der USA noch offenen Massenmörder- und Kriegsverbrecherfrage bekannt. 74 Haft- und 28 Todesstrafen standen zur Überprüfung an. 69 Haftstrafen wurden abgesenkt, 32 Häftlinge kamen sofort frei, lediglich sieben Delinquenten verblieben als Todeskandidaten. Dies bedeutete ein geradezu atemberaubendes Einknicken vor den Protesten der postfaschistischen westdeutschen Öffentlichkeit. Die SS-Führer Oswald Pohl und Otto Ohlendorf konnten davon jedoch nicht mehr profitieren. Sie wurden am 7. Juni 1951 zusammen mit fünf anderen Gesinnungskameraden im »War Criminal Prison No 1« gehenkt – als letzte Nazimassenmörder auf dem Boden der Bundesrepublik.

Ich danke dem Stadtarchiv Landsberg für die Unterstützung bei der Recherche (Akte 124/2, Strafanstalt Spötting / Kriegsverurteilte / Schriftwechsel)


Markus Mohr nimmt an der Po­diumsdiskussion »Partei für alle?« auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt am 12. Januar in der Berliner Urania teil



Es ist allerhöchste Zeit, Art. 1, Abs. 1 und Art. 20, Abs. 4, GG, Geltung und Wirkung zu verschaffen!
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