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Am Freitag schlief der Rabbi lang

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bjk

Beiträge: 7353
Ort: Berlin


New PostErstellt: 24.06.05, 22:37  Betreff:  Absurde Vorwürfe des tschechischen "Verband der Freiheitskämpfer"  drucken  weiterempfehlen



Tja, liebe Baba,

die, wo selber nix erlebt und miterlitten haben, wollen das oft durch Fanatismus wett machen

Gruß
bjk


In diesen Zusammenhang paßt auch:



Kurt Julius Goldstein - Quelle: dpa
Am Ende seiner Rede bei der Festveranstaltung wischt sich Goldstein eine Träne aus dem Auge, nachdem ein Foto des Todesganges von Auschwitz eingeblendet wurde.




kopiert aus: http://www.jungewelt.de/2005/05-21/014.php


Was aus der schrecklichen Zeit zu lernen ist

Dokumentiert. Kurt Goldstein – mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, vom VS beobachtet



* Am Freitag überreichte Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse an Kurt Julius Goldstein, Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitzkomitees. Goldstein, der für sein Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus geehrt wurde, wies in seiner Dankesrede auf den Widerspruch zwischen offizieller Ehrung und gleichzeitiger Beobachtung seiner Organisation, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), durch den Verfassungsschutz hin. Wir dokumentieren die Rede in Auszügen.


Ich freue mich über diese Auszeichnung und muß sagen, daß mich die Worte von Herrn Wowereit eben über den 7. und 8. Mai in Berlin, über unseren ersten Sieg über das neonazistische Gesindel, das hier marschieren wollte, sehr erfreut haben. Daß ich heute diese Auszeichnung bekomme, erinnert mich an Worte, die gestern mein Freund und Präsident Noah Flug aus Israel in der Präsidiumssitzung des Internationalen Auschwitzkomitees gesagt hat. Er sagte, er habe den Eindruck, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland etwas verändert.

Ich bin einer von 5 000 Deutschen, die bewaffnet gegen den Faschismus in Spanien gekämpft haben. Vor zehn Jahren hat die Zeit eine Beilage herausgegeben, in der drei Interbrigadisten und drei Leute der Legion Condor gezeigt wurden. Die drei Männer der Condor-Legion waren mit Orden und Ehrenzeichen behängt und erhielten große Renten. Den Interbrigadisten hat man in der Bundesrepublik Deutschland die Zeit, die sie in Spanien bewaffnet gegen den Faschismus gekämpft haben, bei der Rentenberechnung nicht anerkannt.

So freut es mich, daß ich heute der erste aus der Reihe der Interbrigadisten bin, der in Deutschland eine solche Auszeichnung bekommt. Ich bin der dritte aus der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, der diese Auszeichnung erhält. Und ich gehöre zu denen, die in dem Bericht gemeint sind, den der Innenminister vor einigen Tagen abgegeben hat. Darin wird meine Organisation, die VVN-BdA, deren Ehrenvorsitzender ich bin, nämlich immer noch als eine zu beobachtende linksextreme Organisation erwähnt. Ich stehe also offensichtlich noch unter Beobachtung. Und ich hoffe, daß die Herren des Verfassungsschutzes in den Worten, die ich ihnen jetzt sage, nicht wieder etwas finden, das sie als Begründung heranziehen können für die Notwendigkeit, uns zu beobachten.

In diesem Jahr ist ein Interview, das der Rabbiner Andreas Nachama unserer Zeitschrift antifa gegeben hat, als Begründung dafür herangezogen worden, daß die VVN noch weiter vom Verfassungsschutz beobachtet werden muß. Wenn es aber solche Veränderungen in unserem Land gibt, wie sie mein Freund Noah zu beobachten glaubt, müßte zu diesen Veränderungen gehören, daß eine antifaschistische Organisation wie die VVN-BdA nicht mehr im Verfassungsschutzbericht erscheinen darf.

Ich meine, daß wir sagen können, die Mehrheit der Bürger unseres Landes hat begriffen, daß der 8. Mai ein Tag der Befreiung und nicht ein Tag der Niederlage war. Ein Tag der Befreiung unseres Volkes vom Hitlerfaschismus, von der Barbarei, von der schlimmsten Barbarei, die diese Weltgeschichte bisher gekannt hat. Wir in Auschwitz haben diese Verbrechen am eigenen Leibe miterleben müssen. Und heute wissen wir, daß wir endlich eine Mehrheit der Bürger unseres Landes dafür gewonnen haben, diesen Tag, den 8. Mai, als einen Tag der Befreiung auch unseres Volkes von dieser schrecklichen Barbarei zu erleben. (...) Das letzte, was ich hier zu sagen habe: Ich werde weitermachen bis zum letzten Atemzug auf dem Weg, den ich gegangen bin. Ich werde weitermachen, jungen Leuten zu sagen, was aus der schrecklichen Zeit des Hitlerfaschismus zu lernen ist. (...)


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[editiert: 24.06.05, 22:38 von bjk]
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Baba Yaga


New PostErstellt: 21.06.05, 23:17  Betreff: Re: Am Freitag schlief der Rabbi lang  drucken  weiterempfehlen

Ich habe auch den Artikel in der "jw" gelesen und konnte nicht glauben, daß die "tschechischen Freiheitskämpfer" eine solche Hetze gegen StransKy losgetreten haben sollen.

Ich kenne Stransky und weiß, daß er ein sehr versöhnlicher, weiser und vor allem menschenfreundlicher Herr ist, der trotz seiner ihm zugefügten Leiden und Verletzungen eines überhaupt nicht kennt, nämlich Hass!

Nicht nur er selbst überlebte die Konzentrationslager, auch seine damalige, große Liebe und spätere Ehefrau teilte das gleiche Schicksal.
Stransky ist ein Prophet und Gläubiger der Liebe!
Er erzählte mir, daß er nie überlebt hätte, ohne die feste Gewißheit, seine große Jugendliebe irgendwo und irgendwie nochmals wiederzufinden.
Das war dann auch so, als er und auch sie vom Nazijoch der Konzentrationslager befreit worden waren.
Seine gesamten biographischen Erinnerungen kreisen auch heute noch um die Allmacht und das Glück der Liebe zu seiner Frau.
Leider ist sie vor einigen Jahren gestorben, aber sie lebt in seinen Erinnerungen weiter und diese unzertrennbare Gemeinschaft prägt auch heute noch sein Denken und Sein.

Ich kann es nicht glauben, daß Stranky geächtet und als Verräter in der tschechischen Öffentlichkeit behandelt wird, zumal die meisten heutigen "tschechischen Freiheitskämpfer" gar nicht selbst den 2.WK und die Nazi-Greuel erlebt haben, also ein Geschichtsbild pflegen, das für eine bestimmte Richtung politischer Meinungsmache anfällig ist..

Es muß wohl so sein, wie bei uns mit den Soldatenverein, Soldatenkameradschaften oder den Sudetendeutschen Landsmannschaften.
Die nachgewachsenen Generationen pflegen und feiern hier auch Heldentaten und Opfergeschichten, ohne selbst einen eigenen, direkten Bezug zur Vergangenheit und Geschichte zu haben.

Stransky ist wirklich eine moralische Instanz. Seine Leistungen für Versöhnung, Verständnis und Menschlichkeit sind so überzeugend, daß
nationalistische Großmäuler sich selbst nur bloßstellen, wenn sie mit ihren üblen Nachreden die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erreichen möchten.

Gute Nacht
Baba Yaga

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bjk

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New PostErstellt: 21.06.05, 13:03  Betreff:  Absurde Vorwürfe des tschechischen "Verband der Freiheitskämpfer"  drucken  weiterempfehlen





Kommentar


Bestraft für seine versöhnliche Haltung

Es gibt noch das Absurde in Mitteleuropa: Da wird ein 84-jähriger Tscheche jüdischer Herkunft, der vier Jahre in Konzentrationslagern saß, plötzlich als Sudetendeutscher bezeichnet. Und der tschechische "Verband der Freiheitskämpfer" schließt ihn aus. In den Kreisen, in denen "deutschfreundlich" noch heute als übelstes Schimpfwort gilt, ist Oldrich Stransky böse angeeckt. Nicht nur, dass er sich an Diskussionen zum Thema deutsch-tschechische Versöhnung beteiligt hat. Er hat auch, so werfen ihm die Freiheitskämpfer vor, "freundliche Kontakte mit dem Prager Büro der Sudetendeutschen Landsmannschaft unterhalten"; weil er SL-Chef Bernd Posselt (CSU) vor zwei Jahren schriftlich zur Eröffnung des Büros gratulierte, wollte ihm bereits die "Vereinigung der politischen Häftlinge" im Oktober 2003 den Vorsitz entziehen. Doch den Posten hatte sich Stransky gerichtlich zurückerobert.

"Wir können nicht mit Leuten zusammenarbeiten, für die die Leiden des Kriegs erst 1945 begannen und die nicht wissen, was davor war," erklärt die Sprecherin der Freiheitskämpfer, Sarka Helmichova. Oldrich Stransky kann sie da nicht meinen, denn der weiß wohl genau, was vor 1945 war. Geboren 1921 im nordböhmischen Most, deutsch Brüx, aufgewachsen im deutsch-tschechischen Antagonismus der Zwischenkriegszeit, wurde er bald Opfer der Nazi-Okkupation. 1940 wurde der 19-Jährige von der Schule ausgeschlossen. 1943 kam er, wie 150.000 weitere böhmische Juden, ins Ghetto Theresienstadt. Dort gab es nur einen Weg hinaus - per Viehtransport nach Osten. Stransky kam nach Auschwitz. Weil das Deutsche Reich Arbeitskräfte brauchte, wurde er zur Zwangsarbeit in eine Chemiefabrik bei Schwarzheide in Sachsen verlegt. Kriegsende und Befreiung erlebte er im KZ Sachsenhausen. Bei seiner Rückkehr nach Böhmen fand er sich als einziger Überlebender seiner Familie wieder. Seine Eltern verloren ihr Leben in Treblinka.

Stransky, der verheiratet ist und 21 Jahre lang als Konstrukteur bei den Eisenbahnwerken CKD arbeitete, engagierte sich nicht nur bei den Freiheitskämpfern, sondern auch für die Entschädigung tschechischer Zwangsarbeiter. Er nahm für die tschechische Seite an den jahrelangen Verhandlungen teil und sitzt auch im Verwaltungsrat des Tschechischen Rates für Nazi-Opfer.

Vor diesem Hintergrund mutet es verstiegen an, dass die Freiheitskämpfer Stransky nun einen Vorwurf daraus machen, dass er in einem damals hauptsächlich von Deutschen bewohnten Gebiet geboren wurde. "Er selbst ist eigentlich Sudetendeutscher. Auch wenn er wegen seiner jüdischen Herkunft im KZ saß", sagt Helmichova.

ULRIKE BRAUN


taz muss sein: Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert?





[editiert: 21.06.05, 13:07 von bjk]



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bjk

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New PostErstellt: 19.04.04, 18:33  Betreff:  Pavel Stránský - Als Boten der Opfer  drucken  weiterempfehlen

.



Eine Überlebensgeschichte

die mit dem Satz beginnt: "Das Wichtigste im Leben ist die Liebe."






Als doc-Datei habe ich im Anhang die schon lang versprochenen ersten 30 von insgesamt 82 Seiten der in 2002 aufgelegten und jetzt leider vergriffenen Broschüre "Als Boten der Opfer" beigefügt. Die vielen Fotos, welche die ergreifende Schilderung begleiten, werde ich gesondert in einem Fotobeitrag einstellen.

Pavel Stránský, der tschechische Jude, erzählt sein furchtbares Schicksal stellvertretend für alle Juden, die während der schrecklichen Naziherrschaft durch eine unbeschreibliche Hölle gegangen sind. Was er erzählt ist erschütternd und kaum zu ertragen - - - aber Pavel Stránský ist dabei ohne jeden verzehrenden Haß und selbstzerstörerischen Groll. Mich hat diese menschliche Größe angesichts soviel schier unfaßbaren Grauens tief beeindruckt und zu Demut gemahnt. Dieser tschechische Jude ist ein Mensch geblieben, ohne Bitternis sondern voll fast heiterer Hoffnung - und gehört deshalb, wie ich finde, durchaus zu den ganz Großen in der Reihe herausragender Persönlichkeiten des humanistisch aufgeklärten Judentums.

Aber lest selber!

bjk


[editiert: 20.04.04, 13:26 von bjk]



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bjk

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New PostErstellt: 19.04.04, 12:05  Betreff:  Am Freitag schlief der Rabbi lang  drucken  weiterempfehlen

Hier das erste Kapitel noch einmal im hoffentlich leichter lesbaren doc-Format:

[editiert: 19.04.04, 12:07 von bjk]



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bjk

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New PostErstellt: 19.04.04, 12:00  Betreff:  Am Freitag schlief der Rabbi lang  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen



Liebe community,
liebe Leserschaft,

weil sich einige Ultra-Rechts-ZionistenbejublerInnen hier und auch im PDS-Forum immer wieder in wütend-bösartige Attacken gegen KritikerInnen des zionistischen Staatsterrors ergehen, insbesondere gegen Baba und mich, eröffne ich hier mal einen Thread, der in den weiteren Beiträgen zeigen soll, daß die zerstörerische menschenverachtende Zionistenclique, die zur Zeit den Staat Israel und Nahost in ein Blutbad stürzt, in weltweite Isolation und in einen furchtbaren Abgrund treibt, keinesfalls mit DEN Juden oder DEM Judentum gleichzusetzen ist!

Die Geschichte wird hoffentlich bald zeigen, in welch verhängnisvolle Sackgasse mit hohem Blutzoll dieser verblendete fanatisch-faschistoide Zionismusirrsinn DIE Juden nicht nur in Israel geführt hat.

Der militaristische Zionistenwahnsinn hat es geschafft, daß man Israel sowieso aber auch DIE Juden fast nur noch mit Gewalt, Blut und Terror in Verbindung bringt. Dabei hat das eigentliche Judentum in Vergangenheit und Gegenwart großartige Persönlichkeiten z. B. in Wissenschaft, Kunst, Kultur und Forschung aufzuweisen! Hier gilt es, immer wieder engagiert an dieses vielschichtige Potential zu erinnern. Baba und ich haben schon mehrfach Zeugnisse solch bewundernswerter jüdischer Persönlichkeiten, die das humanistisch aufgeklärte Judentum repräsentieren, in dieses und in andere Foren eingestellt.

Mit diesem Thread möchte ich endlich das künftige Engagement gegen ein wegen des Zionismusirrsinns einseitig negativ verfälschtes Juden-Image bündeln. Weil mir kürzlich der spannende Thriller von Harry Kemelman "Am Freitag schlief der Rabbi lang" geschenkt wurde und meine Leseeindrücke noch frisch sind, nehme ich diesen anspruchsvollen Krimi gleich zum Anlaß, Euch beginnend mittels leichter Muse über DAS Judentum und seinem geschichtlichen Reichtum an zeitlosem Wissen von den Alltagssorgen und ihren Lösungen, gebündelt im Talmud, nahezubringen.

Bereits das erste Kapitel deutet schon an, welch komplexes lebensnahes Wissen der Autor sich vom Talmud angeeignet und wie feinsinnig er dieses Wissen unaufdringlich in seine Thriller eingebaut hat. Deshalb und zum Appetit machen möchte ich Euch wenigstens das besagte erste Kapitel von "Am Freitag schlief der Rabbi lang" nicht vorenthalten. Hier die Leseprobe, viel Spaß!


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Am Freitag schlief der Rabbi lang

von Harry Kemelman

Für meinen Vater und meine Mutter


I. KAPITEL

Sie saßen im Betsaal und warteten. Neun Männer, die auf den zehnten warteten, um den Morgengottesdienst beginnen zu können. Jacob Wasserman, der bejahrte Gemeindevorsteher, hatte die Gebetsriemen bereits befestigt. Der junge Rabbi David Small war gerade einge-troffen, zog den linken Arm aus der Jacke und rollte den Hemdsärmel bis zur Achsel hoch. Er legte die kleine schwarze Kapsel mit den Thora-Stellen auf den linken Oberarm gegenüber dem Herzen, wickelte den einen Gebetsriemen siebenmal um den Unterarm, dreimal um den Handteller - das bedeutet den ersten Buchstaben vom Namen des Herrn - und schließlich um den Mittelfinger, als Symbol für den Bund mit Gott. Nun befestigte er den zweiten Gebetsriemen mit der Kapsel an der Stirn; zusammen mit dem ersten gilt das als buchstäbliche Er-füllung des biblischen Gebotes: Und sollst die Worte Gottes binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinen Augen sein.
Die anderen, die mit Fransen besetzte seidene Gebettücher und schwarze Käppchen trugen, saßen in Gruppen herum und unterhielten sich. Von Zeit zu Zeit verglichen sie ihre Armbanduhren mit der run-den Wanduhr.
Der Rabbi war jetzt für das Morgengebet bereit und schlenderte den Mittelgang auf und ab, nicht ungeduldig, eher wie ein Reisender, der zu früh auf den Bahnhof gekommen ist. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr: Geschäftliches, Familie und Kinder, Urlaubspläne, die Chancen einer Baseballmannschaft wurden erörtert. Nicht gerade pas-sende Themen, wenn man beten will, dachte er, und wies sich sofort zurecht. War nicht übertriebene Frömmigkeit gleichfalls Sünde? Sollte der Mensch nicht die guten Dinge dieses Lebens genießen - die Freu-den, die Familie, Arbeit und Ruhe nach der Arbeit schenken? Er war noch sehr jung, knapp dreißig, und selbstkritisch, so daß er ständig Fragen aufwarf und diese wiederum in Frage stellte.
Wasserman war hinausgegangen und kam jetzt zurück. «Ich habe eben bei Abe Reich angerufen. Er ist in etwa zehn Minuten hier, hat er gesagt.»
Ben Schwarz, ein kleiner, rundlicher Mann in mittleren Jahren, sprang auf. «Mir reicht‘s», murrte er. «Wenn ich diesem Reich noch dankbar sein muß, daß wir mit ihm den minjen zusammenkriegen, bete ich lieber zu Hause.»
Wasserman eilte ihm nach und holte ihn am Ende des Ganges ein. «Du willst uns doch jetzt nicht etwa sitzenlassen, Ben? Dann sind wir ja wieder nur neun, auch mit Reich.»
«Tut mir leid, Jacob», sagte Schwarz steif, «ich habe eine wichtige Verabredung und muß weg.»
Wasserman hob die Hände. «Du bist doch extra hergekommen, um den kadisch für deinen Vater zu sagen. Wieso hast du es da plötz-lich so eilig mit deiner Verabredung, daß du nicht mal die paar Minu-ten warten kannst, um für deinen toten Vater zu beten?» Wasserman war Mitte Sechzig und somit älter als die meisten Gemeindemitglieder. Er hatte einen leisen Akzent, der sich vor allem in seinen Bemühungen um eine besonders korrekte Aussprache äußerte. Er merkte, daß Schwarz schwankend wurde. «Übrigens hab ich selber heute kadisch, Ben.»
«Schon gut, Jacob, hör mit der Seelenmassage auf. Ich bleibe.» Er grinste sogar.
Wasserman hatte noch etwas auf dem Herzen. «Warum bist du denn so wütend auf Abe Reich? Ihr seid doch immer gute Freunde gewesen.»
Schwarz gab bereitwillig Auskunft. «Ich werd dir sagen, wieso. Letzte Woche ... »
Wasserman wehrte ab. «Du meinst die Geschichte mit dem Auto? Von der hab ich schon gehört. Wenn du glaubst, er schuldet dir Geld, verklag ihn eben, dann hast du‘s hinter dir.»
«Einen solchen Fall bringt man nicht vor Gericht.»
«Dann seht zu, wie ihr sonst klar kommt. Aber wenn zwei promi-nente Gemeindemitglieder noch nicht mal im gleichen minjen sein wollen, ist das einfach eine Schande.»
«Sieh mal, Jacob ... »
«Was stellst du dir eigentlich vor, wozu die Synagoge in einer Ge-meinde wie unserer da ist? Hier sollten die Juden ihre Streitigkeiten vergessen.» Er winkte den Rabbi heran. «Ich hab gerade zu Ben ge-sagt, die Synagoge ist eine heilige Stätte, und alle Juden, die sie auf-suchen, sollten hier ihren Frieden miteinander machen und ihre Diffe-renzen beilegen. Das ist vielleicht sogar noch wichtiger als das Beten. Was meinen Sie, Rabbi?»
Der junge Rabbi sah unsicher von einem zum anderen. Er errötete. «Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht beipflichten, Mr. Wasserman», erklärte er. «Die Synagoge ist in dem Sinn keine heilige Stätte. Der Tempel in Jerusalem war es natürlich, aber eine Gemeindesynagoge wie die unsere ist nichts weiter als ein Gebäude, das für Gebete und Studien bestimmt ist. Heilig kann man sie wohl nur insofern nennen, als jedem Ort, wo sich Menschen zum Gebet zusammenfinden, diese Bezeichnung zukommt. Aber nach der Tradition obliegt es nicht der Synagoge, Zwistigkeiten zu schlichten, sondern dem Rabbi.»
Schwarz schwieg. Er fand es unpassend, daß der junge Rabbiner dem Gemeindevorsteher so offen widersprach. Wasserman war immerhin sein Vorgesetzter und hätte den Jahren nach sein Vater sein können. Doch Jacob verübelte es offenbar nicht, im Gegenteil. Augenzwinkernd wandte er sich an den Rabbi: «Was würden Sie also vorschlagen, Rabbi, wenn sich zwei Gemeindemitglieder streiten?»
Der junge Mann lächelte flüchtig. «Tja, in alten Zeiten hätte ich einen din-tojre vorgeschlagen.»
«Was ist denn das?» erkundigte sich Schwarz.
«Eine Verhandlung, ein Urteilsspruch», erklärte der Rabbi. «Übri-gens gehörte das zu den Hauptaufgaben des Rabbiners - zu Gericht zu sitzen. Früher wurde der Rabbiner in den europäischen Gettos nicht von der Gemeinde, sondern von der Stadt angestellt, und zwar nicht als Leiter des Gottesdienstes oder als Oberhaupt der Gemeinde. Er hatte vielmehr über die Fälle zu Gericht zu sitzen, die ihm vorge-tragen wurden, und sein Urteil in juristischen Fragen abzugeben.»
«Und wie hat er seine Entscheidungen gefällt?» fragte Schwarz un-willkürlich interessiert.
«Wie jeder Richter hat er sich den Fall angehört, manchmal allein, manchmal zusammen mit ein paar gelehrten Männern aus dem Dorf. Er stellte Fragen, verhörte Zeugen, falls notwendig, und fällte dann nach dem Talmud sein Urteil.»
«Damit kämen wir wohl kaum weiter, fürchte ich», meinte Schwarz lächelnd: «Hier handelt es sich nämlich um ein Auto. Und mit Autos befaßt sich der Talmud doch sicher nicht.»
«Der Talmud befaßt sich mit allem», erklärte der Rabbi entschieden.
«Aber Autos?»
«Selbstverständlich ist im Talmud nicht von Autos die Rede, aber von Schadensfällen und Schadenersatzpflicht. Bestimmte Gegebenhei-ten sind zwar in jeder Zeit verschieden, die allgemeinen Grundsätze jedoch nicht.»
«Na, Ben, bist du einverstanden, deinen Fall vor den Rabbi zu bringen?» fragte Wasserman.
«Von mir aus kann die ganze Gemeinde erfahren, was Abe Reich für ein ganew ist.»
«Ich meine das ganz im Ernst, Ben. Ihr seid beide im Vorstand. Und ihr habt beide, ich weiß nicht wie viele Stunden für die Gemeinde ge-opfert. Warum willst du dann einen Streitfall nicht nach altem jüdi-schen Brauch bereinigen?»
Schwarz zuckte die Achseln. «Von mir aus ... »
«Wie steht‘s mit Ihnen, Rabbi? Wären Sie bereit ... »
«Wenn Mr. Reich und Mr: Schwarz beide einverstanden sind, werde ich einen din-tojre abhalten.»«Abe Reich kriegen Sie im Leben nicht zu so was», meinte Schwarz.
«Ich garantiere dir, daß Reich kommt», versicherte Wasserman.
Schwarz war jetzt interessiert. «Na schön, und wie geht‘s nun wei-ter? Wann soll dieser ... dieser din-tojre sein, und wo?»
«Ginge es heute abend? Hier in meinem Arbeitszimmer?»
«Von mir aus gern, Rabbi. Sehen Sie, es war nämlich so: Abe Reich ... »
«Finden Sie es nicht richtiger, mit Ihrer Geschichte zu warten, bis Mr. Reich dabei ist, wenn ich den Fall entscheiden soll?» fragte der Rabbi freundlich.
«Freilich, Rabbi. Ich wollte ja nicht ... »
«Bis heute abend, Mr. Schwarz.»
«Ich komme bestimmt.»
Der Rabbiner nickte und schlenderte davon. Schwarz sah ihm nach. «Weißt du, Jacob, wenn man sich‘s genau überlegt, habe ich mich eben in eine ziemlich alberne Geschichte eingelassen.»
«Wieso albern?»
«Weil ... weil ... Nun, ich habe mich ja gewissermaßen mit einer regelrechten Gerichtsverhandlung einverstanden erklärt.»
«Na, und?»
«Na, und wer ist der Richter?» Verdrossen sah er zu dem Rabbi hinüber, bemerkte den schlecht sitzenden Anzug, das zerzauste Haar, die staubigen Schuhe. «Sieh ihn dir doch an ... Ein grüner Junge. Ich könnte schließlich sein Vater sein, und da soll ich ihn über mich zu Gericht sitzen lassen? Nein, Jacob, wenn ein Rabbi wirklich eine Art Richter sein soll ... Ich meine, dann haben Al Becker und die anderen recht, die sagen, wir müßten einen älteren, reiferen Mann haben ... Glaubst du tatsächlich, daß Abe Reich mit der Sache einverstanden ist? Ich meine, wenn er nicht zu diesem ... Na, zu dem Dingsda kommt, wird dann wegen Abwesenheit zu meinen Gunsten entschie-den?»
«Da ist ja Reich», antwortete Wasserman. «Wir fangen gleich an: Und wegen heute abend mach dir keine Sorgen. Er wird da sein.»

Das Arbeitszimmer des Rabbiners lag im zweiten Stock, mit Aussicht auf den großen asphaltierten Parkplatz. Wasserman und der Rabbi trafen gleichzeitig ein.
«Ich hatte keine Ahnung, daß Sie auch kommen», sagte der Rabbi.
«Schwarz begann kalte Füße zu kriegen, deshalb hab ich gesagt, ich würde dabei sein. Stört Sie das?»
«Aber durchaus nicht.»
«Wie ist das, Rabbi», fuhr Wasserman fort, «haben Sie so was eigentlich schon mal gemacht?»
«Einen din-tojre abgehalten? Natürlich nicht. Wer würde heutzu-tage selbst in den orthodoxen Gemeinden Amerikas noch zum Rabbi gehen und um einen din-tojre bitten?»
«Aber dann ... »
Der Rabbi lächelte. «Keine Angst, es wird alles seine Richtigkeit haben. Das verspreche ich Ihnen. Ich weiß einigermaßen Bescheid über das, was in der Gemeinde vorgeht. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Die beiden waren immer gute Freunde, und jetzt hat etwas diese Freundschaft gestört. Ich nehme an, beide sind nicht sehr glücklich darüber und werden sich nur zu gern wieder versöhnen. Un-ter diesen Umständen müßte es mir gelingen, eine gemeinsame Basis zu finden.»
Wasserman nickte. «Ich fing schon an, mir etwas Sorgen zu machen. Es stimmt, die beiden waren seit Jahren befreundet. Höchstwahr-scheinlich wird sich herausstellen, daß die Frauen dahinter stecken. Bens Frau Dlyra hat ein böses Mundwerk, sie ist ein regelrechter kochlefel.»
«Ich weiß, ich weiß», seufzte der Rabbi.
«Schwarz ist ein Waschlappen», fuhr Wasserman fort. «Bei ihm zu Hause hat die Frau die Hosen an. Die Familien Schwarz und Reich haben immer gute Nachbarschaft gehalten, bis Ben Schwarz nach dem Tod seines Vaters etwas Geld geerbt hat ... Ach ja, heute vor zwei Jahren muß er gestorben sein, weil Ben zum kadisch in der Synagoge war . . . Na ja; jedenfalls sind die Schwarzens dann nach Grove Point gezogen und haben sich mit den Beckers und den Pearlsteins ange-freundet - mit der ganzen Clique. Und jetzt hab ich den Verdacht, der Schlamassel kommt vor allem daher, daß Myra ihre alten Bekannten abhängen will.»
«Das werden wir ja bald erfahren», meinte der Rabbi. «Das muß einer von beiden sein.»
Die Tür schlug zu, und sie hörten Schritte auf der Treppe. Ben Schwarz und Abe Reich traten ein. Allem Anschein nach hatte einer auf den anderen gewartet. Der Rabbi placierte sie rechts und links vom Schreibtisch einander gegenüber.
Reich war groß und sah mit der hohen Stirn und dem zurückgebür-steten eisgrauen Haar recht gut aus. Im Augenblick war er verlegen, was er hinter einer gleichgültigen Miene zu verbergen suchte.
Auch Schwarz war verlegen, bemühte sich jedoch, die ganze Ange-legenheit als Witz hinzustellen, den sich sein alter Freund Jake Was-serman ausgedacht hatte und bei dem er kein Spielverderber sein wollte.
Schwarz und Reich hatten seit ihrem Eintritt kein Wort gesagt und es sogar vermieden, einander anzusehen. Reich knüpfte ein Gespräch mit Wasserman an, und so wandte sich Schwarz an den Rabbi. «Und was geschieht nun?» fragte er grinsend. «Ziehen Sie Ihren Talar an, und müssen wir alle aufstehen? Fungiert Jacob als Protokollführer oder als Geschworener?»
Der Rabbi lächelte, rückte seinen Sessel zurecht, als Zeichen, daß er bereit sei. «Ich nehme an, Sie verstehen beide, worum es hier geht», sagte er gelassen. «Es gibt keine formellen Verfahrensvorschriften. Normalerweise bekunden beide Parteien ihre Bereitschaft, die Zu-ständigkeit und die Entscheidung des Rabbis anzuerkennen. In die-sem Fall möchte ich jedoch nicht darauf bestehen.»
«Ich habe nichts dagegen», sagte Reich. «Ich bin bereit, Ihre Ent-scheidung anzuerkennen.»
Schwarz wollte nicht zurückstehen und erklärte hastig: «Ich habe weiß Gott nichts zu befürchten. Ich mache auch mit.»
«Um so besser», meinte der Rabbi. «Sie sind der Geschädigte, Mr. Schwarz. Ich schlage deshalb vor, Sie berichten uns, was vorgefallen ist.»
«Da gibt‘s nicht viel zu erzählen», erklärte Schwarz. «Die Geschich-te ist ganz einfach. Abe hat sich Myras Wagen geliehen und ihn durch reine Fahrlässigkeit ruiniert. Ich muß einen neuen Motor kaufen. Das ist alles.»
«Die wenigsten Fälle liegen so einfach», entgegnete der Rabbi. «Können Sie mir schildern, unter welchen Umständen er den Wagen geliehen hat? Und ob es sich um Ihren oder um den Wagen Ihrer Frau handelt. Sie sprachen von dem Auto Ihrer Frau, sagten aber gleich darauf, Sie müßten den neuen Motor kaufen.»
Schwarz lächelte. «Es ist mein Wagen in dem Sinne, daß ich ihn bezahlt habe. Und ihrer in dem Sinne, daß sie ihn normalerweise be-nutzt. Ein Ford-Kabriolett, Baujahr 65. Ich fahre einen Buick.»
«Baujahr 65?» Der Rabbi zog die Augenbrauen hoch. «Dann ist er ja praktisch neu. Da läuft doch die Garantie noch?»
«Sie machen wohl Witze, Rabbi?» Schwarz lachte erbittert auf. «Kein Händler erkennt die Garantie an, wenn der Schaden aus Fahr-lässigkeit des Besitzers entstanden ist. Becker Motors, wo ich den Wa-gen gekauft habe, ist bestimmt eine anständige Firma, aber als ich A1 Becker damit kam, hat er mich ganz schön abblitzen lassen.»
«Ich verstehe.» Der Rabbi bedeutete ihm, fortzufahren.
«Also, wir haben einen Kreis von Freunden, mit denen wir alles gemeinsam unternehmen - Theaterbesuche, Autoausflüge und so wei-ter. Diesmal wollten wir nach Belknap in New Hampshire zum Skilau-fen. Mit zwei Wagen. Die Alberts sind mit den Reichs in ihrer Limou-sine hingefahren. Ich hab den Ford genommen, und wir hatten Sarah Weinbaum mit. Sie ist Witwe. Die Weinbaums gehörten zu unserem Kreis, und seit dem Tod ihres Mannes kümmern wir uns soviel wie möglich um sie ... Na ja.
Wir sind also am Freitag kurz nach Tisch losgefahren. Man braucht nur drei Stunden, und wir konnten so vor Dunkelheit noch ein bißchen skilaufen. Am Sonnabend waren wir alle draußen, bis auf Abe. Er hatte eine schwere Erkältung. Am Samstag abend bekam Sarah einen Anruf von ihren Kindern - sie hat zwei Söhne, einer ist siebzehn, der andere fünfzehn -, sie hätten einen Autounfall gehabt. Sie schworen, es sei nichts Ernstliches passiert, und so war‘s dann auch - Bobby hatte eine Schramme, und Myron, der Ältere, mußte genäht werden. Trotz-dem war Sarah furchtbar aufgeregt und wollte unbedingt nach Hause. Weil sie mit uns hingefahren war, bot ich ihr unseren Wagen an. Aber es war spät und neblig, und Myra wollte sie keinesfalls allein fahren lassen. Und da hat sich Abe erboten, sie zurückzubringen.»
«Gehen Sie mit dem bisher Gesagten einig, Mr. Reich?» erkundigte sich der Rabbi.
«Ja, genauso ist es gewesen.»
«Gut; berichten Sie bitte weiter, Mr. Schwarz.»
«Als wir Sonntag abends nach Hause kamen, war der Wagen nicht in der Garage. Das regte mich nicht weiter auf. Abe wollte ihn offen-bar nicht bei uns lassen und dann zu Fuß nach Hause gehen. Am näch-sten Morgen fuhr ich mit dem Buick weg, und meine Frau rief wegen des Wagens bei Abe an. Und da hat er ihr erzählt ... »
«Einen Moment bitte Mr. Schwarz. Wenn ich recht verstehe, kön-nen Sie bis hierher aus eigener Kenntnis berichten. Ich will damit sagen, von jetzt ab würden Sie wiedergeben, was Sie von Ihrer Frau gehört und nicht, was Sie selber erlebt haben.»
«Sie haben uns doch vorhin ausdrücklich erklärt, hier gebe es keine Verfahrensvorschriften und so was ... »
«Die gibt es auch nicht. Aber wir wollen ja erst mal die ganze Ge-schichte hören, und da ist es doch zweifellos besser, wenn Mr. Reich weiterberichtet. Ich möchte alles in der chronologisch richtigen Reihen-folge haben.»
«Ach so. Na gut.» «Bitte, Mr. Reich.»
«Es war genauso, wie Ben erzählt hat. Ich fuhr mit Mrs. Weinbaum los. Es war neblig und natürlich dunkel, aber wir sind flott und zügig gefahren. Kurz vor Barnard‘s Crossing blieb der Wagen stehen. Zum Glück kam ein Streifenwagen vorbei, und der Polizist fragte, was los sei. Ich sagte ihm, daß der Motor streikt, und er versprach, uns ab-schleppen zu lassen. Ungefähr fünf Minuten später kam ein Abschlepp-wagen aus einer Garage von außerhalb und brachte uns in die Stadt. Es war spät - nach Mitternacht, glaube ich - und kein Mechaniker mehr zu haben. Also holte ich ein Taxi und brachte Mrs. Weinbaum nach Hause. Und dann ... Sie werden es nicht für möglich halten: Als wir hinkamen, war alles finster, und Mrs. Weinbaum hatte ihren Schlüssel vergessen.»
«Wie sind Sie denn hereingekommen?» fragte der Rabbi.
«Sie sagte, sie läßt oben immer ein Fenster offen, und man braucht bloß auf das Dach der Veranda zu klettern . . . Mir war so mies, daß ich noch nicht mal eine steile Treppe geschafft hätte, und sie konnte da natürlich auch nicht rauf. Der Taxifahrer war zwar noch ein junger Kerl, behauptete aber, er hätte ein lahmes Bein - vielleicht hatte er nur Angst, wir wollten ihn zum Einbruch verleiten. Aber er sagte uns, der Polizist von der Nachtstreife mache gewöhnlich um diese Zeit eine Kaffeepause in der Molkerei. Mrs. Weinbaum hatte mittlerweile fast die Nerven verloren. Also schickten wir den Taxifahrer los, um den Polizisten zu holen. Und wie sie eben zurückkommen, wer taucht auf ... Die beiden jungen! Sie waren in der Stadt im Kino! Na ja, Mrs. Weinbaum war so erleichtert, wie sie die beiden wohlbehalten vor sich sah, daß sie sogar vergessen hat, sich bei mir zu bedanken. Sie ist mit den jungen ins Haus und hat es mir überlassen, dem Polizisten alles zu erklären.»
Schwarz empfand das als unausgesprochene Kritik und warf ein: «Sarah muß furchtbar aufgeregt gewesen sein. Sonst ist sie immer sehr höflich.»
Reich äußerte sich nicht dazu, sondern fuhr fort: «Ich hab also dem Polizisten erklärt, was passiert ist. Er sagte kein Wort, sondern sah mich nur mit dem mißtrauischen Blick an, den sie alle haben. Sie kön-nen sich vorstellen, wie mir zumute war. Ich habe vor Schnupfen keine Luft mehr gekriegt, jeder Knochen tat mir weh, und Fieber hatte ich auch ... Sonntag bin ich im Bett geblieben. Als Betsy - meine Frau - aus Belknap zurückkam, schlief ich fest und hörte sie nicht mal. Am nächsten Morgen war mir immer noch miserabel, und ich beschloß, nicht ins Büro zu gehen. Bei Myras Anruf war Betsy am Apparat. Sie weckte mich, und ich erzählte ihr, was sich abgespielt hatte, und gab ihr Namen und Adresse von der Garage. Ungefähr zehn Minuten spä-ter klingelte das Telefon wieder. Myra bestand darauf, mit mir zu sprechen. Also bin ich aufgestanden. Sie hätte eben in der Werkstatt angerufen. Die haben ihr gesagt, ich hätte ihren Wagen ruiniert, ich sei ohne Öl gefahren, und der ganze Motor ist hin, und sie macht mich haftbar - und so weiter und so fort. Sie war ganz hübsch grob. Ich fühlte mich ziemlich mies, und da hab ich ihr gesagt, sie soll gefälligst machen, was sie will. Dann hab ich eingehängt und bin wieder ins Bett gegangen.»
Der Rabbi sah Schwarz fragend an.
«Meine Frau behauptet zwar, er hätte noch einiges mehr gesagt, aber ich glaube schon, so etwa ist‘s gewesen.»
Der Rabbi schwenkte den Sessel herum und schob die Glastür des Bücherschranks hinter sich auf. Er betrachtete die Bände auf dem Re-gal prüfend und zog einen heraus. Schwarz zwinkerte Wasserman grinsend zu. Reich unterdrückte ein Lächeln. Der Rabbi jedoch blät-terte gedankenverloren das Buch durch. Hin und wieder stockte er bei einer Seite und überflog sie nickend. Mitunter rieb er sich die Stirn, als wolle er die Gehirntätigkeit anregen. Seine kurzsichtigen Augen irrten auf dem Schreibtisch umher. Endlich fand er ein Lineal, mit dem er eine Stelle festhielt. Kurz darauf markierte er eine andere mit einem Briefbeschwerer. Dann zog er einen zweiten Band heraus, der ihm anscheinend vertrauter war, da er den gesuchten Abschnitt rasch fand. Schließlich schob er beide Bücher beiseite und sah die Männer vor sich wohlwollend an.
«Gewisse Aspekte des Falles sind mir noch nicht ganz klar. Zum Beispiel stelle ich fest, daß Sie, Mr. Schwarz, von Sarah sprechen, wäh-rend Sie, Mtr. Reich, Mrs. Weinbaum sagen. Bedeutet das bloß, daß Mr. Schwarz weniger konventionell ist? Oder ist die Dame mit der Familie Schwarz enger befreundet als mit den Reichs?»
«Sie gehörte zu unserer Clique. Wir waren alle befreundet. Wenn einer von uns Gäste hatte oder eine Veranstaltung besuchte, lud er sie immer dazu ein, genau wie neulich.»
Der Rabbi sah Reich an.
«Ich würde schon sagen, daß sie enger mit ihnen befreundet war. Wir haben die Weinbaums erst durch Ben und Myra kennenge-lernt.»
«Das mag wohl richtig sein», räumte Schwarz ein. «Was hat das mit der Sache zu tun?»
«Und Mrs. Weinbaum ist in Ihrem Wagen mitgefahren?» fragte der Rabbi.
«Ja. Es hat sich so ergeben ... Worauf wollen Sie denn hinaus?» «Meiner Auffassung nach war sie in erster Linie Ihr Gast, und Sie fühlten sich mehr für sie verantwortlich als Mr. Reich.»
Wasserman beugte sich vor.
«Ich glaube, das trifft zu», bestätigte Schwarz wiederum.
«Tat dann Mr. Reich nicht gewissermaßen Ihnen einen Gefallen, als er sie heimfuhr?»
«Sich selbst aber auch. Er war schwer erkältet und wollte nach Hause.»
«Hatte er irgend etwas in der Richtung geäußert, bevor Mrs. Wein-baum angerufen wurde?»
«Nein. Aber wir wußten alle, daß er nach Hause wollte.» «Glauben Sie, daß er Sie auch ohne den Anruf um Ihren gebeten hätte?»
«Wahrscheinlich nicht.»
«Wir können also wohl als gegeben annehmen, daß er Ihnen einen Gefallen tat, wenn er Mrs. Weinbaum nach Hause fuhr - so sehr es auch in seinem eigenen Interesse gelegen haben mag.»
«Hm . . . Ich verstehe nicht recht, was das für einen Unterschied macht. Worauf wollen Sie hinaus?»
«Ganz einfach: Im einen Fall wäre er in der Rechtslage des Entlei-hers gewesen, im zweiten aber ist er de facto Ihr Bevollmächtigter, und dafür gelten andere Gesetze. Als Entleiher obliegt ihm die volle Verantwortung dafür, Ihren Wagen in einwandfreiem Zustand zurück-zugeben. Um nicht schadenersatzpflichtig gemacht zu werden, hätte er den Beweis antreten müssen, daß der Wagen einen Defekt hatte und daß auf seiner Seite kein fahrlässiges Verschulden vorlag. Ferner hätte er sich bei Übernahme des Wagens vergewissern müssen, daß er in einwandfreiem Zustand war. Als Ihr Bevollmächtigter jedoch konnte er mit Recht voraussetzen, daß der Wagen in einwandfreiem Zustand war, und die Beweislast liegt bei Ihnen. Sie müssen ihm grobe Fahr-lässigkeit nachweisen.»
Wasserman lächelte.
«Für mich besteht da kein großer Unterschied. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß er in jedem Fall grob fahrlässig gehandelt hat. Das kann ich auch beweisen. Es war kein Tropfen Öl im Motor. Das hat der Mechaniker in der Garage gesagt. Also ist er ohne Öl weitergefahren, und das ist grobe Fahrlässigkeit.»
«Und woher sollte ich bitte wissen, daß der Wagen Öl brauchte?» fragte Reich.
Bisher hatten beide nur über den Rabbi miteinander gesprochen. Jetzt aber wandte sich Schwarz um, sah Reich direkt an und sagte: «Du hast doch unterwegs getankt, nicht wahr?»
Reich drehte sich ebenfalls um. «Allerdings. Beim Einsteigen habe ich gesehen, daß der Tank nicht mal mehr halb voll war. Nach etwa einer Stunde hab ich dann an einer Tankstelle gehalten.»
«Aber du hast den Ölstand nicht kontrollieren lassen», wandte Schwarz ein.
«Nein. Und das Kühlwasser, die Batterie und den Reifendruck auch nicht. Neben mir saß nämlich eine nervöse, hysterische Frau, die es kaum abwarten konnte, bis der Tank voll war. Warum sollte ich auch alles nachkontrollieren lassen? Der Wagen war ja so gut wie neu.»
«Sarah hat aber zu Myra gesagt, sie hätte das mit dem Öl erwähnt.»
«Freilich - zehn, fünfzehn Kilometer nach der Tankstelle. Auf meine Frage sagte sie, du hättest den Ölstand auf der Hinfahrt kontrollieren lassen und zwei Liter nachgefüllt. Daraufhin sagte ich, dann brauchen wir bestimmt keins, und damit war der Fall erledigt . . . Sie ist einge-nickt und erst wieder aufgewacht, als wir steckenblieben.»
«Na, ich bin schon der Meinung, daß man auf einer langen Fahrt bei jedem Halt Öl und Wasser kontrollieren läßt», beharrte Schwarz. «Einen Augenblick, Mr. Schwarz», unterbrach der Rabbi. «Ich bin zwar kein Mechaniker, aber ich verstehe nicht recht, wieso ein neuer Wagen gleich zwei Liter Öl braucht.»
«Weil irgendeine Dichtung defekt war. Gar nicht weiter gefährlich. Ich entdeckte ein paar Öltropfen auf dem Garagenboden und sprach mit Al Becker darüber. Er sagte, er bringt das bei der nächsten Inspek-tion in Ordnung; ich kann inzwischen ruhig weiterfahren.»
Der Rabbi sah Reich an, ob er darauf etwas zu erwidern hätte, lehn-te sich dann zurück in seinem Drehstuhl und dachte nach. Endlich rich-tete er sich auf und straffte die Schultern. Er ließ die Hand auf die Bücher vor sich heruntersausen. «Hier liegen zwei von den drei Bän-den des Talmud, die das allgemeine Thema Schadenersatz behandeln, wie wir es heute nennen würden. Er befaßt sich sehr ausführlich da-mit. Der erste Band geht auf die üblichen Schadensursachen ein; zum Beispiel enthält der Abschnitt über den Ochsen, der etwas auf die Hörner nimmt, rund vierzig Seiten. Es werden allgemeine Grundsätze aufgestellt, nach denen die Rabbiner sich in den verschiedenartigsten Fällen weitgehend richten konnten. Sie unterschieden zunächst zwi-schen tam und muad, das heißt zwischen dem zahmen Ochsen und dem, der bereits als bösartig bekannt ist. Hatte nun ein solcher Ochse abermals etwas auf die Hörner genommen, so wurde sein Besitzer weit strenger zur Verantwortung gezogen als der des zahmen Ochsen im gleichen Fall, da er ja durch die früheren Vorkommnisse gewarnt war und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen hätte ergreifen müssen.» Er warf Wasserman einen Blick zu, der bestätigend nickte.
Der Rabbi stand auf und begann hin und her zu wandern. Er sprach jetzt im singenden Tonfall der Talnudisten, während er den Faden weiterverfolgte. «In diesem Fall nun wußten Sie, daß Ihr Wagen Öl verlor. Und ich vermute, daß es sich zumindest beim Fahren um mehr als nur ein paar Tropfen handelte, da Sie auf dein Hinweg zwei ganze Liter nachfüllen mußten. Wäre nun Mr. Reich als Entleiher aufgetre-ten, hätte er beispielsweise erklärt, er fühle sich nicht wohl und wolle nach Hause, und hätte er Sie gebeten, ihm Ihren Wagen für die Heim-fahrt zu leihen, dann wäre es an ihm gewesen, sich entweder bei Ihnen über den einwandfreien Zustand zu vergewissern oder sich persönlich davon zu überzeugen. Und wenn er das versäumt hätte, wäre er selbst unter genau den gleichen Umständen verantwortlich gewesen und für den entstandenen Schaden haftbar. Wir sind uns jedoch bereits dar-über einig geworden, daß er kein Entleiher war, sondern in erster Linie Ihr Bevollmächtigter. Somit waren Sie verantwortlich und muß-ten ihn darauf hinweisen, daß der Wagen Öl verlor und daß er auf den Ölstand achten solle ... »
«Einen Augenblick, Rabbi», unterbrach Schwarz. «Ich brauchte ihn nicht persönlich zu warnen. Der Wagen hat ja eine Ölkontrollampe. Wenn man fährt, rnuß man auf das Armaturenbrett achten. Und wenn er das getan hätte, dann hätte er an dem roten Licht gesehen, daß kein Öl mehr drin war.»
Der Rabbi nickte. «Ein guter Einwand. Was haben Sie dazu zu sa-gen, Mr. Reich?»
«Die Ölkontrollampe leuchtete allerdings auf», bestätigte dieser. «Aber das war unterwegs und weit und breit keine Tankstelle in Sicht. Bevor ich eine finden konnte, blieben wir stecken.»
«Aha.»
«Der Mechaniker meinte, er hätte den brenzligen Geruch lange vor-her bemerken müssen», beharrte Schwarz.
«Nicht bei starkem Schnupfen. Und Mrs. Weinbaum schlief ja.» Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Nein, Mr. Schwarz: Mr. Reich hat nur getan, was jeder durchschnittliche Fahrer unter den obwaltenden Verhältnissen getan hätte. Deshalb kann man ihn nicht als fahrlässig ansehen. Und wenn er nicht fahrlässig war, ist er auch nicht verant-wortlich.»
Sein entschiedener Ton zeigte an, daß die Verhandlung beendet war. Reich stand als erster auf. «Mir ist es wie Schuppen von den Augen ge-fallen, Rabbi», sagte er leise. Der Rabbi nahm seinen Dank entgegen.
Reich drehte sich unsicher zu Schwarz um in der Hoffnung auf eine versöhnliche Geste. Doch Schwarz blieb sitzen, blickte starr auf den Fußboden und rieb sich verärgert die Hände.
Reich wartete einen Moment und sagte dann: «Na ja, ich gehe jetzt.» An der Tür blieb er stehen. «Ich habe deinen Wagen nicht auf dem Parkplatz gesehen, Jacob. Kann ich dich mitnehmen?»
«Ich bin zu Fuß gekommen», sagte Wassennan. «Aber ich würde ganz gern heimfahren.»
«Ich warte unten.»
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hob Schwarz den Kopf. Er war sichtlich gekränkt. «Ich hatte wohl eine falsche Vorstel-lung von dem Zweck dieser Verhandlung, Rabbi. Oder vielleicht liegt ein Mißverständnis vor. Ich habe Ihnen gesagt oder zu sagen versucht, daß ich nicht beabsichtige, Abe zu verklagen. Immerhin kann ich die Reparaturkosten viel leichter erschwingen als er. Wenn er mit irgend-einem Angebot gekommen wäre, hätte ich es abgelehnt, aber wir wä-ren Freunde geblieben. Statt dessen hat er meine Frau beschimpft, und ich mußte sie verteidigen. Vermutlich ist sie ausfallend zu ihm ge-worden. Ich kann jetzt begreifen, warum er so reagiert hat.»
«Aber dann ... »
Schwarz schüttelte den Kopf. «Sie verstehen mich nicht, Rabbi. Ich hatte gehofft, daß wir in dieser Verhandlung zu irgendeinem Vergleich kämen, daß sie uns wieder zusammenbrächte. Statt dessen haben Sie ihn vollständig entlastet - was bedeutet, daß ich absolut im Unrecht gewesen sein muß ... Aber was habe ich denn schon getan? Zwei Freunde von mir wollten rasch nach Hause, und ich habe ihnen mei-nen Wagen geliehen, War das unrecht? Ich habe den Eindruck, daß Sie nicht als unparteiischer Richter gehandelt haben, sondern eher wie sein Anwalt. Alle Ihre Fragen und Argumente waren gegen mich ge-richtet. Ich bin kein Jurist und kann deshalb nicht feststellen, wo der Fehler in Ihren Ausführungen steckt. Doch ich bin überzeugt, wenn ich mit einem Rechtsanwalt hier erschienen wäre - der hätte es sofort gemerkt. Jedenfalls hätte er bestimmt einen Vergleich zustande ge-bracht.»
«Aber wir haben doch sogar noch mehr erreicht», sagte der Rabbi. «Wie meinen Sie das? Sie haben ihn von jeder Fahrlässigkeit frei-gesprochen, und ich werde um ein paar hundert Dollar ärmer.»
Der Rabbi lächelte. «Ich fürchte, Sie haben die volle Bedeutung des Beweismaterials nicht erfaßt, Mr. Schwarz. Es stimmt, Mr.. Reich wur-de von jeder Fahrlässigkeit freigesprochen, aber das macht Sie doch nicht automatisch schuldig.»
«Das kapier ich nicht.»
«Betrachten wir doch einmal den Tatbestand. Sie haben einen Wa-gen gekauft, der Öl verlor. Als Sie den Schaden bemerkten, verstän-digten Sie den Hersteller durch seinen Vertreter, Mr. Becker. Nun handelte es sich fraglos um einen geringfügigeren Defekt, und weder Mr. Becker noch Sie hatten Veranlassung zu der Annahme, daß er sich in unmittelbarer Zukunft verschlimmern würde. Der Gedanke, daß dies bei einer langen Fahrt eintreten könnte, ist Mr. Becker offenbar nicht gekommen, sonst hätte er Sie doch darauf aufmerksam gemacht, und Sie wären in diesem Fall zweifellos nicht nach New Hampshire gefahren. Tatsächlich hat sich jedoch auf der langen Strecke die un-dichte Stelle vergrößert, weshalb Sie ja auf dem Hinweg zwei Liter Öl nachfüllen mußten. Der Hersteller kann nun unter diesen Umständen nur von Ihnen verlangen, daß Sie die normale Sorgfalt walten lassen. Sie werden mir wohl beipflichten, daß Mr. Reich nichts getan hat, was nicht jeder sorgfältige Fahrer ... »
«Dann ist also eigentlich die Fabrik schuld, Rabbi?» Schwarz‘ Miene hellte sich auf, und seine Stimme klang aufgeregt. «Wollen Sie das damit sagen?»
Wasserman strahlte über das ganze Gesicht.
«Genau, Mr. Schwarz. Ich behaupte, die Schuld liegt beim Herstel-ler, und er muß seine Garantie erfüllen.»
«Also wissen Sie, Rabbi ... Das ist ja einfach phantastisch! Becker wird blechen, da bin ich sicher. Schließlich ist es nicht sein Geld ... Dann ist ja alles in Ordnung! Hören Sie, Rabbi, falls ich was gesagt habe, das ... »
Der Rabbi fiel ihm ins Wort. «Unter den Umständen durchaus ver-ständlich, Mr. Schwarz.»
Schwarz wollte alle zu einem Drink einladen, aber der Rabbi ent-schuldigte sich. «Vielleicht ein andermal. Beim Blättern bin ich eben auf ein paar Punkte gestoßen, die mich interessieren ... Nein, es hat nichts mit unserer Sache zu tun, aber ich würde mich gern näher damit befassen, solange ich es noch frisch im Kopf habe.» Er schüttelte bei-den die Hand und begleitete sie zur Tür.
«Na, und was hältst du jetzt von dem Rabbi?» fragte Wasserman, kaum waren sie auf der Treppe.
«Ein doller Bursche», meinte Schwarz. «Ein charif, Ben, ein regelrechter charif.»
«Ich hab zwar keine Ahnung, was ein chari f ist, Jacob, aber wenn du‘s sagst, wird‘s schon stimmen.»
«Ein chari f ist ... Na, ein heller Kopf. Und was ist mit Abe?»
«Also, Jacob, dir gesagt, es war hauptsächlich Myra. Du weißt doch, wie Frauen sind, wenn’s um ein paar Dollar geht.»
Aus dem Fenster seines Arbeitszimmers sah der Rabbi auf den Park-platz hinunter, wo sich die drei Männer offensichtlich versöhnt unter-hielten. Er lächelte und trat zurück. Sein Blick fiel auf die Bücher am Schreibtisch. Er rückte die Leselampe zurecht, setzte sich auf den Drehstuhl und zog die Bücher näher heran.


[editiert: 19.04.04, 12:54 von bjk]
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