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(Vorbemerkung: Erstmalig wird hier ein Beitrag von Ernst Topitsch veröffentlicht, den er mir 1998 für einen Sammelband zusandte. Leider fand dieser Aufsatz damals keine Berücksichtigung. In der Causa "Barbarossa" leistete Ernst Topitsch als Philosoph und Historiker einen bahnbrechenden Beitrag ohne dessen Berücksichtigung eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der Auseinandersetzungen um die Hintergründe des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 unvollständig wäre. Er ist, wie Viktor Suworow, eine zentrale Gestalt dieser wissenschaftlichen Diskussion. Diese bislang unveröffentliche Ausarbeitung ist eine Vervollständigung der Äußerungen Topitschs zu dieser bedeutenden historischen Frage.
Da der Streit um "Barbarossa" nicht nur die historische Wahrheit betrifft, und die Geschichte ist das Auge der Wahrheit!, sondern auch das Gebiet der Moral durch seine Entlastung des deutschen Volkes, ist ein Abdruck der nachfolgenden Analyse auch aus politischen Gründen geboten. Es ist ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag von politischer Relevanz. RJE)
Gespenst „Barbarossa“
Der Argumentationsnotstand der Konformisten
Von Prof. Dr. Ernst Topitsch
In diesem Band zu schreiben, bedeutet heute fast etwas wie einen Tabubruch. Doch der Liberale ist nun einmal ein Gegner von Denksperren und Frageverboten, von Dogmen und Tabus, gleichgültig ob sie von einem Heiligen Offizium, einem Politbüro, von weiland „Grandgoschier“ Jupp Goebbels oder von den heutigen Hohepriestern und Inquisitoren der „Political correctness“ erlassen sind. Dabei befindet er sich in der allerbesten Gesellschaft. Mein verehrter Lehrer Hans Kelsen, der Vater und wohl der berufenste Interpret der österreichischen Verfassung, hat am Schluß seiner Abschiedsvorlesung an der University of Berkeley/California die Quintessenz seines Lebenswerkes mit den Worten zusammengefaßt: „Wissenschaft kann nur gedeihen, wenn sie frei ist; und sie ist frei nicht nur, wenn sie es nach außen, d.h. wenn sie von politischen Einflüssen unabhängig ist, sondern wenn sie auch im Innern frei ist, wenn völlige Freiheit herrscht in dem Spiel von Argument und Gegenargument“ .
Sollte es nicht zu denken geben, wenn man heute als Träger dieser Tradition, die den Inbegriff aller Aufklärung bildet, auf die Gastfreundschaft dieses Bandes angewiesen ist?
Doch mag im Hinblick auf das hier zu behandelnde Thema noch eine andere Vorbemerkung angebracht sein. Nicht selten versucht man, mich als Dilettanten abzuqualifizieren, indem man mich als „Philosophen“ bezeichnet, worunter wohl etwas wie ein Wolkenschieber oder Spinner verstanden werden soll. Doch als Philosoph und Soziologe bin ich nicht in irgendwelchen spekulativen Wolkenkuckucksheimen zuhause. Vielmehr komme ich von der realistischen Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft - Thukydides und Max Weber haben mich entscheidend beeinflußt.
So habe ich schon als Student im dritten Semester während eines Studienurlaubes einen philologisch-historischen Aufsatz „Die Psychologie der Revolution bei Thukydides. Die Frage der Echtheit von Kapitel III 84“ verfaßt, der im Jahrgang 1942 der Fachzeitschrift „Wiener Studien“ erschienen ist. Darüber urteilte dann das „Handbuch der Altertumswissenschaften“ (VII 1, 5; S. 81): „Durch die eindringende Interpretation von E. Topitsch ... kann die Echtheit von III 84 als erwiesen gelten“. Doch habe ich die in diesem Kapitel behandelten Greuel in Kerkyra (dem heutigen Korfu) im Jahre 427 v. Chr. auch benützt, um hinter einem eher notdürftigen antiken Tarnschleier meinem Entsetzen über das Zeitgeschehen im allgemeinen und über die nationalsozialistische Gewaltherrschaft im besonderen Ausdruck zu verleihen: „Noch erregt diese schreckliche Verwilderung allenthalben Aufsehen, da man solche Greuel noch nicht gewohnt ist, aber bald wird ganz Hellas von ihr heimgesucht. Die unverschämte Lügenhaftigkeit der Parteimänner auf beiden Seiten zerstört den Sinn für die wahre Bedeutung der Wörter und damit die Voraussetzung einer Kontrolle ihrer Unwahrhaftigkeit. Die Beziehung des Menschen zur Umwelt und zur Welt der sittlichen Werte ist gestört. Er lebt in einem Rausch von Schlagworten und Bildern, die jede Freveltat zu entschuldigen, ja zu fordern scheinen. Es gehört geradezu zum ‘guten Ton’, dieses Treiben mitzumachen. Wer sich davon fernhalten will, wird von beiden Seiten angegriffen und vernichtet. Immer mehr gelangen die minderwertigsten Elemente zur Macht...“. Das war ungefähr das Äußerste, was damals überhaupt veröffentlicht werden konnte, und im Klartext, ohne die antike Tarnung, hätte es den Kopf kosten können. Das sage ich nicht, um mich als Helden des Widerstandes aufzuspielen, sondern nur, um zu erklären, warum ich angesichts spätgeborener Vergangenheitsbewältiger nicht gerade vor Ehrfurcht in den Boden versinke.
Nach Kriegsende wurde ich mit einer Dissertation „Mensch und Geschichte bei Thukydides“ sub auspiciis zum Dr. phil. promoviert, und bei der Habilitation (1951) wurde mein Fach mit „Praktische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Geschichts- und Sozialphilosophie“ umschrieben. Als Heidelberger Ordinarius habe ich dann vor allem die historische Linie der Soziologie in der Richtung von Max und Alfred Weber, Ernst Troeltsch, Werner Sombart u.a. fortgeführt. So war und bin ich ein Grenzgänger zwischen Philosophie, Soziologie und Geschichte. Schließlich habe ich auch einen Sammelband „Logik der Sozialwissenschaften“ herausgegeben, der inzwischen 12 Auflagen erreicht hat.
Und nun zur Sache. Die konformistische oder ideologisch korrumpierte „Zeitgeschichte“ hat einen schweren Schlag erhalten, dessen weitere Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind. Einer ihrer Grundpfeiler ist nämlich endgültig zusammengebrochen, die Story vom „heimtückischen faschistischen Überfall auf die friedliebende und ahnungslose Sowjetunion“. Dabei ist das „Aus“ für diese Legende schon vor mehr als einem halben Jahrzehnt von unbestreitbarer kompetenter und politisch absolut unverdächtiger Seite gekommen. Der Militärhistoriker B. Petrow schrieb am 8. Mai 1991 in der „Prawda“, damals noch dem Zentralorgan der KPdSU: „Infolge der Überschätzung eigener Möglichkeiten und Unterschätzung des Gegners schuf man vor dem Krieg unrealistische Pläne offensiven Charakters. Möglich, daß sie auf dem Papier geblieben wären und es heute keinen Sinn mehr hätte, darüber zu reden. Doch in ihrem Sinn begann man die Gruppierung der sowjetischen Streitkräfte an der Westgrenze zu formieren. Aber der Gegner kam uns zuvor“ (Hervorhebung von mir. E.T.). Sicherheitshalber ließ ich das Zitat anhand des Originaltextes überprüfen. Was dieses geradezu offizielle Eingeständnis bedeutet, braucht man nicht weiter zu erklären, zumal da es durch zahlreiche russische Texte ergänzt und bestätigt wird . „Barbarossa“ ist zum Schreckgespenst der Konformisten und Linksideologen geworden, angesichts dessen es ihnen die Rede verschlagen hat.
Es ist fast amüsant, die Show argumentativer Hilflosigkeit zu betrachten, die hier vorgeführt wird, weniger amüsant sind aber die Methoden, mit denen unter Einsatz formidabler Medienmacht eine uninformierte oder desinformierte Öffentlichkeit über das ganze Debakel hinweggetäuscht werden soll.
Ein aufschlußreiches, wenn auch über die engere Thematik von „Barbarossa“ hinausgehendes Beispiel dafür bildet eine im Vorjahr durchgeführte Podiumsdiskussion zwischen Dr. Alfred Schickel, dem Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, und Prof. Dr. Wolfgang Wippermann, einem Zeithistoriker der FU Berlin, über das Thema der Schuld am Zweiten Weltkrieg. Dieser Auseinandersetzung ließ Wippermann in der „Frankfurter Rundschau“ vom 31.10.95 einen bemerkenswerten Aufsatz folgen, wo es gleich am Anfang heißt: „‘Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld Hitlers’ am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ist ‘eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik’, erklärte Theodor Eschenburg vor nunmehr über dreißig Jahren... Diese Kriegsschuld (gemeint ist die Bestreitung dieser Schuld, E.T.) muß genauso geächtet werden wie die sog. Auschwitzlüge“. Es ist überraschend, daß die Ächtung zum methodischen Instrumentar der Geschichtswissenschaft gehören soll. Dabei geht Wippermann nirgends näher auf die Argumente der Gegenseite ein, sondern beruft sich hier wie sonst auf die „seriöse Forschung“. Diese arbeitet aber nicht mit Ächtungen, sondern mit Argumenten. So betont etwa das Standardwerk „Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ von dem angesehenen Schweizer Historiker Walther Hofer, dem man bestimmt keine Sympathien für den deutschen Diktator nachsagen kann, „die entscheidende Mitverantwortung der Sowjetunion an der Entfesselung des Krieges von 1939... Wohl ist Hitler der drängende Teil gewesen, der unbedingt seinen Krieg haben wollte, aber Stalin hat ihm, wie man gesagt hat, ‘grünes Licht’ für seinen Krieg gegeben“ . Doch auch ein Autor ganz anderen Kalibers hat sich dazu ganz eindeutig geäußert. Am 28. Oktober 1941 schrieb Churchill an Sir Stafford Cripps, die Russen hätten „ihr Schicksal selbst heraufbeschworen, als sie durch ihren Pakt mit Ribbentrop Hitler gegen Polen losließen und damit diesem Krieg zum Ausbruch verhalfen“ .
Daß ich selbst als „Amateur-Historiker“ und „Philosophieprofessor“ abgetan werde, sei nur am Rande erwähnt. Im übrigen werden die Behauptungen der „Revisionisten“ ohne weitere Begründung als abstrus, abenteuerlich, unsinnig usw. abqualifiziert - die „Fachhistoriker“ hätten sie längst widerlegt. Doch zum Schluß kommt der Autor zu einer bemerkenswerten Feststellung: „Dennoch ist es mehr als erstaunlich, daß die (Fach-) Historiker dem revisionistischen Treiben ungerührt zusehen. Das überlassen sie ihren Kollegen von der Nachbardisziplin der Politikwissenschaft, die sich mit dem Rechtsradikalismus und Revisionismus beschäftigen“. Möglicherweise beginnt sich unter der Wucht der besonders zum Fall „Barbarossa“ vorgebrachten Argumente und vorgelegten Dokumente bei den Fachhistorikern ein Umdenken anzubahnen, während den Ideologen die Felle davonschwimmen. Übrigens beruht der Fortschritt von Wissenschaft und Aufklärung vielfach auf der Revision verkrusteter Dogmen, und wer den Ausdruck „Revisionismus“ als Schimpfwort verwendet, gibt sich dadurch nur als Dogmatiker und Dunkelmann zu erkennen - was freilich nicht heißt, daß die Revisionisten immer recht haben müssen.
Doch nun wieder zum Amüsanten. Ein besonders schätzenswertes Specimen argumentativer Hilflosigkeit bietet Manfred Messerschmidt in seinem Beitrag „Vorwärtsverteidigung“ zu dem bekannten Sammelband „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ (Hamburg 1995). Er weiß nur pauschal zu behaupten, „die Topitsch, Suvorov, Hoffmann... boten nichts Originelles“ (537). Damit mogelt er sich um eine Auseinandersetzung mit den von diesen und anderen Autoren dargebotenen Argumenten und Dokumenten herum. Statt dessen wird den „Revisionisten“ eine tatsächlich absurde Behauptung unterstellt, nämlich daß „Barbarossa“ etwas wie eine präventive Reaktion des friedliebenden Hitler auf einen erkannten sowjetischen Offensivaufmarsch gewesen sei. Vielmehr heißt es bei mir, daß es sich hier „um den Zusammenprall zweier Stoßrichtungen totalitärer Eroberungspolitik gehandelt hat, wobei nur der eine Aggressor dem anderen um eine wahrscheinlich nicht sehr große Zeitdifferenz zuvorgekommen ist“ .
Vielleicht noch deutlicher ist die argumentative Hilflosigkeit in dem Aufsatz „Das ‘Unternehmen Barbarossa’ gegen die Sowjetunion - ein Präventivkrieg?“ von Gerd R. Überschär in dem vom linksextremen „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes“ herausgegebenen Sammelband „Wahrheit und ‘Auschwitzlüge’. Zur Bekämpfung `revisionistischer’ Propaganda“ (Wien 1995). Von dem offiziösen Eingeständnis der „Prawda“ erfährt der Leser ebensowenig wie von der Rede, in der Lenin bereits 1920 das Programm und Szenario des „Zweiten imperialistischen Krieges“ entworfen hat, und mit den heute bereits reichlich vorliegenden Unterlagen über die russischen Angriffsvorbereitungen setzt sich der Autor ebensowenig auseinander, obwohl zahlreiche Anmerkungen den Eindruck der Wissenschaftlichkeit erwecken sollen. Und wie ist Molotows Verhalten im November 1940 anders denn als Erpressung und Provokation zu verstehen? Warum hat sich die sowjetische Agit-Prop-“Historie“ über dieses Thema so konsequent ausgeschwiegen? Warum wollten sich die Sowjets 1945 der Tonbänder der Gespräche bemächtigen? Warum durften diese Vorgänge vor dem Nürnberger Militärtribunal nicht behandelt werden? Meine inzwischen weiter bestätigte These, „daß nicht nur Hitler den sogenannten ‘Lebensraum’ im Osten erobern wollte, sondern auch Stalin eine Großoffensive vorbereitete“ sei eine Außerachtlassung der „bisher anerkannten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft“, wobei unter der letzteren wohl die Hervorbringungen der Konformisten und Linksideologen zu verstehen sind. Die wirkliche seriöse Geschichtswissenschaft wird um die Anerkennung der neuen Einsichten nicht herumkommen.
Nun kann man natürlich von dem wissenschaftlichen Niveau dieses Beitrages nicht auf dasjenige der übrigen Beiträge schließen, zur Glaubwürdigkeit des Bandes trägt er jedenfalls nicht bei.
Beunruhigend ist etwas anderes. Das vom erwähnten Dokumentationsarchiv herausgegebene „Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus“ (Wien 1993) stellt auf S 378 fest: „Schon die Leugnung der Alleinschuld Hitlerdeutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erfüllt in objektiver Hinsicht den Tatbestand nationalsozialistischer Wiederbetätigung“. Also sind schon die oben zitierten Passagen von Walther Hofer und Winston Churchill neonazistische Konterbande. Darüber hinaus mag die Aufnahme des Artikels von Überschär sogar die Absicht andeuten, nun auch die selbst von der „Prawda“ zugegebenen sowjetischen Angriffsvorbereitungen, ja womöglich die gesamte sowjetische Weltmachtpolitik unter Androhung existenzgefährdender Kriminalstrafen der Diskussion zu entziehen. Als Liberaler bin ich natürlich Gegner jedes Faschismus, auch des Faschismus der „Antifaschisten“.
Anders liegen die Dinge bei Rudolf Augstein und dem „Spiegel“. Dieses gewiß nicht „rechtslastige“ Magazin hat dankenswerter Weise schon früh (Nr. 22/1990, S. 170 ff.; 24/1991, S. 140) der breiten Öffentlichkeit russische Angriffspläne bekanntgemacht. Es berichtete von einem Aufsatz in einer sowjetischen Militärzeitschrift, wo der Oberst Karpow jenes „Geheimnis von welthistorischer Bedeutung“ enthüllte. Dabei wird auch meine angeblich „absurde“ These bestätigt, daß Stalin aus psychologisch-politischen Gründen einen sowjetischen Erstschlag ablehnte: „Indem er die Deutschen kommen ließ, ohne ihren Aufmarsch präventiv zu stoppen, zog er daraus zwar den psychologischen Gewinn, als Opfer dazustehen, verlor aber den Vorteil der Offensive, auf die seine Truppen vorbereitet waren“. Ein rundes Jahr später folgte eine detailliertere, mit einem Farbbild illustrierte Darstellung des „Schukow-Planes“. Ja, schon früher hatte Augstein das fürchterliche Wort ausgesprochen (Nr. 27/1988, S. 64): „Daß Hitler den Stalin überfallen hat, kann wohl keiner mehr leugnen. Aber ein Präventivkrieg, wenn auch auf ideologischen Hintergrund, war es trotzdem. Schließlich hatte Stalin den Hitler durch seinen Molotow wissen lassen, daß er Forderungen von Gleich zu Gleich stellte“. Also: Augstein vor den Kadi?
Doch als das ganze Gebäude der konformistischen „Zeitgeschichte“ ins Gleiten zu kommen drohte, ist Augstein auf den Tugendpfad der „Political correctness“ zurückgekehrt (Nr. 6/1996, S. 102 ff.). Von sowjetischen Angriffsplänen, von der Enthüllung welthistorischer Geheimnisse oder gar von - horribile dictu! - einem Präventivkrieg ist keine Rede mehr. Daß sich auch hier über das fatale Eingeständnis der „Prawda“ samt einschlägigen Argumenten und Dokumenten das große Schweigen breitet, versteht sich von selbst. Die Risse im Geschichtsbild der Links“intellektuellen“ werden notdürftig geflickt.
Nun aber zu einem umfangreichen und anspruchsvollen Band, der vielfach als Standardwerk betrachtet wird: „Eine Welt in Waffen“ (Stuttgart 1995) von Gerhard L. Weinberg. Der Autor steht als jüdischer Emigrant dem Nationalsozialismus begreiflicherweise äußerst kritisch gegenüber. Demgemäß neigt das Werk mitunter zur Schwarz-Weiß-Malerei, ja cum grano salis könnte man es als linksliberale Seifenoper empfinden: St. Georg-Roosevelt vernichtet das Tier aus dem Abgrund, den Drachen Hitler. Nichtsdestoweniger schreibt sogar Weinberg, Stalin habe es vorgezogen, „Hitler zu einem Krieg mit den anderen Mächten zu verleiten, indem er ihm Hilfe versprach“ (S. 40). Damit leugnet Weinberg aber die deutsche Alleinschuld und erfüllt so nach Auffassung des genannten Dokumentationsarchivs objektiv den Tatbestand der nationalsozialistischen Wiederbetätigung. Ist es da noch übertrieben, von einem antifaschistischen Veitstanz zu sprechen?
Im übrigen aber erweist sich der Wiederbetätigungs-Delinquent Weinberg als Konformist reinsten Wassers, zugleich jedoch bietet sein „Standardwerk“ das wohl massivste Beispiel für die argumentative Hilflosigkeit der Konformisten. Wenn in den bisher erwähnten Artikeln jede argumentative Auseinandersetzung mit den „Revisionisten“ fehlte, so mag die Kürze dieser Texte dafür eine notdürftige Entschuldigung bieten. Von einem Band mit fast 1200 Seiten müßte man aber mehr erwarten, zumal über Fragen, die für das Gesamtverständnis des Krieges von grundlegender Bedeutung sind. Auf das schon von Lenin 1920 entworfene Szenario des „Zweiten imperialistischen Krieges“ geht Weinberg - wie gehabt - ebensowenig ein wie auf die offensive Kriegsdoktrin, die exzessiven Kriegsvorbereitungen und den weit fortgeschrittenen Aufmarsch der Sowjets, der - mit oder ohne vorhergehenden deutschen Erstschlag - nach Bemessung und Gruppierung der vorgesehenen Kräfte auf eine erfolgversprechende Großoffensive abzielte. Daß der betreffende „Prawda“-Artikel unerwähnt bleibt, ist nur selbstverständlich. Statt dessen wird etwa behauptet, Molotow habe sich ehrlich um ein Abkommen mit Hitler bemüht - nun, wenn man ein Abkommen will, dann tritt man anders auf als der Außenkommissar, der den Deutschen mit brutaler Offenheit bewußt machte, daß sie nur mehr die Wahl hatten, zu kämpfen oder sich zu unterwerfen. Alle diese und andere wichtige Fragen werden auf ein paar Seiten (224-229) und mit ein paar Anmerkungen in oberflächlichster Weise abgetan. Immerhin steht Weinberg dem Sowjetimperialismus nicht ganz mit der Naivität und ideologischen Verblendung gegenüber wie sein Idol Roosevelt - nur daß man es heute, über ein halbes Jahrhundert später, besser wissen müßte.
Ähnlich gelagert ist der Fall eines anderen Matadors der konformistischen „Zeitgeschichte“, des in der Schweiz wirkenden Ungarn Peter Gosztony, dem wir eine höchst aufschlußreiche Rezension des hervorragenden Buches von Joachim Hoffmann: „Stalins Vernichtungskrieg“ verdanken (Neue Zürcher Zeitung v. 28.5.96). Immerhin bestreitet er ebensowenig wie Weinberg die massive Mitschuld Stalins an der Entfesselung des Krieges: „Die kapitalistischen Mächte sollten sich durch ihren gegeneinander geführten Krieg schwächen. Zur rechten Stunde sollte dann die Rote Armee ihre historische, schon von Lenin verordnete Mission zur Befreiung des europäischen Proletariats von seinen Ausbeutern erfüllen.“ Auch der offensive Charakter der sowjetischen Militärdoktrin wird richtig hervorgehoben, doch der offensive Charakter des russischen Aufmarsches diskret verschwiegen. Vielmehr wird behauptet, die Rote Armee sei im Sommer oder Herbst 1941 weit davon entfernt gewesen, „einen Offensivschlag großen Ausmaßes gegen die.. bis zu den Zähnen bewaffnete deutsche Wehrmacht zu führen.“ Nun bestanden auf russischer Seite gewiß erhebliche Mängel, doch solche gab es auch bei den Deutschen. Vielfach mußte infolge der geringen Rüstungsproduktion fremdes Beutematerial an Waffen, Gerät und Fahrzeugen verwendet werden, das zu erheblichem Teil den Anforderungen des Ostkrieges nicht entsprach und zu einer großen Typenvielfalt führte, was auch beträchtliche Auswirkungen auf die Ersatzteil- und Munitionsversorgung hatte. Doch selbst die Heranziehung des Beutematerials konnte nicht verhindern, daß für viele Divisionen die komplette Ausrüstung fehlte, und für einen Winterkrieg war überhaupt nicht vorgesorgt. So bot das Ostheer - nach der Formulierung eines so konformistischen Autors wie R.-D. Müller - „eher das Bild eines ‘Flickenteppichs’ als den in der Nachkriegsliteratur oft kolportierten Eindruck, als habe Hitler... eine gewaltige, einheitlich ausgestattete Militärmacht gegen die UdSSR aufbieten können“ . Hätten die Deutschen nicht angegriffen, so hätte man daraus messerscharf schließen können, die Wehrmacht sei weit davon entfernt gewesen, einen Offensivschlag großen Ausmaßes zu führen.
Doch es wird noch aufschlußreicher. Gosztony behauptet, die Deutschen hätten „nirgendwo Generalstabskarten von Ostpreußen, vom ‘Generalgouvernement’ (Rest-Polen) und von Rumänien vorgefunden“. Bei Hoffmann aber ist unter genauer und detaillierter Quellenangabe zu lesen (S. 45): „Den deutschen Truppen ist an verschiedenen Stellen im grenznahen Bereich, aber auch im tieferen Hinterland Kartenmaterial in die Hände gefallen, das weit nach Westen, in den deutschen Raum, hineinreichte, und ebenso reichhaltige Unterlagen, die über Deutschland aufklärten“. Das wird dann anhand zahlreicher Beispiele im einzelnen belegt. hat Gosztony das Buch nicht bis S. 45 gelesen oder handelt es sich hier um bewußte Desinformation der nicht sachkundigen Öffentlichkeit? Letzteres wird an anderer Stelle wahrscheinlicher: „ Am 5. Mai 1941 sprach Stalin zu den Absolventen der Militärakademie. Die Kurzfassung der Rede ist seit 1992 zugänglich. Hier wird ausdrücklich betont: Der Krieg mit Deutschland ist unvermeidlich. Wir wissen es. Wir sind jedoch derzeit zu schwach. Wir müssen Zeit gewinnen. Wenn wir das Jahr 1941 ohne Krieg überstehen, sehen die Chancen für 1942 besser aus“. Was steht aber wirklich in dem in der Zeitschrift „Osteuropa“ 3/92 veröffentlichten Text? Bisher waren wir noch nicht genügend gerüstet und haben daher eine friedliche Politik verfolgt. „Jetzt aber, da wir unsere Armee umgestaltet haben, sie reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, jetzt, da wir stark geworden sind, jetzt muß man von der Verteidigung zum Angriff übergehen“ (S.260). Den offensiven Inhalt der Stalin-Rede haben auch - unabhängig voneinander - drei gefangene Sowjetoffiziere bestätigt, die an jener Veranstaltung teilgenommen hatten.
Schließlich bleibt als ultima ratio nur mehr der Griff nach dem „braunen Knüppel“: Gosztony hat bei der Lektüre des Buches von Hoffmann mitunter „das Gefühl, daß Hitlers oder Goebbels’ Gedankengut, ein wenig aufgefrischt und frisiert, auferstehe“.
So also sieht die „seriöse Wissenschaft“, die „anerkannte Forschung“ wirklich aus, auf die sich das geistige Unterholz des Konformismus so angelegentlich beruft, da es sich einer argumentativen Auseinandersetzung nicht gewachsen weiß.
Um die russischen Angriffsabsichten zu bestreiten, fanden sich im Februar 1995 in Moskau eine Reihe von Konformisten und Altstalinisten zusammen . Da wurde etwa argumentiert, infolge der bekannten Mängel sei die Rote Armee gar nicht angriffsfähig gewesen - doch erhebliche Mängel gab es auch bei den Deutschen, vor allem aber waren Stalin und die kommunistischen Ideologen nicht ohne Grund von der eigenen Überlegenheit überzeugt. Ferner habe sich Molotow ernstlich um ein Abkommen mit Deutschland bemüht - siehe oben. Auch habe Stalin englische Intrigen gefürchtet - standen aber die Sowjetpanzer am Atlantik, so war das Gespenst einer deutsch-englischen Allianz ein für allemal gebannt. Der sowjetische Aufmarsch sei rein defensiv gewesen - doch sollte er zugleich defensiv und im Sinne eines vernichtenden Gegenschlages auch offensiv sein. Am Schluß die rührende Klage, daß die wichtigsten Dokumente noch immer geheimgehalten werden - nun, würden sie die Behauptungen der Agit-Prop-“Historiker“, der Konformisten und Ideologen bestätigen, so wären sie längst, womöglich im Prachteinband, veröffentlicht worden .
Dagegen hielt am 16. April 1995 die historische Gesellschaft „Memorial“ in Novosibirsk ein Seminar über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ab, wo sich Prof. W.L. Doroschenko unter dem Titel „Stalins Provokation des Zweiten Weltkrieges“ mit der Rede auseinandersetzte, die Stalin am 19. August 1939 vor dem Politbüro und Mitgliedern der Komintern gehalten haben soll, um seine Motive für den beabsichtigten - anscheinend aller kommunistischen Orthodoxie widersprechenden - Paktabschluß mit Hitler zu erläutern: Es gehe darum, Deutschland zum Angriff auf Polen zu ermutigen und so in einen Krieg mit England und Frankreich zu verwickeln, erhebliche territoriale Gewinne in Ostmitteleuropa zu erzielen und eventuell den Kommunismus über ganz Europa auszubreiten. Da aber der Text - kein Protokoll, sondern wahrscheinlich eine aus dem Gedächtnis niedergeschriebene Inhaltsangabe - auf undurchsichtigen Wegen in den Westen gelangt und von dem Pariser Nachrichtenbüro Havas auf Französisch veröffentlicht worden war, wurde seine Echtheit nicht selten angezweifelt . Doroschenko gelangt aber zu dem Ergebnis, daß der Text „ungeachtet aller möglichen Entstellungen Stalin zuzuschreiben ist und als eines der grundlegendsten Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ verstanden werden muß“. Im selben Heft veröffentlicht Frau Dr. Irina Pavlova einen Aufsatz mit dem Titel „Das Suchen nach einem Ausweg aus dem Labyrinth der Lügen“. Offenbar können diese Fragen derzeit in Novosibirsk freier diskutiert werden als bei uns.
Wenn ich versucht habe, den Leser durch ein Stück dieses Labyrinthes zu führen, so liegt mir jede NS-Apologetik meilenfern. Vielmehr bleibe ich bei meiner Verurteilung jener Gewaltherrschaft aus dem Jahre 1942, ja ich muß sie angesichts des seither Geschehenen und Bekanntgewordenen noch verschärfen. Hinzufügen darf ich, daß der geistig selbständige Mensch in einem siegreichen Hitlerdeutschland keine Chance gehabt hätte - hat er es doch auch heute bei uns nicht ganz leicht.
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1) H. Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 43. - Siehe neuerdings auch H. Keuth: „Aufklärung, Recht und Politik“, in: „Geschichte und Gegenwart“ 1/1996, S. 39 ff.
2) Höchstes Prädikat in Österreich
3) Bis dahin vorliegende Unterlagen bei E. Topitsch: Stalins Krieg, Neuauflage Herford 1993. - Seither erschienen W. Maser: Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, München 1994. - V. Suworow: Der Tag M, Stuttgart 1995 - J. Hoffmann: Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, München 1995. - H. Magenheimer: Kriegswenden in Europa 1939-1945, München 1995. - W. Post: Unternehmen Barbarossa. Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940/41, Hamburg-Berlin-Bonn 1995.
4) W. Hofer: Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Darstellung und Dokumente, Düsseldorf (Droste-Taschenbücher Geschichte) 1984, S. 135.
5) W. Churchill: Der Zweite Weltkrieg III/2, Bern, S.114 f.
6) E. Topitsch: Stalins Krieg, Ausg. 1993, S. 170. - Siehe neuerdings auch M. Wehner: „Der letzte Sowjetmythos. Ein russischer Historikerstreit: Die Debatte über Stalins Angriffspläne 1941“, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ v. 10.4.96. Einer der russischen Historiker, Michail Meltjuchow, hat „gezeigt, daß... die Vorbereitungen zum Angriffskrieg in beiden Ländern parallel liefen. Sowohl in der Sowjetunion wie (in Deutschland)."
7) Man vergleiche die kritische Würdigung bei R. Nisbet: Roosevelt und Stalin, Esslingen-München 1991 - Übrigens haben die psychologisch-politischen Aktivitäten Moskaus nach 1989 nicht aufgehört, sondern werden als strategische Desinformation großen Stils fortgeführt, siehe den wichtigen Aufsatz von H. Graf Huyn: „Moskaus großes Spiel“, in: „Criticón“ 149, Januar/Februar/März 1996, S. 33 ff. Bei uns steht man diesen Strategien meist auf einem geistigen Niveau gegenüber, das mit einem harten, Lenin zugeschriebenen Ausdruck als „politischer Kretinismus“ bezeichnet werden könnte.
8) H. Boog u.a. (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. IV, Stuttgart 1983, S.188 f.
9) Die Kongreßakten sind mir bisher noch nicht zugänglich. Ich beziehe mich auf den Bericht von B. Pietrow-Ennker, „Die Zeit“ v. 24. Februar 1995.
10) Eine ausführlichere Behandlung dieser Fragen in einer historischen Fachzeitschrift behalte ich mir vor.
11) Der Text ist in deutscher Sprache abgedruckt bei E. Jäckel: „Über eine angebliche Rede Stalins vom 19. August 1939“, in „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“ IV/1958, S. 380-383. Neuerdings ist der Text auch in einem russischen Geheimarchiv aufgetaucht und hat erneute Diskussionen ausgelöst. In diesem Zusammenhang hat ihn Gabriel Gorodetsky, Professor an der Universität Tel Aviv und heroischer, aber glückloser Verteidiger altstalinistischer Schutzbehauptungen, in der „Welt“ v. 31.8.1996 als Fälschung hinzustellen versucht, die genau am 23. Dezember 1939 durch den französischen Geheimdienst erfolgt sein soll. Dabei hat Stalin persönlich bereits am 30. November in der „Pravda“ den Text als gefälscht zurückgewiesen. Auch ist das geheime Zusatzprotokoll über die Aufteilung Ostmitteleuropas schon am 23. August und nicht erst beim zweiten Besuch Ribbentrops Ende September, wie dies Gorodetsky behauptet, unterschrieben worden. Siehe dazu auch den Leserbrief von Dr. Walter Post in der „Welt“ vom 12.9.1996.