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Hellmut Diwald
Der Friede mit dem nächsten Krieg im Schlepptau:
Der Vertrag von Versailles
>>In seinen „Aprilthesen“ des Jahres 1917 hatte Wladimir Iljitsch Lenin mit der Forderung “Frieden um jeden Preis" tatsächlich dem russischen Volk aus dem Herzen gesprochen. In der ersten These Lenins hieß es: „In unserer Stellung zum Krieg, der seitens Rußlands auch unter der neuen Regierung Lwow und Konsorten, infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung, unbedingt ein räuberischer, imperialistischer Krieg bleibt, sind auch die geringsten Zugeständnisse an die ‚revolutionäre Vaterlandsverteidigung’ unzulässig.“
Nach der geglückten Oktoberrevolution appellierte die sowjetische Regierung am 28. November 1917 an alle kriegführenden Staaten, sofort einen Waffenstillstand abzuschließen. In einem Funkspruch »An die Völker der Kriegführenden«, unterzeichnet von Trotzkij und Lenin, hieß es: "Der Frieden, den wir beantragt haben, soll ein Volksfriede sein. Er soll ein Ehrenfriede des Einverständnisses sein, der jedem Volk die Freiheit seiner wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung sichert. Die Arbeiter- und Bauernrevolution hat schon ihr Friedensprogramm bekanntgegeben.“ Die Entente lehnte ab, die Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei dagegen stimmten zu.
Am 15. Dezember vereinbarten das Deutsche Reich und Rußland den Waffenstillstand. Eine Woche später begannen im Hauptquartier des deutschen Oberkommandos Ost, in Brest-Litowsk an der damaligen polnisch-russischen Grenze am Bug, die Friedensverhandlungen. Gesprächspartner auf deutscher Seite waren der Staatssekretär des Äußeren Richard von Kühlmann und Generalmajor Max Hoffmann, der Bevollmächtigte der Obersten Heeresleitung. Österreich-Ungarn war durch seinen Außenminister Ottokar Graf von Czernin vertreten. Auf der anderen Seite des Tisches saß als Leiter der russischen Friedensdelegation Adolf Abramowitsch Joffe; er wurde im Verlauf der schwierigen Gespräche von Leo Trotzkij, der damals das Außenministerium innehatte, abgelöst, blieb aber Mitglied der Delegation.
Beide Seiten bemühten sich selbstverständlich, die relativ besten Ergebnisse zu erreichen. Die Russen hatten als Verhandlungsbasis vorgeschlagen, sich an die Friedensresolution des Deutschen Reichstages vom Juli 1917 anzulehnen und deshalb von den Grundsätzen auszugehen: Selbstbestimmungsrecht der Völker, Verzicht auf Annexionen und Kriegsentschädigungen, Räumung der besetzten Gebiete. Die Mittelmächte verlangten daraufhin, entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht, die Anerkennung der Unabhängigkeit Polens, der baltischen Staaten und der Ukraine. Die Gespräche, die öffentlich geführt wurden, liefen sich bald fest. Als der Generalstreik in Deutschland, auf den die Bolschewisten große Hoffnungen gesetzt hatten, zusammengebrochen war, bekam die deutsche Friedensdelegation wieder Oberwasser. Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei schlossen am 9. Februar 1918 mit der Ukraine einen Sonderfrieden.
Trotzkij konterte am nächsten Tag: Er betrachte den Kriegszustand als beendet, das russische Heer werde demobilisiert, allerdings komme es für sein Land nicht in Frage, die deutschen Friedensbedingungen anzunehmen. Sprach's und brach die Verhandlungen ab. Am 14. Februar 1918 richtete die Sowjetregierung ein Telegramm an das deutsche Volk: »Rußland erklärt den Krieg mit dem deutschen, österreichischen, bulgarischen und türkischen Volke für beendet. Die Würfel sind gefallen! Die Junker und Kapitalisten der Zentralmächte wollen keinen Frieden mit der proletarischen Regierung schließen. In den wiederaufgenommen Verhandlungen stellte es sich mit unleugbarer Deutlichkeit heraus, daß der Imperialismus der Zentralmächte die von ihm erbeuteten Völker um keinen Preis freigeben will. Die russische Revolution, die auf ihrem Banner unter anderem das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker trägt, kann nicht einen Frieden, der dies Recht schmählich mit Füßen tritt, unterzeichnen."
Dieser Abbruch der Verhandlungen kam dem deutschen Partner nicht ungelegen. Reichskanzler Georg Graf Hertling erklärte am 25. Februar im Reichstag, daß Deutschland durch das Verhalten der russischen Delegation wieder freie Hand hätte: „Der Vormarsch unserer Truppen hatte den Zweck, uns die Früchte des mit der Ukraine geschlossenen Friedens zu sichern; Eroberungstendenzen waren nicht bestimmend. Unterstützt wurden wir durch den Hilferuf der Ukraine, sie in der Ordnung ihres jungen Staatswesens gegen die von den Bolschewiki unternommenen Störungen zu unterstützen. Wenn sich daran weiterhin militärische Operationen auf anderen Gebieten angeschlossen haben, so gilt von ihnen das gleiche. Sie verfolgen schlechterdings keine Eroberungsziele. Sie geschehen ausschließlich auf die eindringlichsten Bitten und Vorstellungen der Bevölkerung hin, sie gegen die Greueltaten und Verwüstungen der Roten Garde zu schützen. Die militärische Aktion im Osten hat aber einen weit über das ursprünglich gesteckte, von mir soeben bezeichnete Ziel hinausgehenden Erfolg gezeitigt."
Der Erfolg bestand in erster Linie darin, daß die Russen wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrten. Trotzkij hatte, als er die Verhandlungen abbrach, versucht, zwischen der Notwendigkeit der Fortführung des Krieges und der Annahme der deutschen Friedensbedingungen eine Art Mittelweg einzuschlagen. Lenin setzte sich jedoch bei den internen Diskussionen gegen 'I'rotzkij durch. Er hielt die Fortsetzung des Krieges weder für zweckmäßig noch für möglich und drang auf Annahme der deutschen Friedensbedingungen; er war davon überzeugt, daß alle Ergebnisse der Oktoberrevolution zuschanden würden, wenn es nicht gelang, den Krieg gegen die Mittelmächte sofort zu beenden, und er rechnete außerdem fest mit dem kurz bevorstehenden Ausbruch einer proletarischen Revolution in Deutschland. Das hätte automatisch die Annullierung des ultimativ erzwungenen Friedensvertrages bedeutet.
Zweierlei Verträge
Am 3. März 1918 unterschrieben die Russen den Frieden von Brest-Litowsk, wenn auch unter Protest. Polen wurde selbständig; die spätere Entwicklung rückt die Tatsache, daß das Deutsche Reich in unserem Jahrhundert den modernen Staat Polen aus der Taufe gehoben und gegründet hat, an den Rand jenes Bereichs, in dem die Treppenwitze der Weltgeschichte zu Hause sind. Auch die Ukraine wurde selbständig, Rußland verzichtete im Baltikum auf Kurland, Livland, Estland und Litauen und räumte die Aalandinseln und Finnland. Beide Seiten sahen von Kriegsentschädigungen ab. Bis zum Abschluß eines Weltfriedens blieb Weißrußland von deutschen 'Truppen besetzt.
Brest-Litowsk war ein Friede, dessen Unterschrift durch Ultimatum erzwungen wurde; er war ein Gewaltfriede. Andererseits kann nicht daran vorbeigesehen werden, daß die Überlegungen der deutschen militärischen Führung vor allem von der Notwendigkeit bestimmt waren, sich im Osten nicht nur den Rücken für die Fortführung des Krieges an den anderen Fronten freizuhalten, sondern auch die Versorgung, soweit möglich, durch Lieferungen aus der Ukraine zu entlasten. Daß diese Absicht nur bedingt gelang, steht auf einem anderen Blatt. Entscheidend aber war, daß sich die Mittelmächte noch immer im Krieg befanden, daß die Notwendigkeiten des Krieges zwingend waren und deshalb in Brest-Litowsk die Federn der Sieger führten.
Das ist der grundlegende Unterschied zwischen dem Frieden von Brest-Litowsk und dem Frieden von Versailles, der im folgenden Jahr unterzeichnet wurde, beide Verträge provozierten immer wieder Vergleiche, wurden auf dieselbe Ebene plaziert, vor allem von denjenigen, welche die Mißhelligkeiten des Vertrages von Versailles dadurch zu rechtfertigen bemüht waren, indem sie den ultimativen Charakter des Gewaltfriedens von Brest-Litowsk ins Spiel brachten. Doch weder ließ sich die Ausgangslage beider Verträge miteinander vergleichen noch die Art der Verhandlungsführung und das Ergebnis. Neu war allenfalls der Versuch, das Unrecht, die geradezu unfaßliche Torheit, die den Siegern in Versailles die Feder führte, dadurch zu rechtfertigen, daß man auf eine ähnliche Torheit der Deutscheu in Brest-Litowsk verwies.
Ende September 1918 mußte sich die deutsche Oberste Heeresleitung, geführt von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und General Erich Ludendorff, eingestehen, daß ein Sieg über die Alliierten nicht mehr möglich sein würde, daß Deutschland mit seinen Kräften am Ende war. Im Westen konnten die deutschen Truppen dem Druck der Gegner nicht mehr standhalten, die Balkanfront war zusammengebrochen, und das Osmanische Reich befand sich genauso in Auflösung wie Österreich-Ungarn. Die Oberste Heeresleitung forderte deshalb die Parlamentarisierung des Reiches und verlangte, daß an die Alliierten sofort ein Waffenstillstands- und Friedensangebot auf der Grundlage der „Vierzehn Punkte" des amerikanischen Präsidenten Wilson zu machen sei.
Prinz Max von Baden, seit dem 3. Oktober 1918 Nachfolger von Graf Hertling als Reichskanzler, richtete am 5. Oktober ein Friedens- und Waffenstillstandsangebot an Präsident Wilson. Er bezog sich dabei auf die Vierzehn Punkte, die Wilson im September erneut als Bedingungen genannt hatte, unter denen mit Deutschland ein Frieden abzuschließen sei. Wilson antwortete am 10. Oktober, er verlangte nochmals eine ausdrückliche Bestätigung, daß das Deutsche Reich die Vierzehn Punkte als Grundlage der Friedensregelung akzeptieren würde. England verlangte allerdings Einschränkungen des Prinzips der Freiheit der Meere (Punkt 2 und 3), und Frankreich beharrte auf Reparationen, obwohl sie Wilson am 11. Februar 1918 durch eine Ergänzung der Vierzehn Punkte ausdrücklich verworfen hatte. Doch Deutschland billigte diese schwerwiegende Einschränkung der Vierzehn Punkte. Am 6. November begannen im Wald von Compiegne die Waffenstillstandsverhandlungen; der vereinbarte Text wurde am 11. November von der deutschen Regierung angenommen.
Der Sache nach stellten diese Abmachungen einen Friedens-Vorvertrag dar. Der amerikanische Staatssekretär Robert Lansing hatte nämlich in einer Note der Reichsregierung die Bereitschaft der Alliierten mitgeteilt, auf der Basis der Vierzehn Punkte den Frieden zu schließen. Die künftigen Verhandlungen sollten lediglich dazu dienen, Einvernehmen in den praktischen Einzelheiten herzustellen. Eben diese Lansingnote stellte einen Vorfriedensvertrag dar, der beide Seiten verpflichtete. Das wurde von den Siegermächten noch einmal in ihrer Mantelnote vom 16. Juni 1919 bestätigt. Diese Tatsache ist deshalb wichtig, weil Deutschland folglich nicht bedingungslos die Waffen gestreckt hatte. Freilich gab es keine Zweifel an dem Handicap, daß durch die allzu eilige Bereitschaft, so schnell wie möglich einen Waffenstillstand abzuschließen, die Schwäche der deutschen Position untunlich drastisch bekundet wurde.
So bestätigten sich auch bald die Befürchtungen jener Politiker, die zur Gelassenheit ermahnt hatten, daß die Alliierten nichts anderes beabsichtigten als eine völlige Kapitulation Deutschlands. Die Auflagen des Waffenstillstands, die akzeptiert werden mußten, machten eine Fortführung des Krieges unmöglich, die unterlegenen Mittelmächte waren von diesem Augenblick an abhängig vom Gutdünken der Sieger. Höchst bedeutsam wurde für die innere Lage Deutschlands, daß die Blockade, die während des Krieges eine Million Deutscher das Leben gekostet hatte, auch nach Unterzeichnung des Waffenstillstands fortgesetzt wurde. Für die Friedenskonferenz selbst, die am 18. Januar 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zusammentraf, lag die Richtung fest durch die Weigerung Frankreichs und Großbritanniens, die Vierzehn Punkte als Grundlage der Friedensregelung anzuerkennen.
»Der Grad unserer Ohnmacht«
Den Vorsitz führte der französische Ministerpräsident George Clemenceau. Die Beratungen dauerten nur wenige Monate, deutsche Gesprächspartner waren nicht zugelassen, sie wurden auch in keiner Form konsultiert. Ursprünglich beabsichtigten die Alliierten, daß der Friedensvertrag mit dem Hauptgegner Deutschlands das Kernstück eines allgemeinen Weltfriedens bilden sollte. Im April berichtete der deutsche Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau der Weimarer Nationalversammlung, welche Ergebnisse die Beratungen in Versailles haben würden und was Deutschland zu erwarten habe. Daraufhin beschlossen die Abgeordneten einen Antrag, in dem sie es ablehnten, einem Gewaltfrieden dieser Art zuzustimmen.
In Versailles beschloß man am 18. April, eine deutsche Delegation zu zitieren, geführt von Brockdorff-Rantzau. Clemenceau überreichte den angereisten Herren am 7. Mai den Textentwurf des Friedensvertrages. Der deutsche Außenminister, der die Artikel bereits kannte, stellte in einer längeren Rede unter anderem fest: „Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir kennen die Macht des Hasses, der uns hier entgegentritt. Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die allein Schuldigen am Kriege bekennen. Ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, daß es zu diesem Weltkrieg kam und daß er so geführt wurde, von Deutschland abzuwälzen. Aber wir bestreiten nachdrücklich, daß Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet wird. Das deutsche Volk ist innerlich bereit, sich mit seinem schweren Los abzufinden, wenn an den vereinbarten Grundlagen des Friedens nicht gerüttelt wird. Ein Friede, der nicht im Namen des Rechts vor der Welt verteidigt werden kann, würde immer nur Widerstände gegen sich aufrufen. Niemand wäre in der Lage, ihn mit gutem Gewissen zu unterzeichnen, denn er wäre unerfüllbar. Niemand könnte für seine Ausführung die Gewähr, die in der Unterschrift liegen soll, übernehmen.“
Der deutsche Außenminister war ohne Einschränkungen davon überzeugt, daß dieser der deutschen Regierung unterbreitete Entwurf eines Friedensvertrages in schroffstem Widerspruch mit der vereinbarten Grundlage für einen dauernden Rechtsfrieden steht. „Nahezu keine einzige Bestimmung des Vertragsentwurfs entspricht den vereinbarten Bedingungen, und der Entwurf fordert in territorialer Hinsicht die Annexion rein deutschen Gebietes und die Unterdrückung des deutschen Volkstums. Er bringt die völlige Vernichtung des deutschen Wirtschaftslebens. Er führt das deutsche Volk in eine in der Weltgeschichte bisher nicht gekannte finanzielle Sklaverei. Die Verwirklichung dieses Vertragsentwurfs würde für die ganze Welt ein neues Unglück bedeuten.“ Als die deutsche Antwortnote vor der endgültigen Fertigstellung des Vertrages überreicht und nochmals um eine Frist für Beratungen gebeten wurde - vor allem wegen der Artikel, daß das deutsche Volk Urheber des Krieges sei und die sogenannten Kriegsverbrecher ausgeliefert werden sollten -, lehnte Clemenceau brüsk ab: „Die Zeit der Erörterungen ist vorbei." Er forderte ultimativ von den Deutschen, den Vertrag in seiner bestehenden Formulierung innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu unterzeichnen.
Graf Brockdorff-Rantzau empfahl der deutschen Nationalversammlung, das Ultimatum der Sieger vom 16. Juni abzulehnen. In dem Ultimatum konnte man unter anderem lesen: „Der Ausbruch des Krieges ist nicht auf einen plötzlichen Entschluß, der in einer schweren Krisis gefaßt ist, zurückzuführen. Er war das logische Ergebnis einer Politik, die seit Jahrzehnten von Deutschland unter dem Einfluß des preußischen Systems verfolgt wurde. Die ganze Geschichte Preußens ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert. Deutschland ist unter dem Einfluß Preußens die Vorkämpferin der Macht und der Gewalt, der Täuschung, der Intrige und der Grausamkeit in der Behandlung der internationalen Angelegenheiten gewesen.“ Als das Kabinett der Empfehlung Brockdorff-Rantzaus nicht folgte, trat der Außenminister am 20. Juni ans Protest zurück. Das Schuldproblem wurde von den Siegern noch einmal in der Mantelnote vom 16. Juni 1919 zusammengefaßt. Sie lag dem Ultimatum bei, das Deutschland dazu zwang, den Friedensvertrag zu unterschreiben:
AUS DER MANTELNOTE ZUM VERSAILLER VERTRAG
I.
Nach der Anschauung der Alliierten und Assoziierten Mächte ist der Krieg, der am 1. August 1914 zum Ausbruch gekommen ist, das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker gewesen, welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein begangen hat. Während langer Jahre haben die Regierenden Deutschlands getreu der preußischen Tradition die Vorherrschaft in Europa angestrebt. Sie haben sich nicht mit dem wachsenden Gedeihen und Einfluß begnügt, nach welchen zu streben Deutschland berechtigt war und welche alle übrigen Nationen bereit waren, ihm in der Gesellschaft der freien und gleichen Völker zuzugestehen. Sie haben getrachtet, sich dazu fähig zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren, so wie sie ein unterjochtes Deutschland beherrschten und tyrannisierten. Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie durch alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ihren Untertanen die Lehre eingeschärft, in internationalen Angelegenheiten sei Gewalt Recht. Niemals haben sie davon abgelassen, die Rüstungen Deutschlands zu Wasser und zu Lande auszudehnen und die lügnerische Behauptung zu verbreiten, eine solche Politik sei nötig, weil Deutschlands Nachbarn auf sein Gedeihen und seine Macht eifersüchtig seien. Sie sind bestrebt gewesen, zwischen den Nationen an Stelle der Freundschaft Feindschaft und Argwohn zu säen. Sie haben ein System der Spionage und Intrigen entwickelt, welches ihnen gestattet hat, auf dem Gebiet ihrer Nachbarn Unruhen und innere Revolten zur erregen und sogar geheime Offensivvorbereitungen zu treffen, um sie im gegebenen Augenblick mit größerer Sicherheit und Leichtigkeit zerschmettern zu können. Sie haben durch Gewaltandrohungen Europa in einem Zustande der Gärung erhalten, und als sie festgestellt hatten, daß ihre Nachbarn entschlossen waren, ihren anmaßenden Plänen Widerstand zu leisten, da haben sie beschlossen, ihre Vorherrschaft mit Gewalt zu begründen.
Sobald ihre Vorbereitungen beendet waren, haben sie einen in Abhängigkeit gehaltenen Bundesgenossen dazu ermuntert, Serbien innerhalb achtundvierzig Stunden den Krieg zu erklären. Von diesem Kriege, dessen Spieleinsatz die Kontrolle über den Balkan war, wußten sie recht wohl, er könne nicht lokalisiert werden und würde den allgemeinen Krieg entfesseln. Um diesen allgemeinen Krieg doppelt sicher zu machen, haben sie sich jedem Versuche der Versöhnung und der Beratung entzogen, bis es zu spät war; und der Weltkrieg ist unvermeidlich geworden, jener Weltkrieg, den sie angezettelt hatten, und für den Deutschland allein unter den Nationen vollständig ausgerüstet und vorbereitet war.
Indessen beschränkt sich die Verantwortlichkeit Deutschlands nicht auf die Tatsache, den Krieg gewollt und entfesselt zu haben. Deutschland ist in gleicher Weise für die rohe und unmenschliche Art, auf die er geführt worden ist, verantwortlich.
Obwohl Deutschland selber einer der Bürgen Belgiens war, haben seine Regierenden die Neutralität dieses durch und durch friedlichen Volkes, nachdem sie ihre Respektierung feierlich versprochen hatten, verletzt. Damit nicht zufrieden, sind sie mit kühler Überlegung zu einer Reihe von Hinrichtungen und Brandstiftungen geschritten, mit der einzigen Absicht, die Bevölkerung zu terrorisieren und sie eben durch die Schrecklichkeit ihrer Handlungen zu bändigen.
Die Deutschen sind es, welche als erste die giftigen Gase benutzt haben, trotz der fürchterlichen Leiden, die sich daraus ergeben mußten. Sie sind es, welche mit den Bombardements durch Flieger und der Beschießung von Städten auf weite Entfernung ohne militärische Gründe den Anfang gemacht haben, mit dem alIeinigen Ziel vor Augen, die seelische Widerstandskraft ihrer Gegner, dadurch, daß sie die Frauen und Kinder trafen, zu vermindern. Sie sind es, die den Unterseebootkrieg begonnen haben, eine Herausforderung von Seeräubern an das Völkerrecht, indem sie so eine große Anzahl von unschuldigen Passagieren und Seeleuten mitten auf dem Ozean, weit entfernt von jeder Hilfsmöglichkeit, auf Gnade und Barmherzigkeit den Winden und Wogen und, was noch schlimmer ist, den Besatzungen ihrer Unterseeboote ausgeliefert, dem Tode überantwortet haben. Sie sind es, die mit brutaler Roheit Tausende von Männern und Frauen und Kindern nach fremden Ländern in die Sklaverei verschleppt haben. Sie sind es, die sich hinsichtlich der Kriegsgefangenen, welche sie gemacht hatten, eine barbarische Behandlung erlaubt haben, vor welcher die Völler unterster Kulturstufe zurückgeschreckt wären.
Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Die schreckliche Verantwortlichkeit, die auf ihm lastet, läßt sich in der Tatsache zusammenfassen und zum Ausdruck bringen, daß wenigstens sieben Millionen Tote in Europa begraben liegen, während mehr als zwanzig Millionen Lebende durch ihre Wunden und ihre Leiden von der Tatsache Zeugnis ablegen, daß Deutschland durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei hat befriedigen wollen.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte halten dafür, daß sie denen, die alles dahingegeben haben, um die Freiheit der Welt zu retten, nicht gerecht werden würden, wenn sie sich damit abfinden würden, in diesem Kriege kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Recht zu erblicken.
Die Gerechtigkeit ist also die einzige mögliche Grundlage für die Abrechnung dieses fürchterlichen Krieges. Gerechtigkeit ist das, was die Deutsche Delegation verlangt, und das, von dem diese Delegation erklärt, man habe es Deutschland versprochen. Gerechtigkeit soll Deutschland werden. Aber es muß eine Gerechtigkeit für alle sein. Es muß die Gerechtigkeit für die Toten sein, für die Verwundeten, für die Waisenkinder, für alle, die in Trauer sind, auf daß Europa von dem preußischen Despotismus erlöst werde. Gerechtigkeit muß den Völkern zuteil werden, welche heute unter einer Last von Kriegsschulden, die sich auf mehr als dreißig Milliarden Pfund Sterling beziffern und die sie zur Wahrung der Freiheit auf sich genommen haben, fast zusammenbrachen. Gerechtigkeit muß den Millionen menschlicher Wesen zuteil werden, deren Haus und Herd, deren Grundbesitz, deren Fahrzeuge und deren Eigentum die deutsche Roheit geplündert und zerstört hat.
Deshalb haben die Alliierten und Assoziierten Mächte nachdrücklichst erklärt, Deutschland müsse als grundlegende Bedingung des Vertrages ein Werk der Wiedergutmachung bis zur äußersten Grenze seiner Fähigkeit unternehmen, ist doch die Wiedergutmachung des Unrechts, das man verursacht hat, das eigentlichste Wesen der Gerechtigkeit.
Deshalb bestehen sie darauf, daß diejenigen Persönlichkeiten, welche am offensichtlichsten für den deutschen Angriff sowie für die Handlungen der Barbarei und der Unmenschlichkeit, die von deutscher Seite die Kriegsführung geschändet haben, verantwortlich sind, einer Gerechtigkeit überantwortet werden, die sie bisher in ihrem eigenen Lande nicht ereilt hat. Deswegen auch muß Deutschland sich auf einige Jahre gewissen Beschränkungen und gewissen Sonderanordnungen unterwerfen.
Deutschland hat die Industrien, die Bergwerke und die Fabriken der ihm benachbarten Länder ruiniert. Es hat sie nicht während des Kampfes zerstört, sondern in der wohlüberlegten und erwogenen Absicht, seiner eigenen Industrie zu ermöglichen, sich der Märkte jener Länder zu bemächtigen, bevor ihre Industrie sich von der Verwüstung, die es ihnen in frivoler Weise zugefügt hatte, sich wieder hat erholen können. Deutschland hat seine Nachbarn all dessen beraubt, was es nutzbar machen oder fortschleppen konnte. Es hat die Schiffe aller Nationen auf hoher See zerstört, da, wo es für die Passagiere und Besatzungen keine Rettungsaussicht gab. Es ist nur gerecht, daß Ersatz geleistet wird und daß die so mißhandelten Völker einige Zeit gegen die Konkurrenz einer Nation geschützt werden, deren Industrien intakt sind, ja sogar durch die in den besetzten Gebieten gestohlenen Ausrüstungsgegenstände eine Stärkung erfahren haben. Wenn dies harte Prüfungen für Deutschland sind, so ist es Deutschland selber, welches sie sich zugezogen hat. Einer muß unter den Folgen des Krieges leiden. Wer soll leiden? Deutschland oder nur die Völker, denen Deutschland Böses zugefügt hat?
Allen denen, die ein Recht auf Gerechtigkeit haben, sie nicht widerfahren zu lassen, das hieße, die Welt neuem Unheil ausgesetzt lassen. Wenn das deutsche Volk selber oder irgendeine andere Nation davon abwendig gemacht werden soll, den Spuren Preußens zu folgen, wenn die Menschheit von der Überzeugung befreit werden soll, ein Krieg für selbstsüchtige Ziele sei jedem Staat erlaubt, wenn die alten Ideen in die Vergangenheit verwiesen werden sollen, und wenn die Nationen wie die Einzelwesen sich unter die Herrschaft des Gesetzes schicken lassen sollen, ja, wenn sogar in einer nahen Zukunft die Rede von Versöhnung und Beruhigung sein soll, so wird das geschehen, weil diejenigen, welche die Verantwortung für den Friedensschluß tragen, den Mut gehabt haben, darüber zu wachen, daß der Gerechtigkeit keine Gewalt angetan werde wegen des bloßen Vorteils eines bequemen Friedens.
II.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte glauben demnach, daß der Friede, den sie vorgeschlagen haben, seinem Grundwesen nach ein Rechtsfriede ist. Sie sind nicht weniger gewiß, daß es ein Frieden des Rechtes ist, in Gemäßheit der im Augenblick des Waffenstillstandes anerkannten Grundsätze. Man kann wohl nicht an der Absicht der Alliierten und Assoziierten Mächte zweifeln, zur Grundlage der europäischen Ordnung das Prinzip zu machen, die unterdrückten Völker zu befreien und die nationalen Grenzen soweit wie möglich gemäß dem Willen der in Frage kommenden Völker neu zu ziehen, indem sie zu gleicher Zeit jedem Volke alle Erleichterungen zuteil werden lassen, um in völkischer und wirtschaftlicher Beziehung ein unabhängiges Leben zu führen.
In Anwendung dieser Grundsätze haben die Alliierten und Assoziierten Mächte Bestimmungen getroffen, um Polen als unabhängigen Staat wiederherzustellen, mit „einem freien und sicheren Zugang zum Meere“. Alle die »von unzweifelhaft polnischen Bevölkerungen bewohnten Gebiete« sind Polen zuerkannt worden. Alle von einer deutschen Mehrheit bewohnten Gebiete sind, abgesehen von einigen vereinzelten Städten und von auf vor kurzem gewaltsam enteigneten Landgütern gegründeten und inmitten unzweifelhaft polnischer Landstriche gelegenen Ansiedlungen, Deutschland belassen worden. Überall, wo der Wille des Volkes zweifelhaft ist, ist eine Volksabstimmung vorgesehen worden. Die Stadt Danzig soll die Verfassung einer Freistadt erhalten; ihre Einwohner sollen autonom sein; sie sollen nicht unter die Herrschaft Polens kommen und werden keinen Teil des polnischen Staates bilden. Polen soll gewisse wirtschaftliche Rechte in Danzig bekommen; die Stadt selber ist von Deutschland abgetrennt worden, weil es kein anderes mögliches Mittel gab, ihr jenen „freien und sicheren Zugang zum Meere“ zu verschaffen, welchen Deutschland abzutreten versprochen hatte. Das von den Alliierten und Assoziierten Mächten für das Saarbecken vorgeschlagene Regime soll 15 Jahre dauern. Die Mächte haben diese Regelung für erforderlich gehalten, sowohl mit Rücksicht auf den allgemeinen Plan der Wiedergutmachung als auch, um Frankreich sofortige und gewisse Entschädigung für die willkürliche Zerstörung seiner im Norden gelegenen Kohlenminen zu sichern. Das Gebiet ist nicht unter französische Oberhoheit gestellt worden, sondern unter die Kontrolle des Völkerbundes. Diese Regelungsweise hat den zweifachen Vorteil, daß hierdurch keine Annexion vollzogen wird, während sie gleichzeitig den Besitz der Kohlenfelder an Frankreich überträgt und die wirtschaftliche Einheit des Gebietes aufrechterhält, welche für die Interessen der Einwohner von solcher Wichtigkeit ist. Nach Ablauf der 15 Jahre wird die gemischte Bevölkerung, welche in der Zwischenzeit ihre eigenen örtlichen Angelegenheiten unter der regierenden Aufsicht des Völkerbundes geregelt haben wird, volle Freiheit haben, um darüber zu entscheiden, ob sie die Vereinigung mit Deutschland oder die Vereinigung mit Frankreich oder die Fortsetzung des durch den Vertrag begründeten Regimes vorzieht.
Endlich haben die Alliierten und Assoziierten Mächte sich davon überzeugen können, daß die eingeborenen Bevölkerungen der deutschen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, daß sie wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden, und die Geschichte dieser deutschen Oberherrschaft, die Traditionen der Deutschen Regierung und die Art und Weise, in welcher diese Kolonien verwandt wurden als Ausgangspunkte für Raubzüge auf den Handel der Erde, machen es den Alliierten und Assoziierten Mächten unmöglich, Deutschland die Kolonien zurückzugeben oder dem Deutschen Reiche die Verantwortung für die Ausbildung und Erziehung der Bevölkerung anzuvertrauen.
III.
In Verbindung mit der Regelung der territorialen Fragen stehen die Vorschläge hinsichtlich internationaler Kontrolle der Flüsse. Es entspricht genau der vereinbarten Friedensgrundlage und dem anerkannten öffentlichen Rechte Europas, daß Binnenstaaten ein sicherer Zugang zum Meere auf den durch ihr Gebiet fließenden schiffbaren Flüssen zusteht. Die Alliierten und Assoziierten Mächte sind der Ansicht, daß die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen für das freie Leben der jetzt neu begründeten Binnenstaaten unentbehrlich sind und keine Schmälerung der Rechte der übrigen Uferstaaten darstellen. Von dem Gesichtspunkte der überholten Lehre aus betrachtet, daß jeder Staat sich in einem Verzweiflungskampfe befindet um die Oberherrschaft über seine Nachbarn, erscheint ohne Zweifel eine solche Regelung als geeignet, den Angreifer an der gewaltsamen Erdrosselung seines Gegners zu verhindern. Wenn es aber das ideale Ziel ist, daß die Völker auf der Bahn des Handels und des Friedens gemeinsam vorgehen sollen, so ist diese Regelung natürlich und gerecht.
IV.
Die Deutsche Delegation hat offenbar die wirtschaftlichen und finanziellen Bestimmungen in erheblichen Punkten falsch verstanden. Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben keinerlei Absicht, Deutschland zu erdrosseln oder daran zu hindern, den ihm zukommenden Platz im Welthandel einzunehmen. Wenn Deutschland den Friedensvertrag hält und jene aggressiven und selbstsüchtigen Tendenzen aufgibt, die ebenso in seiner geschäftlichen wie auch in seiner politischen Handlungsweise zutage getreten sind, so haben die Alliierten und Assoziierten Mächte die Absicht, daß Deutschland gerecht behandelt werden soll hinsichtlich des Bezuges von Rohstoffen und des Absatzes von Waren, beschränkt nur durch die bereits erwähnten Übergangsvorschriften, welche im Interesse der von Deutschland ausgeplünderten und geschwächten Völker erlassen sind. Sie wünschen, daß die durch den Krieg wachgerufenen Leidenschaften möglichst bald aussterben sollen, und daß alle Nationen Anteil haben sollten an dem Wohlstande, der sich aus der ehrlichen Versorgung der gegenseitigen Bedürfnisse entwickelt. Sie wünschen, daß Deutschland diesen Wohlstand genießen soll ebenso wie die anderen Völker, obgleich viele der daraus gewonnen Früchte notwendigerweise auf viele Jahre hinaus verwandt werden müssen zur Wiedergutmachung der an den Nachbarn begangenen Schäden. Um an dieser ihrer Absicht keinen Zweifel bestehen zu lassen, sind eine Anzahl Veränderungen in den finanziellen und wirtschaftlichen Bedingungen des Vertrages gemacht worden. Aber die Grundsätze, auf denen der Vertrag aufgebaut ist, müssen bestehen bleiben.
V.
Die Deutsche Delegation hat die Vorschläge des Vertrages hinsichtlich der Wiedergutmachung in erheblichem Maße falsch verstanden.
Nach diesen Vorschlägen ist die von Deutschland zu zahlende Summe auf dasjenige beschränkt, was nach den Bedingungen des Waffenstillstandes über den der Zivilbevölkerung der Alliierten Staaten durch deutschen Angriff verursachten Schaden zweifelsfrei gerechtfertigt ist. Sie bedingen nicht einen solchen Eingriff in die inneren Verhältnisse Deutschlands von seiten der Reparationskommission, wie von der Gegenseite behauptet worden ist.
Sie verfolgen das Ziel, die Zahlung der Reparationen, die von Deutschland geschuldet werden, so leicht und angenehm als möglich für beide Teile zu gestalten, und werden auch in diesem Sinne ausgelegt werden. Die Alliierten und Assoziierten Mächte sind daher nicht geneigt, Änderungen an ihnen vorzunehmen.
VI.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben dem Antrage der Deutschen Delegation, Deutschland sofort in den Völkerbund aufzunehmen, sorgfältige Beachtung zuteil werden lassen. Sie sind jedoch nicht in der Lage, diesem Antrage stattzugeben.
Die deutsche Revolution ist bis auf die letzten Augenblicke des Krieges verschoben worden, und es besteht bisher keine Gewähr dafür, daß die durch sie vollzogene Änderung einen dauernden Zustand darstellt.
Mit Rücksicht auf die gegenwärtige Stimmung unter den Völkern der Welt ist es nicht möglich, zu erwarten, daß die freien Völker der Erde sich sofort in gleichberechtigter Gemeinschaft mit jenen zusammen niederlassen, von denen sie so schweres Unrecht erlitten haben. Diesen Schritt in einem zu frühen Zeitpunkt zu versuchen, würde heißen, den Prozeß der Versöhnung, den alle wünschen, aufzuhalten anstatt zu fördern.
Aber die Alliierten und Assoziierten Mächte glauben, daß, wenn das deutsche Volk durch Handlungen beweist, daß es die Absicht hat, die Friedensbedingungen zu erfüllen, und daß es jene aggressive und trennende Politik, welche den Krieg herbeiführte, aufgegeben hat, und daß es nunmehr ein Volk geworden ist, mit dem man in nachbarlicher Kameradschaft leben kann, dann die Erinnerungen der vergangenen Jahre bald entschwinden werden und es möglich sein wird, bald den Völkerbund durch die Aufnahme von Deutschland zu vervollständigen. Es ist die aufrichtige Hoffnung der Alliierten und Assoziierten Mächte, daß dies der Fall sein möge. Sie glauben, daß die Aussichten für die Zukunft der Welt abhängen werden von der freundschaftlichen und engen Zusammenarbeit aller Völker in der Regelung internationaler Fragen und in der Förderung des Wohlstandes und des Fortschrittes der Menschheit. Der frühe Eintritt Deutschlands in den Bund muß jedoch in der Hauptsache abhängen von der Haltung des deutschen Volkes selber.
VII.
In ihren Erörterungen über die wirtschaftlichen Fragen und auch an anderen Stellen hat die Deutsche Delegation die von den Alliierten und Assoziierten Mächten angewandte Blockade wiederholt verurteilt. Die Blockade ist und war immer eine rechtmäßige und anerkannte Kriegsmaßnahme; ihre Anwendung ist von Zeit zu Zeit den veränderten Verhältnissen im internationalen Verkehrswesen angepaßt worden.
Wenn die Alliierten und Assoziierten Mächte Deutschland gegenüber eine Blockade von besonderer Strenge angewandt haben, welche sie in konsequenter Weise den Grundsätzen des Völkerrechtes anzupassen suchten, so geschah dies wegen des verbrecherischen Charakters des von Deutschland angefangenen Krieges und wegen der barbarischen Methode, welche Deutschland in der Durchführung dieses Krieges angewandt hat.
VIII.
Zum Schluß müssen die Alliierten und Assoziierten Mächte es offen aussprechen, daß dieser Brief und die angeschlossene Denkschrift ihr letztes Wort in der Angelegenheit darstellen.
Sie haben die deutschen Bemerkungen und Gegenvorschläge mit ernster Aufmerksamkeit und Sorgfalt durchgeprüft. Sie haben in Verfolg dieser Prüfung wichtige praktische Konzessionen gemacht, sie müssen jedoch die Grundsätze des Vertrages aufrechterhalten.
Sie sind der Ansicht, daß dieser Vertrag nicht nur eine gerechte Erledigung dieses großen Krieges darstellt, sondern daß er auch die Grundlage schafft, auf der die Völker Europas in Freundschaft und Gleichheit zusammen leben können. Es schafft aber auch gleichzeitig den Apparat für die friedliche Erledigung aller völkerrechtlichen Fragen durch Aussprache und Übereinstimmung, wodurch die im Jahre 1919 geschaffene Regelung selber von Zeit zu Zeit abgeändert werden und neuen Ereignissen und neu entstehenden Verhältnissen angepaßt werden kann.
Er ist, wie offen ausgesprochen werden kann, nicht gegründet auf einer allgemeinen Entschuldigung der Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918. Wäre das der Fall, so wäre kein Rechtsfrieden geschaffen. Der Vertrag stellt jedoch einen ehrlichen und bewußten Versuch dar, »jene Herrschaft des Rechts, gegründet auf der Übereinstimmung der Regierten und erhalten durch die organisierte öffentliche Meinung der Menschheit«, zu schaffen, welche als Grundlage des Friedens vereinbart wurde.
In diesem Sinne muß der Friede in seiner jetzigen Gestalt entweder angenommen oder abgelehnt werden.
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(Diwald:)
Der Vertrag von Versailles wurde auf Betreiben Clemenceaus am 28. Juni 1919, einem Samstag, unterzeichnet. Fünf Jahre zuvor waren am 28. Juni Erzherzog Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo ermordet worden. Wegen des rücksichtslosen Einsatzes Clemenceaus in den beiden letzten Kriegsjahren hatte er den Ehrennamen „Pere de la Victoire“ erhalten, und dank seiner führenden Rolle in Versailles wurde der Vertrag auch „Clemenceau-Friede“ genannt. In der Zeit der Weimarer Republik erhielt er den treffenderen Namen »Diktatfriede«, weil seinen Bestimmungen das maßgebende Moment von Verträgen zwischen Staaten fehlte, nämlich die rechtliche Grundlage: die Prinzipien der „freien Übereinkunft" und von »Treu und Glauben«. Die Bestimmungen von Verträgen müssen ihrer Natur nach einvernehmliche Regelungen darstellen. Das Vertragsprinzip ist auf den Gedanken der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung gegründet. Von einem „Diktatfrieden" hatte schon 1919 Außenminister Robert Lansing gesprochen.
Der Vertrag bestand aus vierhundertvierzig Artikeln. Seinem Umfang nach war er einer der ausführlichsten Verträge der Geschichte - ein sowohl politisch engstirniges als auch in seiner Detailfreude mehr als fatales Buch. So wurde im Artikel 246 bestimmt, daß Deutschland den Schädel des Sultans von Makatja der britischen Regierung zu übergeben habe. Artikel 268 regelte die zollfreie Ein- und Ausfuhr von Kurzwaren, Zwirn etc. nach Elsaß-Lothringen, Artikel 282,16 ordnete den Gebrauch von weißem Phosphor in der Streichholzfabrikation. Die territoriale Abtretungen bedeuteten eine gewaltige Verstümmelung des Reiches. Deutschland wurde ein Achtel seines Gebietes beraubt und verlor mit sieben Millionen Einwohnern ein Zehntel seiner Bevölkerung. Die wiederholt einstimmig gefaßt Forderung der Nationalversammlung in Wien, gemäß dem Selbstbestimmungs- recht Deutsch-Österreich einschließlich der Sudetengebiete mit Deutschland zu vereinen, wurde abgelehnt, der Anschluß in Artikel 80 ausdrücklich verboten. Sämtliche Kolonien wurden enteignet und der Aufsicht des Völkerbundes unter stellt.
Deutschland wurde entwaffnet, die Wehrpflicht aufgehoben, das Heer auf hunderttausend Berufssoldaten beschränkt. Es handelte sich mehr um eine Polizei truppe als um eine Armee. Der Generalstab wurde aufgelöst, schwere Geschütze, Luftwaffe, Panzer und U-Boote waren verboten. Deutschland verlor seine gesamte Handelsflotte, soweit die Schiffe mehr als sechzehnhundert Bruttoregistertonnen überstiegen und die Hälfte derjenigen Schiffe, deren Größe zwischen tausend und tausendsechshundert Bruttoregistertonnen betrugen. Daß nicht auch die zivile Luftfahrt verboten wurde, war nur dem Einspruch der Amerikaner zu verdanken. Die Reparationen schließlich, die mit dem berüchtigten Schuldartikel 231 der Versailler Bestimmungen gerechtfertigt wurden, bedeuteten zunächst eine nahezu komplette Zerstörung der deutschen Wirtschaft. Über die Gesamtsumme wurde erst 1921 entschieden. Zunächst wurde eine Abschlagszahlung von zwanzig Milliarden Goldmark gefordert, später wurde der Betrag um weitere achtzig Milliarden erhöht. Wenn es bei diesen Schuldzahlungen, in deren Dienst das gesamte Wirtschaftsleben Deutschlands gestellt werden sollte, geblieben wäre, hätte die letzte Zahlung erst in unserer Zeit, nämlich 1987, überwiesen werden müssen.
Der Versailler Vertrag wurde zur unverrückbaren Grundlage der Weimarer Republik, der ersten Republik in der Geschichte der Deutschen. Damit erhielten alle, deren Ziel eine Gesellschaftsordnung demokratischen Zuschnitts gewesen war, eine Hypothek auferlegt, die kaum drückender auszudenken gewesen wäre. Der Vertrag von Versailles war nämlich der Weimarer Reichsverfassung übergeordnet, seine Bestimmungen wurden also durch die Verfassung nicht berührt. Kein Dokument der deutschen Geschichte, ausgenommen möglicherweise der Westfälische Friede des Jahres 1648, griff tiefer in die politische Wirklichkeit der Deutschen ein.
Die immer wieder bis heute neu aufgegriffene und überaus berechtigte Frage, warum und woran die Weimarer Republik gescheitert sei, läßt sich anhand ihrer eigenen Bedingungen und Belastungen und aus den Krisen, die unmittelbar mit dem Vertrag von Versailles zusammenhingen, schlüssiger beantworten als durch scheinbar noch so überzeugende Nachweise von der Art: Die Deutschen seien nicht reif zur Demokratie gewesen; sie neigten erbbedingt zur Diktatur; sie seien von Grund auf antidemokratisch; sie seien nicht disponiert zu mündigen Bürgern und ähnlich kurzbeinige Argumente mehr. Die Rückwirkungen der äußeren Verhältnisse eines Staates auf seine inneren Zustände sind der Weimarer Republik zum Schicksal geworden. Das Trauma dieser fünfzehn Jahre zwischen Kriegsende und 1933 wurde nicht durch den Verlust des Ersten Weltkrieges geschaffen. Es entstand dadurch, daß man Deutschland im Jahre 1919 seine staatliche Würde und den Deutschen ihre moralische Integrität abgesprochen hatte. Die Parlamentarisierung und Demokratisierung trat für die Deutschen 1918/19 in Erscheinung als eine radikale Verstümmelung demokratischer Prinzipien durch die Regierungen derjenigen Völker, die bis dahin als Protagonisten des Parlamentarismus und der Demokratie gegolten hatten.
In diesem Sinne stellte Thomas Mann 1930 in seiner „Deutschen Ansprache“ fest: »Der Versailler Vertrag war ein Instrument, dessen Absichten dahin gingen, die Lebenskraft eines europäischen Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten; und dieses Instrument als die Magna Charta Europas zu betrachten, auf der alle historische Zukunft aufbauen müsse, war ein Gedanke, der dem Leben und der Natur zuwiderlief.« <<
(Quelle: Hellmut Diwald, Die Großen Ereignisse - Fünf Jahrtausende Weltgeschichte in Darstellungen und Dokumenten, Exklusiv-Ausgabe des Hauses Coron, Lachen am Zürichsee 1990/91, 6 Bände, hier Bd. 6, S. 186 - 207)