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Der KANUN

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New PostErstellt: 11.03.08, 21:55  Betreff: Der KANUN  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen

Der Kanun

Das albanische Gewohnheitsrecht

nach dem sogenannten Kanun

des Lekë Dukagjini

kodifiziert von Shtjefën Gjeçovi,

ins Deutsche übersetzt von Marie Amelie Freiin von Godin

und mit einer Einführung von Michael Schmidt-Neke

herausgegeben mit Vorwort und Bibliographie

von Robert Elsie

iii

Vorwort

Der

Dukagjinit, stellt die bekannteste Zusammentragung des

albanischen Gewohnheitsrechtes dar. Dieses ursprünglich

ungeschriebene Rechtssystem bestimmte die wesentlichsten

Aspekte des Sozialverhaltens in den abgelegenen und sonst

gesetzlosen Gegenden Nordalbaniens. Es wird seit Jahrhunderten

in vielen Landteilen des Nordens eingehalten, auch heute noch.

Das Kernland des Kanun ist Dukagjin, d. h. das Hochland von

Lezha, Mirdita, Shala, Shoshi und Nikaj-Merturi, sowie die

Dukagjin-Ebene im heutigen westlichen Kosova. Lekë Dukagjini

(1410-1481), nach dem der Kanun genannt wird, bleibt eine

wenig bekannte, schleierhafte Person, die ein Fürst und

Weggefährte des albanischen Nationalhelden Skanderbegs (1405-

1468) gewesen sein soll. Ob er den Kanun zusammenstellte oder

ihm lediglich seinen Namen gab, ist nicht zu ermitteln.

Der Kanun wurde von den Stämmen des Nordens streng

beachtet und hatte Vorrang vor anderen Rechtssystemen, seien sie

staatlicher oder kirchlicher Art, die man im Laufe der Zeit im

Hochland zur Geltung zu bringen versuchte. Er stellte sowohl eine

Ergänzung wie öfter auch ein Konkurrenzrecht zum staatlichen

Rechtssystem dar. Mit Hilfe dieses alten Systems konnten die

Gebirgsstämme auch während der fünf Jahrhunderte, als sie

zumindest formell Teil des Osmanischen Reichs waren, ihre

Identität, ihre Autonomie und ihre Lebensart bewahren.

Der Kanun des Lekë Dukagjini wurde zuerst von dem in

Janjeva, südlich von Prishtina in Kosova, geborenen

Kanun des Lekë Dukagjini, alb. Kanuni i Lekë

Vorwort

iv

Franziskanerpater Shtjefën Gjeçovi bzw. Gjeçov (1874-1929)

systematisch erfaßt und veröffentlicht. Nach seinem Studium in

Innsbruck und Holland verbrachte Gjeçovi die wissenschaftlich

ergiebigsten Jahre seines Lebens in ländlichen Siedlungen

Nordalbaniens, u. a. in Laç am Fuß des Kurbingebirges (um

1899-1905), in Gomsiqe östlich von Shkodra bzw. Skutari (1907-

1915), in Theth im hohen Norden (1916-1917) und in Rubik in

Mirdita (um 1919-1921). Dort begann er mit Hilfe der

Stammesältesten Material über Stammesgesetze, Archäologie und

Folklore zu sammeln. Ein Teil des von ihm erfaßten Kanun wurde

erstmalig in der von Faik Bey Konitza in Brüssel

herausgegebenen Zeitschrift ‘Albania’ von Nikola Aschta schon

1897-1899 veröffentlicht und danach von 1913 bis 1924 in der

skutarinischen Zeitschrift ‘Hylli i dritës’ (Der Morgenstern)

herausgegeben. Die definitive Fassung des Kanun wurde in

Shkodra 1933 posthum - vier Jahre nach der Ermordung Pater

Gjeçovis durch serbische Freischärler - veröffentlicht.

Dem deutschen Fachpublikum wurde der Kanun schon im

Jahre 1901 durch drei Artikel in der ‘Zeitschrift für Ethnologie,

Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie,

Ethnologie und Urgeschichte,’ bekannt: ‘Das Gewohnheitsrecht

der Stämme Mi-Schkodrak (Oberscutariner Stämme) in den

Gebirgen nördlich von Scutari’ von dem Albaner Nikola Aschta;

‘Das Gewohnheitsrecht der Hochländer in Albanien’ von dem

österreichischen Diplomaten und Albanienforscher Theodor

Anton Ippen (1861-1935); und ‘Das Recht der Stämme von

Dukadschin,’ von Lazar Mjeda (1869-1935), Erzbischof von

Prizren und Shkodra. 1916 erschien von dem ungarischen

Albanienforscher Ludwig von Thallóczy (1854-1916) die

Abhandlung ‘Kanuni i Lekës, ein Beitrag zum albanischen

Gewohnheitsrecht,’ in dem von Thallóczy herausgegebenen

Sammelband ‘Illyrisch-albanische Forschungen,’ und 1923

erschien von dem ebenfalls ungarischen Albanienforscher Franz

Vorwort

1

meint, so stimmt die Datierung nicht, da dieser bei Zym in Kosova schon

am 14. Oktober 1929 ermordet wurde.

Godin 1953, S. 7. Wenn sie unter ‘Pater Stefan’ den Gjeçovi

v

Baron Nopcsa (1877-1933) der Artikel ‘Die Herkunft des

nordalbanischen Gewohnheitsrechts, des Kanun Lek Dukadzinit,’

in der ‘Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft.’

Schließlich wurde der Kanun von der Münchner

Publizistin und Albanienkennerin Marie Amelie Freiin von Godin

(1882-1956) in Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Freund

Ekrem Bey Vlora (1885-1964) ins Deutsche übertragen und in den

Jahren 1953 bis 1956 auch in der ‘Zeitschrift für vergleichende

Rechtswissenschaft’ veröffentlicht. Freiin von Godin, die sonst als

Verfasserin eines großen ‘Wörterbuch der albanischen und

deutschen Sprache’ (Leipzig 1930) und etlicher Abenteuerromane

mit albanischer Thematik in Erinnerung geblieben ist, reiste im

April 1930 nach Shkodra und besuchte dort einige Wochen lang

den Franziskanerorden, dessen Provinzial sie 1928 in München

empfangen und beherbergt hatte. Damals bemühten sich die

Skutariner Franziskaner auf Grundlage der Arbeit und

Aufzeichnungen des ermordeten Pater Gjeçovi um eine definitive

albanischsprachige Ausgabe des Kanun. Hierzu schreibt Godin:

"Die Patres schickten mir den Text mit der Anregung zu, ihn ins

Deutsche zu übersetzen. Ich ging sogleich darauf ein und reiste

für etliche Monate nach Shkodra, wo ich täglich mit den Patres

arbeitete und auch Pater Stefan traf. Es lag mir viel daran, das

Albanische der Veröffentlichung (Dialekt von Kossowo) unter

Wahrung seiner urwüchsigen Ausdrucksweise genau und

sinngemäß zu übersetzen, was nicht ganz leicht war."

Fox, Übersetzer der englischsprachigen Ausgabe (New York

1989), stellt die ungeheuren Schwierigkeiten der Übertragung

offener dar: "The language of the Kanun is notoriously difficult,

1 Leonard

Vorwort

2

Gjeçovi 1989, S. xx.

vi

not only in terms of its vocabulary and syntax, but because the

same words are used with a sometimes staggering variety of

meanings, as well as because of the extreme terseness of

expression."

Übersetzung des Kanun, allerdings auf der Grundlage einer

früheren albanischen Fassung von Gjeçovi. Die deutsche

Übertragung weicht daher sowohl in der Einteilung und wie auch

im Inhalt von der späteren albanischen Ausgabe des Jahres 1933

leicht ab. Wegen des Zweiten Weltkrieges erschien sie erst in den

fünfziger Jahren, kurz vor dem Tod der Verfasserin.

Die vorliegende Übertragung der Freiin von Godin stellt

auf jeden Fall eine bemerkenswerte Leistung dar, auch wenn sie

wegen ihrer Urwüchsigkeit, ihrer Holprigkeit und ihres veralteten

Charakters von dem heutigen Leser einiges an Mühe,

Aufmerksamkeit und Mitdenken abverlangt. Die gedanklichen

Zusammenhänge des Kanun sind für alle, die in der

nordalbanischen Kultur nicht aufgewachsen sind, teilweise schwer

nachvollziehbar, und die einzigen deutschen Bezeichnungen, die

dem Ausgangstext einigermaßen entsprechen, können bisweilen

irreführend sein. Die Mühe wird sich aber lohnen, denn der

Kanun des Lekë Dukagjini ist ein faszinierendes Zeugnis einer

einzigartigen Kultur.

Einige Aspekte des Kanun mögen dem heutigen

Beobachter streng, sogar barbarisch erscheinen. Als

Hauptinstrument zur Durchführung und Erhaltung des Rechts und

insbesondere der männlichen Ehre galt die Rache des

Geschädigten. Dies führte im Laufe der Zeit zu endlosen Fehden

und zur Blutrache, die am Anfang des 20. Jahrhunderts die

Stämme des Nordens erheblich dezimierte. Die Blutrache (alb.

‘gjakmarrje’), führte in einigen Gebieten Nordalbaniens zu einem

2 Godin began 1938 mit der systematischen

Vorwort

vii

empfindlichen Männermangel, und stellt dort bis auf den heutigen

Tag ein virulentes Problem im gesellschaftlichen Leben dar.

Frauen genossen einen sehr minderwertigen Status. Der

Kanun des Lekë Dukagjini bestimmte ausdrücklich: "die Frau ist

ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird", (alb. "grueja

âsht shakull për me bajtë"). Frauen wurden daher aller

männlichen Rechte und Privilegien aber auch aller männlichen

Verpflichtungen enthoben.

Positiv zu würdigen hingegen sind aus heutiger Sicht noch

der Begriff der ‘besa,’ des gegebenen Wortes bzw. Versprechens,

und die ausgesprochen betonte Hochschätzung des Gastes bzw.

Freundes, alb. ‘mik.’

Der Kanun des Lekë Dukagjini ist nicht die einzige

Zusammenstellung des albanischen Gewohnheitsrechtes, aber er

ist bei weitem die bekannteste. Unter den anderen in Albanien

beachteten einheimischen Rechtssystemen sind: 1.) der ihm recht

ähnliche Kanun des Hochlandes, alb. ‘Kanuni i Maleve’ oder

‘Kanuni i Malësisë së Madhe,’ der vor allem von den Stämmen

der Kastrati, Hoti, Gruda, Kelmendi, Kuç, Krasniqi, Gashi und

Bytyçi, also in dem Gebiet zwischen dem Shkodrasee im Westen

und dem Hochland von Gjakova im Osten, nördlich des

Geltungsgebiets des Kanun des Lekë Dukagjini, anerkannt und

eingehalten wurde; 2.) der sogenannte Kanun des Skanderbeg,

alb. ‘Kanuni i Skënderbeut,’ auch als Kanun der Arbëria, alb.

‘Kanuni i Arbërisë,’ bekannt, der in erster Linie in den Gebieten

von Dibra, Kruja, Kurbin, Benda und Martanesh, also im

ehemaligen Herrschaftgebiets der Familie Castriota, südlich des

Geltungsgebiets des Kanun des Lekë Dukagjini, eingehalten

wurde; und 3.) der südalbanische Kanun der Labëria, der in den

Gebieten von Vlora, Kurvelesh, Himara und Tepelena, vor allem

aber innerhalb der sogenannten Gegend der drei Brücken

(Drashovica, Tepelena und Kalasa) eingehalten wurde. Dieses

südalbanische Rechtsinstrument wird einer mündlichen

Vorwort

viii

Überlieferung zufolge einem Priester namens Papa Zhuli,

Gründer des in Kreis Gjirokastra befindlichen Dorfs Zhulat,

zugeschrieben, daher auch die Bezeichnung Kanun des Papa

Zhuli, alb. ‘Kanuni i Papazhulit.’ In ihren zahlreichen Fußnoten

nimmt Freiin von Godin hierzu als Vergleich des öfteren Bezug.

Die jetzige Ausgabe des Kanun weicht minimal von der

1953 bis 1956 erschienenen Ausgabe ab, und zwar in einigen

wenigen Fällen, in denen die Verfasserin den Inhalt zweifellos

fehlerhaft wiedergab. In anderen Fällen, wo die Übersetzung uns

zweifelhaft erscheint aber wo der Text verschieden interpretiert

werden kann, ist die deutsche Fassung so gelassen, wie sie in der

ersten Ausgabe erschien. Der interessierte Leser möge als

Vergleich die englischsprachige Fassung von Leonard Fox

heranziehen. Die Fußnoten, die mit [Gj.] gekennzeichnet sind,

sind vom Gjeçovi, sonst sind sie alle von Godin in

Zusammenarbeit mit Ekrem Bey Vlora.

Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Neuauflage von dem

Kanun des Lekë Dukagjini zu einem besseren Verständnis für die

traditionelle Kultur Nordalbaniens und Kosovas beitragen wird.

Robert Elsie

Olzheim / Eifel

März 2001

3

der Killer heißt Kanun, in:

z. B. Krieg der Sippen, in: Der Spiegel 27.2.1995; Der KodeSüddeutsche Zeitung 16.3.1995.

4

ix

Albanische Hefte 3-4/1991, S. 7.



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New PostErstellt: 11.03.08, 21:56  Betreff: Re: Der KANUN  drucken  weiterempfehlen

Der Kanun der albanischen Berge:

Hintergrund der nordalbanischen

Lebensweise

Mitte der 90er Jahre hatte die Presseberichterstattung über

Albanien ein neues Modethema entdeckt: die Blutrache als

Kernstück des Gewohnheitsrechts, des Kanun

Jahren bestritten albanische Offizielle das Wiederaufleben der

Blutrache in ihrem Land und meinten, dass hier offenbar

ausländische Journalisten gewöhnliche Kriminalität mit Blutrache

verwechselten. Das ist nicht ganz falsch; es hat einzelne Versuche

gegeben, die Aktivitäten albanischer bzw. kosovarischer

Bandenkrimineller mit gewohnheitsrechtlichen Traditionen zu

erklären. Jedoch berichteten albanische Zeitungen schon 1991

über Fälle, in denen Männer auf offener Straße umgebracht

worden seien, weil ihr Vater oder Großvater vor dem Krieg

jemanden getötet hatte

3. Noch vor zwei4.

Kanun

Einführung

5

grecque

Pierre Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue. Bd. 2: E-K. Paris 1970, S. 493.

6

x

Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Darmstadt 1985, S.4, 39.

Die Blutrache ist ein Aspekt eines umfassenden

Rechtssystems, des Gewohnheitsrechts. Der albanische Ausdruck

dafür ist

Sumerischen (

Hebräische (

Griechische (

kanun. Dieses Wort ist möglicherweise aus demgi, Rohr) über das Akkadische (qanu, Rohr) insqane, Rohr) entlehnt worden und von da aus inskanna, Rohr) übernommen worden; dort wurde es zu

kanon

Kirchensprache als "normiertes Verzeichnis" (von heiligen,

Bibeltexten, Gesangsformen usw.) verwendet wird (so auch als

Fremdwort im Deutschen). Vom Griechischen aus wurde es ins

Türkische (

weiter gebildet5, wo es "Regel, Norm" bedeutet und in derkanun) übernommen. Dort bedeutet es "Gesetz",

kanunname

dem die osmanische Herrschaft ihren Höhepunkt erlebte, ist in der

türkischen Geschichtsschreibung als

bekannt, weil er das türkische Boden- und Verwaltungsrecht

umfassend kodifizierte. Fast 200 Jahre zuvor hatte Murat I. (1360-

89) als erster osmanischer Herrscher systematisch begonnen,

"Gesetzbuch". Sultan Süleyman I. (1520-1566), unterKanuni (der Gesetzgeber)

kanun

zu erlassen. Denn im osmanischen Rechtsverständnis war

kanun

Religionsgesetz (

basierte; Sunna ist die Gesamtheit der Äußerungen und Taten

Mohammeds, die über den Koran hinaus überliefert sind. Neben

diesem religiösen Recht gab es verschiedene

gewohnheitsrechtliche Traditionen (

Die Albaner haben das Wort

entlehnt; die primäre Bedeutung ist "Recht" bzw. "Rechtssystem".

Für das einzelne Gesetz wurden

als weltliches Recht nur Ergänzungsrecht zumÕeriat), das auf dem Koran und der Sunnaörf)6.kanun also von den Türkenligj (aus lat. lex) und nom (aus

Einführung

7

1992, S.205.

Gunnar Svane: Slavische Lehnwörter im Albanischen. Aarhus

8

III. Tirana 1987, S.277-278

Eqrem Çabej: Studime etimologjike në fushë të shqipes. Bd..

9

Pukës

z. B. Xhemal Meçi: Kanun i Lekë Dukagjinit - Varianti i. Tirana 1997.

10

Frano Ilia:

xi

Veröffentlicht von dem damaligen Erzbischof von ShkodraKanuni i Skanderbegut, Shkodra 1993.

griech.

gesetztes Recht und hergebrachte Gewohnheit waren, zeigt eine

weitere Entlehnung: das slawische

übernommen und hatte noch bei Buzuku (1555) und den

gegischen Autoren des 17. Jahrhunderts diese Bedeutung, nahm

aber zugleich im 17. Jahrhundert die Bedeutung "Gewohnheit,

Sitte" an

Gewohnheitsrecht ist

nomos) gebildet. Wie ununterscheidbar ursprünglichzakon (Gesetz) wurde7. Ein weiterer, vielleicht der ältere Begriff für dasdoke8.

Lek Dukagjini

Das Wort Kanun wird meist im Zusammenhang mit

Namen oder Gegenden gebraucht. Am bekanntesten ist der

i Lekë Dukagjinit

Dieser ist jedoch nur eine Regionalvariante neben anderen, die

allerdings weit besser als alle anderen dokumentiert und

systematisch erforscht ist. Auch der KLD existiert in Varianten

Daneben gibt es den

oder

Kanun(Recht des Lek Dukagjini, abgekürzt KLD).9.Kanun i Skënderbeut (Recht Skanderbegs)10,Kanun i Arbërisë, den Kanun i Papazhulit (Recht des

Einführung

11

E drejta zakonore shqiptare 1: Kanuni i Lekë Dukagjinit,

mbledhur dhe kodifikuar nga Shtjefën K. Gjeçovi. Tirana 1989, S. 5-6.

12

S. 45.

xii

Walter Peinsipp: Das Volk der Shkypetaren, Wien 1985,

Priesters Julius) oder

Kanun i Labërisë (Recht der Laberia), den

Kanun i Malësisë së Madhe

einige Lokalvarianten, die nicht als Kanun, sondern als Zakon

bezeichnet werden. Vereinzelt werden statt dessen auch andere

Turzismen (

Umschreibung

Die Verknüpfung des Gewohnheitsrechts mit dem Namen

eines bestimmten Gesetzgebers ist ein Widerspruch in sich und

gehört in jedem Fall in den Bereich der Legende, auch wenn der

vermeintliche Gesetzgeber eine historisch greifbare Persönlichkeit

war. Diskutabel ist nur die Theorie, dass Lek Dukagjini das

damals existierende Volksrecht sammelte, vereinheitlichte und

reformierte

Jahren fast völlig analphabetischen Gesellschaft hätte tun sollen,

bedürfte dann der Erklärung, ebenso wie die Frage, warum der

Kanun noch so viele vorchristliche Elemente enthält.

Der Herrschaftsbereich der Familie Dukagjini im 15.

Jahrhundert umfasste weite Teile des nordalbanischen Berglandes;

genaue Abgrenzungen sind ebensowenig möglich wie bei anderen

Adelsfamilien; auch genaue Lebensdaten sind nicht zu ermitteln.

Leks Vater Pal und dessen Bruder Nikollë nahmen 1444 an der

Fürstenliga von Lezha unter Skanderbegs Führung teil,

überwarfen sich aber mit ihm wegen Gebietsstreitigkeiten und

unterstützten sogar zeitweilig die Türken.

Auch nachdem Lek 1455 die Führung der Familie

übernommen hatte, wechselte er immer wieder die Fronten und

(Recht des Hohen Berglandes) sowieusull, itifatk, adet, sharte) oder die albanischerruga oder udha ("Wege" verwendet11.12; wie er dies aber in einer damals wie vor fünfzig

Einführung

13

Geschichte Südosteuropas

in:

Hasan Kaleshi: Dukagjini, in: Biographisches Lexikon zur. Bd. 1, S. 444-445; Aleks Buda: Dukagjinët,Fjalori Enciklopedik Shqiptar (FESH), Tirana 1985, S. 212.

14

xiii

Godin, 1956, S.190.

war mal mit den Türken, mal mit Skanderbeg und mal mit den

Venezianern verbündet

als geographisch-ethnographischer Begriff für Teile

Nordalbaniens zwischen der Malësia e Madhe und der Mirdita und

dem westlichen Kosovo verwendet. Möglicherweise wurde die

Bezeichnung "Recht des Dukagjin-Gebiets" irgendwann in der

Volksüberlieferung auf den bekanntesten Vertreter der Familie

Dukagjini zurück projiziert. Der KLD hatte den mit Abstand

größten Geltungsbereich aller Gewohnheitsrechte und schloss die

Mirdita mit ein.

13. Der Name Dukagjin wurde in der Folge

Koexistenz und Konfrontation

Die Versuche, den KLD direkt aus dem byzantinischen

Recht oder aus dem Gesetzbuch (

Stepan Dušan von 1349 herzuleiten, haben trotz einiger

Übereinstimmungen nicht weitergeführt, weil beide

Rechtssysteme für komplexe Staatsgebilde und feudale,

hierarchisierte Gesellschaften konzipiert wurden. Auch Parallelen

zu anderen Rechtssystemen, z. B. im Kaukasus, sind nicht durch

direkte Beeinflussungen, sondern als Homologien aufgrund

ähnlicher Lebensverhältnisse zu erklären

Das Gewohnheitsrecht der Albaner war immer

Ergänzungs- und zugleich Konkurrenzrecht zum staatlichen

Recht, zu dem der Türken, dem des albanischen Staates nach

Zakonik) des serbischen Zaren14.

Einführung

15

orientalisch, europäisch.

xiv

Dardan Gashi, Ingrid Steiner: Albanien: Archaisch,Wien 1994, S. 70.

1912, zum Recht der Besatzungsverwaltungen im I. und II.

Weltkrieg und, was Kosovo angeht, zum Recht Jugoslawiens bzw.

Serbiens. Diese Tradition der Doppelstaatlichkeit zeigte sich in

Kosovo in den 90er Jahren in neuer Form, wo den Institutionen

der serbischen Staatsmacht die Parallelinstitutionen der von der

albanischen Bevölkerung legitimierten, aber sonst nicht

anerkannten Republik Kosova gegenüber standen

sich dieselbe Tradition jetzt auch gegen UNMIK und KFOR

wenden.

Mit großer Wahrscheinlichkeit reichen die Anfänge des

albanischen Gewohnheitsrechts weit über die osmanische

Herrschaft zurück; dann wären auch die Reichsbildungen der

Byzantiner, Serben u. a. mit der Parallelität verschiedener

Rechtsordnungen konfrontiert gewesen - eine Erscheinung, die

alles andere als einzigartig ist.

Solche Parallelitäten können weitgehend konfliktfrei

koexistieren, wenn die Staatsmacht einige Rahmenbedingungen

setzt wie Loyalität gegenüber dem Herrscher, Erfüllung von

Steuer- und Abgabeverpflichtungen, Kriegsdienst u. a., im übrigen

aber die Regelungen der rechtlichen

Beziehungen zwischen den Bewohnern des betreffenden Gebietes

untereinander diesen überlässt. Der Konflikt tritt dann in aller

Schärfe auf, wenn die Zentralmacht ihren Ordnungsanspruch in

allen Bereichen der Gesellschaft durchsetzen will. Im Falle

Albaniens waren die Überlebenschancen des Gewohnheitsrechts

abhängig von der Effizienz des osmanischen Verwaltungssystems.

15. Doch kann

Einführung

16

Jahrhundert bei: Peter Bartl:

Nationalen Unabhängigkeitsbewegung (1878-1912)

S. 37-86.

die detaillierte Verwaltungseinteilung im späten 19.Die albanischen Muslime zur Zeit der. Wiesbaden 1968,

17

Bd. 1, S. 143-159.

Johann Georg von Hahn: Albanesische Studien. Jena 1854,

18

Valentina Kolçe: Xhibali, in: FESH, S. 1188; Koço Nova, in:

E drejta zakonore

xv

, S. 39-40.

Zwar war ganz Albanien in dieses Verwaltungssystem integriert

doch die Durchsetzungsfähigkeit der osmanischen Verwaltung

war abhängig von der Infrastruktur. Konkret: in den Städten war

die osmanische Kontrolle umfassend, in den ländlichen Ebene

konnten sich Restbestände des alten Rechts lange halten; dies

dokumentierte 1854 der österreichisch-ungarische Konsul Johann

Georg von Hahn für die Geschlechterverbände der Riça südöstlich

von Tepelena

nur nominell war. Erst in der Reformphase (Mitte des 19.

Jahrhunderts) bemühten sich die Osmanen ohne große Erfolge um

die Angleichung der Rechtsverhältnisse durch die Einführung des

16,17, während die Herrschaft der Türken im Gebirge

Xhibal

Shkodra Vertreter der osmanischen Verwaltung und der

Malësoren-Stämme zusammenarbeiteten

(= Gebirgs)-Rechts, bei dem in einer Kommission in18.

Schriftliche Form für mündliche Tradition: Gjeçov

In der ethnographischen Literatur überAlbanien wurde

bereits im 19. Jahrhundert viel über das Gewohnheitsrecht

geschrieben. Die systematische Aufnahme der rein mündlichen

Einführung

19

xvi

Shtjefën Gjeçovi: Vepra. 4 Bde. Prishtina 1985.

Rechtsüberlieferung konnte in einer fast völlig analphabetischen

Gesellschaft nur von Leuten geleistet werden, die sich dauerhaft

im Milieu aufhielten, mit der Mentalität der Menschen vertraut

waren und die Sprache perfekt beherrschten. Gerade

Rechtssatzungen werden nicht nur im Dialekt, sondern darüber

hinaus in einer altertümlichen, verknappten und verklausulierten

Sprache überliefert, die ohne Kommentierung oft nicht

verständlich ist. Diese Aufgabe konnte im Gebiet der

nordalbanischen Stämme daher nur von Priestern geleistet werden.

Der am 12.7.1874 in Janjevo (Kosovo) geborene Shtjefën

Konstantin Gjeçov war Franziskaner und arbeitete als

Gemeindepriester in verschiedenen Gemeinden Nordalbaniens und

in Kosovo. Er begann bereits 1913 mit der Veröffentlichung der

von ihm gesammelten Rechtssatzungen in der Zeitschrift der

albanischen Franziskaner

seiner Ermordung durch serbische Nationalisten am 14.10.1929

gaben andere Franziskaner das von ihm hinterlassene Material

systematisiert unter seinem Namen mit dem Titel "Kanuni i Lekë

Dukagjinit" (KLD) 1933 in Shkodra heraus.

Gjeçov hat das nordalbanische Gewohnheitsrecht in einer

sehr späten Phase aufgezeichnet. An einigen Stellen (z. B. §§ 898-

900) verweist der Text selbst auf einen älteren Stand. Noch

deutlicher wird die „Schichtung" der Rechtsentwicklung

verschiedener Epochen durch die starken vorchristlichen

Elemente, die mit christlichen kombiniert werden.

Gjeçovs Werke wurden 1985 in Prishtina neu heraus

gegeben

New York ein Faksimile mit englischer Parallelübersetzung von

Hylli i Dritës (Stern des Lichts). Nach19, der KLD als verkleinertes Faksimile. 1989 erschien in

Einführung

20

Kanuni i Lekë Dukagjinit - The Code of Lekë Dukagjini.

Hrsg. Shtjefën Gjecov; Übers. Leonard Fox. New York 1989.

21

consuetudinario delle montagne d‘Albania.

Stefano Gjeçov: Codice de Lek Dukagjini, ossia direttoRom 1941.

22

Gewohnheitsrecht, in:

Marie Amelie Freiin von Godin: Das albanischeZeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft,

56 (1953), S. 1-46; 57 (1954), S. 5-73; 58 (1956), S. 121-198.

23

E drejta zakonore shqiptare 1: Kanuni i Leke Dukagjinit,

mbledhur dhe kodifikuar nga Shtjefën K. Gjeçovi. Tirana 1989.

xvii

Leonard Fox

Akademie eine Übersetzung heraus

Marie Amelie von Godin veröffentlichte die in diesem Buch neu

herausgegebene deutsche Übersetzung als Aufsatzfolge, unter

Mithilfe von Eqrem Bej Vlora ergänzt durch Kommentare und

Vergleiche mit dem

arrangierte Textversion auf der Basis von Gjeçovs Edition mit

ergänzendem Material wurde von der Akademie der

Wissenschaften Albaniens herausgegeben

Die teils von Gjeçov, teils von seinen Erben geleistete

Systematisierung teilt den KLD in 1263 Paragraphen ein. Unter

den zwölf Büchern regelt Buch 1 die Stellung der Kirche in zivilund

strafrechtlicher Beziehung; die Bücher 2-9 decken das

Zivilrecht im weitesten Sinn incl. des Familienrechts ab, Buch 10

das Strafrecht, Buch 11 das Öffentliche Recht; Buch 12 legt

rechtliche Privilegien und Diskriminierungen sowie die Bräuche

bei Todesfällen fest. Doch wir werden sehen, dass im Kanun die

Abgrenzung der drei traditionellen Rechtsgebiete häufig

unmöglich ist.

20. Bereits 1941 gab die Königlich-Italienische21. Die deutsche AlbanologinKanun i Papazhulit22. Eine kritische, neu23.

Einführung

24

fremden Einfluss, den Gjeçov nicht der Volkssprache entnommen hat;

Koço Nova hält die Verwendung des Wortes familje für einen

E drejta zakonore,

S. 53.

25

252/53, 258.

xviii

Karl Kaser: Hirten, Kämpfer, Stammeshelden, Wien 1992, S.



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New PostErstellt: 11.03.08, 21:57  Betreff: Re: Der KANUN - Die Hausgemeinschaft  drucken  weiterempfehlen

Die Hausgemeinschaft

Die soziale Elementareinheit der nordalbanischen

Gesellschaft ist die Familie (

Hausgemeinschaft (

dauerhaft unter einem Dach leben (§ 18); Vier-Generationen-

Haushalte mit mehr als 50 Angehörigen waren nicht selten.

Es gibt mehrere übergeordnete Kategorien:

a) "der Stammbaum des Blutes" (

patrilineare Blutsverwandtschaft: Brüderschaft (

Stamm (

b) "der Stammbaum der Milch" (

matrilineare Verwandtschaft (

c) die territorialen Einheiten: Dorf (

familje) im Sinne dershpi)24; sie umfasst also alle Menschen, dielisi i gjakut), also dievllazni),fis);lisi i tamblit), also diegjini), und;katund), Banner (flamur

oder

Blutsverwandtschaft, d.h. die Annahme gemeinsamer

Vorfahren, egal in welcher Generation, verbieten in der streng

exogamen Gesellschaft Heiraten (§§ 695-697). Aus praktischen

Gründen musste hier zwischen Theorie und Praxis eine Lücke

klaffen; besonders die Nichtberücksichtigung der matrilinearen

Verwandtschaft schuf hier Freiräume, die faktisch zur

Stammesendogamie führten

weiter kompliziert durch eine Reihe von Personenverhältnissen,

die der Blutsverwandtschaft gleichgestellt sind: die

bajrak) (§§ 19, 698-703).25. Das Exogamiegebot wird noch

Einführung

26

Customs of the Balkans.

xix

Mary Edith Durham: Same Tribal Origins, Laws andLondon 1928, S. 304-305.

Blutsbrüderschaft (

shëngjoni

(

und die Patenschaft des ersten Haarschnitts (

Letzteres ist eine genau geregelte Zeremonie, die an ein- bis

zweijährigen Kindern vorgenommen wird, im Notfall auch nach

ihrem Tode (§§ 714-734).

An diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich, dass in

den Kanun christliche wie vorchristliche Elemente eingeflossen

sind; das Haupthaar als Sitz der Lebenskraft und der physischen

Stärke (vgl. Samson-Mythos) ist ein eindeutig magisches, nicht

christliches Element. Die Kirche musste sich mit diesem und

anderen Bräuchen arrangieren. Die katholische Kirche brachte es

immerhin um die Jahrhundertwende soweit, dass das

Heiratsverbot keine Beachtung mehr fand. Noch 1908 beschäftigte

ein Protest gegen eine Eheschließung unter "Verwandten aufgrund

Haarschnittspatenschaft" mehrere zivile und kirchliche Stellen.

Die orthodoxe Kirche integrierte hingegen derartige Bräuche,

indem das Haare Schneiden durch den Paten Bestandteil der

Taufzeremonie wurde

An der Spitze des Haushaltes steht der Hausherr (

shpis

doch sind die (männlichen) Haushaltsmitglieder berechtigt, einen

Hausherrn zu wählen, wenn der Älteste ungeeignet, also aus

Alters- oder Gesundheitsgründen nicht voll geschäftsfähig ist. Ihm

obliegt die gesamte wirtschaftliche Verantwortung für den

Haushalt, seine Vertretung nach außen und die Disziplinargewalt.

wobei die Strafen von Entzug einer Mahlzeit bis zur Verstoßung

aus dem Haushalt reichen (§§ 20-21). Jeder Vater, auch wenn er

vllaznim) und die Patenschaft (kumbari;), von der es drei Formen gibt: die Taufpatenschaftkumbari e pagzimit), die Trauzeugenschaft (kumbari e kunores)kumbari e flokvet).26.i zot i), in der Regel der älteste Mann im Haus oder dessen Bruder;

Einführung

27

1954, S. 27.

xx

Margaret Hasluck: The Unwritten Law in Albania, Cambridge

nicht Hausherr ist, hat über seine Kinder unbeschränkte

Verfügungsgewalt; er darf sie sogar töten, ohne Blutrache oder

Strafe zu riskieren, weil die Vernichtung des eigenen Blutes dem

Selbstmord gleichgestellt ist (§ 59).

Die Hausfrau (

Sie muss nicht seine Ehefrau sein, im Gegenteil, im Regelfall hat

die Mutter des Hausherrn diese Funktion inne, die in erster Linie

die Verantwortung für die Nahrungsmittel und die Aufsicht über

die im Haushalt lebenden Frauen beinhaltet; sie ist von harten

körperlichen Arbeiten befreit, für die sie die anderen Frauen

einteilt (§§ 22-23). Die übrigen Familienmitglieder haben das

Verfügungsrecht über ihre eigenen Waffen und müssen vom

Hausherrn in ihrem speziellen Arbeitsbereich konsultiert werden,

sind aber im übrigen seinen Weisungen unterworfen; sie können

den Hausherrn bei schwerer Misswirtschaft, die Hausfrau im Falle

des (auch leichten) Diebstahls oder der Bevorzugung ihrer eigenen

Kinder absetzen (§§ 24-25). Wenn ein verheiratetes Paar ein

eigenes Schlafzimmer hat, darf es von keinem anderen ohne sein

Einverständnis betreten werden

e zojë e shpis) wird vom Hausherrn ernannt27.

Verwaltungsrecht

Der Haushalt hat das Recht und die Pflicht, an der

Dorfversammlung (

Anwesenheitspflicht); er ist berechtigt, das Gemeindeland mit zu

nutzen, an der Verteilung von Sach- und Geldstrafen (

beteiligt zu werden und den Schutz des Dorfes in Anspruch zu

kuvend) teilzunehmen (der Hausherr hatgjobë)

Einführung

xxi

nehmen; er muss sich an Arbeiten zugunsten dörflicher

Einrichtungen beteiligen. Im Rahmen des Banners (

Haushalt die Pflicht, an dessen Versammlungen mit einem

Vertreter (i.d.R. dem Hausherrn) und an dessen Kriegen

teilzunehmen (§§ 26-27).

An der Versammlung des Stammes (

Kirchplätzen abgehalten werden, können prinzipiell alle Männer

bewaffnet, aber unter absoluter Friedenspflicht teilnehmen (§§

1106-1125). Die "Gesetzgebung" und Rechtsprechung liegt bei

den Ältesten (

(

gegen Urteile der Ältesten ist zulässig (§§ 1034-1043); das Volk

kann in der Versammlung Urteile zur Neuentscheidung

zurückweisen (§§ 1176-1178). Die Würde des Stammeshäuptlings

(

politischen und Rechtsfragen gemeinsam mit den Ältesten und

eventuell dem Volk (§§ 1146-1160). Im Rechtsverfahren gibt es

eine Reihe von Funktionsträgern: den Eideshelfer (

1044-1078), den geheimen Ankläger (

die Ermittler (

Geldstrafen (

Beweismittel ist der Reinigungseid des Beschuldigten unter

Hinzuziehung der Eideshelfer, der sowohl seine Unschuld als auch

seine Unkenntnis des wahren Täters beeiden muss; der Kläger

schwört nicht (§§ 538-542). Es gibt verschiedene Formen des

Eides, die alle mit religiösen Formeln (Anrufung Gottes als

Bürgen für die Wahrheit) und der Beschwörung zeitlicher und

ewiger Strafen im Falle des Meineides verbunden sind (§ 532); bei

jedem Eid muss ein geheiligter Gegenstand berührt werden.

Hier konkurrieren wieder christliche mit vorchristlichen

Symbolen: Neben dem Eid auf das Kreuz oder das Evangelium

stehen der Eid auf die Häupter der eigenen Söhne und der Eid

beim Stein (

flamur) hat derfis), die aufpleq) der Banner und Dörfer und den "Überältesten"sterpleq) als Vertretern des Volkes (§§ 991-1043). Eine Berufungkre) ist erblich. Er ist an den Kanun gebunden und entscheidet inporotë) (§§kapucar) (§§ 1079-1093),pritetarë) (§§ 1094-1105), den Eintreiber der Sachundgjob(t)ar) ( §§ 1171-1175). Wichtigstesbe mbë gur). Darunter ist ein Stein mit drei Löchern

Einführung

28

Hasluck, S. 181-82.

29

Balkankunde.

Peter Bartl: Die Mirditen. in: Münchner Zeitschrift für1 (1978), S. 27-69.

30

xxii

Nova, in: E drejta zakonore, S. 29.

zu verstehen, der die Waage für das Kerzenwachs der Kirche trägt

(§§ 533-537); mit Sicherheit ist dies die christianisierte, nur bei

den Katholiken vorkommende

chthonischer (= Erd-) Gottheiten. Die Eide werden auch zur

Beteuerung einer Abmachung, eines Bündnisses usw. geleistet.

Der Bote (

Dörfern oder Bannern hin- und her trägt, genießt Immunität

bezüglich der Botschaften und umfassenden Schutz (§§ 1200-

1212), ebenso der Herold des Stammes (

Häuptlings überbringt und zu Versammlungen und Kriegszügen

aufruft (§§ 1213-1220).

Anders als die Montenegriner, deren Gesellschaftssystem

ähnlich wie das der Nordalbaner strukturiert war, gelangten die

Malësoren nie zur Bildung einer Zentralgewalt.

Das Oberhaupt der Gjonmarkaj war seit dem 18.

Jahrhundert erblicher Hauptmann (kapedan) der katholischen

Mirdita, die noch im 17. Jahrhundert als Teil des Dukagjin

gegolten hatte. Ihre Stellung war auch von der Hohen Pforte

anerkannt, die mehreren Kapedanen den Pasha-Titel verlieh

Die Stellung der Gjonmarkaj ist in einem eigenen Kapitel

des 11. Buches (§§ 1126-1145) sowie an zahlreichen anderen

Stellen geregelt. Wenn auch die politische Führungsrolle der

Familie nicht über die Mirdita hinaus reichte, war ihre Stellung als

höchste Autorität in Fragen des Kanun auch in weiten Teilen der

Malësia anerkannt

28 Variante einer Beschwörunglajmtar), der Botschaften zwischen Haushalten,kasnec), der Aufträge des29.30.

Einführung

31

Godin 1956, S. 155.

32

xxiii

Bartl, Muslime, S. 46-47.

Das Haus Gjonmarkaj wird als "Grundstein des Kanun"

bezeichnet (§ 1126). Seine Vertreter nehmen in Krieg und Frieden

den Vorsitz und die Führung ein. Einzelne Mitglieder der Familie

können zwar bestraft werden. Doch die Familie als ganze darf als

einzige nicht kollektiv durch Bann oder Vertreibung bestraft

werden; sie hat aber das Recht, Verurteilungen zu schwersten

Strafen zu verhängen und Stammesführer abzusetzen und durch

andere Mitglieder desselben Stammes zu ersetzen. Sie ist die letzte

Instanz in allen Streitfragen. Ihr stehen Anteile an jeder Sach- und

Geldstrafe zu. In der Mirdita hat die Familie des Täters jede

Tötung bei den Gjonmarkaj zu melden und 500 Grosh zu zahlen;

das entspricht einem Baugrundstück, 140 kg Honig, Wachs, Käse

oder Wolle, 10 Schafen oder Ziegen oder einem Gewehr

(Richtpreise nach § 484). Als Eideshelfer gilt der Eid eines

Gjonmarkaj zwölffach.

Diese Privilegien sind wegen des relativ späten Aufstiegs

der Familie eines der jüngsten Elemente im KLD. Die

Anerkennung der Gjonmarkaj als erbliche Kapedane durch die

Osmanen macht sie zu Stellvertretern des Sultans; als solche sind

sie ebenso wie die Feudalhäuser des Südens rechtlich immun

Eine ähnlich privilegierte Stelle nimmt der katholische

Priester ein. Obwohl das engere Dukagjin-Gebiet (anders als die

Mirdita) gemischt religiös war

Islam und dessen Geistlichkeit.

Offenbar hat Gjeçov hier einschlägige Bestimmungen

weggelassen; überdies hat er sein Material hauptsächlich in

weitgehend katholischen Gebieten gesammelt. In der Praxis ist die

Position des Hoxhas ähnlich wie die des Priesters, doch genießt

31.32, ist an keiner Stelle die Rede vom

Einführung

33

Kosovë.

xxiv

Ragip Halili: Sanksionet penale sipas të drejtës zakonore nëPrishtina 1985, S. 78-85.

der Priester eine Sonderstellung, weil er niemals Söhne und meist

auch keine Familie hat. Die Kirche besitzt Eigentumsrechte, ist

von Steuern ausgenommen, darf aber selbst den Zehnten erheben

sowie Diener und Arbeiter beschäftigen. Sie unterliegt nur der

Jurisdiktion des Bischofs, nicht dem Kanun. Sie hat auch selbst

keine Strafgewalt; ihr angetanes Unrecht wird von der Gemeinde

bestraft. Wird der Priester getötet, so übernimmt nicht nur seine

Familie (sofern er überhaupt eine hat), sondern die Gemeinde und

das Banner die Rache. Falls er selbst jemanden tötet, darf sich die

Rache nicht gegen ihn, wohl aber seine Familie richten. Er wird

üblicherweise nicht vereidigt; falls doch, zählt sein Eid 24fach.

Nur in extremen Fällen kann der Priester nach dem Kanun bestraft

werden (§§ 1-12).




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New PostErstellt: 11.03.08, 21:57  Betreff: Re: Der KANUN - Öffentliches Strafrecht  drucken  weiterempfehlen

Öffentliches Strafrecht

Die Strafjustiz des Kanun ist eine Mischung aus

öffentlicher und Selbstjustiz. Der Katalog der öffentlichen Strafen

beinhaltet verschiedene Stufen der Einschränkung der

Lebensgrundlagen des Schuldigen und seiner Familie; er reichte

von Geld- und Sachstrafen über die Verwüstung von Ackerland,

das Niederbrennen des Wohnhauses und die Vertreibung der

Familie aus dem Banner bis zur Todesstrafe (§ 16). Haft- und

Körperstrafen kommen nicht vor, da sie mit der Ehre erwachsener

Männer unvereinbar wären

das Dorf bzw. das Banner, meist durch Erschießen, vollstreckt. In

33. Die Todesstrafe wird kollektiv durch

Einführung

xxv

diesem Falle bleibt der Tod ungerächt; "das Blut geht verloren"

(

Einzelnen und keine Familie zurück. Sie steht auf besonders

schwere Delikte wie Tötung eines Priesters, des eigenen Vaters,

eines Gastes, eines Feindes, der unter dem Schutz des Ehrenwortes

steht, eines Verwandten aus Erbschaftsgründen, eines Boten aus

dem eigenen Dorf oder infolge einer ungerechtfertigten

Verschiebung von Grundstücksgrenzen, Schusswaffengebrauch in

einer Versammlung (§§ 17, 62, 251, 1125, 1194).

shkon gjakhupës). Die kollektive Tötung fällt auf keinen



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New PostErstellt: 11.03.08, 21:58  Betreff: Re: Der KANUN - Die Ehre  drucken  weiterempfehlen

Die Ehre

Die Ahndung der Mehrzahl der Straftatbestände sind dem

Geschädigten bzw. dessen Haushalt überlassen, doch auch sie

unterliegen einer genauen Regelung. Dies betrifft vor allem die

Komplexe Vermögensschäden, Ehrverletzungen und Verbrechen

gegen Leib und Leben. Träger der Ehre (

Mann sein; die Ehre jedes Mannes ist grundsätzlich gleich,

unabhängig von seiner sozialen Stellung: "Gott gab uns zwei

Fingerbreit Ehre mitten auf die Stirn" (

ballit na i njiti Zoti i Madh

können nicht durch Sachleistungen abgegolten werden, sondern

nur durch Vermittlung vergeben oder mit Blut abgewaschen

werden, denn ein entehrter Mann wird für tot gehalten (§§ 597-

599). Eine Entehrung ist es, jemanden öffentlich der Lüge zu

zeihen, jemanden anzuspucken, zu bedrohen, zu stoßen oder zu

schlagen, einem anderen das ihm gegebene Wort zu brechen,

jemandes Frau Gewalt anzutun oder zu entführen, jemandem die

Waffe wegzunehmen, jemandes Gast zu beleidigen, bei jemandem

einzubrechen, Schulden oder Verpflichtungen nicht einzuhalten,

bei jemand anderem den Deckel vom Topf auf dem Herd

abzunehmen, die Vortrittsrechte des Gastes beim Eintunken des

nderë) kann nur einDy gisht nderë në lule të) (§§ 593-596). Ehrverletzungen

Einführung

xxvi

ersten Bissens zu mißachten (§ 601). Die Ehre der Frau ist

Bestandteil der Ehre des Mannes. Wird sie entehrt (

nicht erst durch eine vollzogene Vergewaltigung geschieht -, ist

dies die denkbar schwerste Verletzung der Ehre des Mannes. In

diesem Fall gilt nicht einmal pro forma das ohnehin durch die

Anforderungen des Ehrbegriffs ausgehöhlte Prinzip: "Eine Schuld

soll nicht mit Blut vergolten werden" (

Diese Wertigkeit ist in zwei Zusammenhängen von Bedeutung:

Erstens erklärt sie, warum in Nordalbanien das Ansehen der

deutschen Besatzungssoldaten wesentlich höher war als 2das der

Italiener, weil nämlich Geiselerschießungen immerhin keine

Ehrverletzung darstellten, im Unterschied zu den angeblich

häufigen sexuellen Übergriffen italienischer Soldaten. Zweitens

muss man wegen ähnlicher traditioneller Wertemuster hier auch

eines der Motive für die Massenvergewaltigungen in den Kriegen

im früheren Jugoslawien suchen.

dhunue) - wasgjaku per faj s‘jet) (§ 921).



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New PostErstellt: 11.03.08, 21:59  Betreff: Re: Der KANUN - Der Gast  drucken  weiterempfehlen

Der Gast

Die Ehre hängt in vielen Fällen mit einem anderen

Kernstück des Kanun zusammen, dem Gast (

Albaners gehört Gott und dem Gast" (

Zotit e e mikut

mit "Freund" übersetzt werden, weil seine Grundlage nicht eine

dauerhafte Beziehung zwischen zwei Menschen ist. Das

Verhältnis zwischen Hausherr und Gast ist ein zeitlich begrenztes,

und es ist nicht das Verhältnis zwischen zwei Individuen, sondern

zwischen allen Teilen der Gesellschaft, von dem auch Fremde

profitieren können. Die Gastfreundschaft ist nicht Ergebnis einer

besonders hoch entwickelten Ethik, sondern zunächst eine

Überlebensnotwendigkeit für jeden, der in einem Gebiet reist, das

kaum öffentliche Beherbergungsmöglichkeiten kennt. Dies wird

mik) "Das Haus desShpija e shqyptarit asht e, § 602). mik (aus lat. amicus) kann im Kanun nicht

Einführung

34

zerrissene April.

Yamamoto:

Analysis of the Ethics.

xxvii

Zum Konzept des göttlichen Gastes: Ismail Kadare: DerSalzburg, Wien 1989, bes. S. 74-75, 84; KazuhikoThe Tribal Customary Code in High Albania: A StructuralVortragsms. 1994.

seit Jahrtausenden überhöht bis zu dem Punkt, im ankommenden

Gast einen (potentiellen) Gott zu sehen, der Verstöße schrecklich

bestrafen kann: Thor kehrt bei einem Bauern ein, schlachtet einen

seiner Widder und verbietet, dessen Knochen zu spalten; der Sohn

des Bauern tut es dennoch, was Thor bei der Wiederbelebung

seines Tieres merkt und den Sohn als Diener mitnimmt. Tantalos

setzt den Göttern seinen Sohn Pelops vor; sie merken den Frevel

und stürzen Tantalos in die Unterwelt. Gott, Jesus oder St. Petrus

wandern durch die Welt und werden in reichen Häusern

abgewiesen, in armen aufgenommen; Strafe und Belohnung folgen

auf dem Fuße

Der Gast wird mit dem größtmöglichen Aufwand

verpflegt, beherbergt, geehrt und geschützt; letzteres wird durch

die Übergabe der Waffe an den Hausherrn symbolisiert

(§§ 602-618). Der Schutz schließt die Verteidigung des Gastes

gegen jeden Angriff und jede Ehrverletzung im Haus und auf der

Weiterreise ein, bei der ein Haushaltsmitglied ihn begleiten muss;

der Hausherr übernimmt zugleich die Verantwortung für

Verfehlungen des Gastes. Die Gastfreundschaft muss auch einem

Feind gewährt werden. Sie endet in dem Moment, wo der Gast

und sein Begleiter sich trennen; wenn der Begleiter sich

abgewendet hat, braucht er nicht mehr für den bisherigen

34.mik

einzutreten oder seinen Tod zu rächen (§§ 620-639). Beim Essen

sind genaue Reihenfolgen und Verhaltensweisen zu beachten ( §§

653-666), auch durch den Gast, der den Teller nicht auskratzen

oder mit Brot auswischen und auch den Herdstein nicht berühren

Einführung

35

xxviii

Kadare, S.84.

darf

Letzteres wird wohl als symbolisches Umstürzen des Hauses

verstanden.

Wer sich in der Kirche (außer wenn er ausdrücklich ans

Kirchenasyl appelliert, § 4), der Schmiede, der Mühle oder der

Herberge aufhält, gilt nicht als Gast; d.h. die Inhaber dieser

gemeinnützigen Einrichtungen haften nicht für Schäden, die er

erleidet oder anderen zufügt (§ 315).

35; eine solche Beleidigung würde das Gastrecht aufheben.



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New PostErstellt: 11.03.08, 22:00  Betreff: Re: Der KANUN - Ehe und Frauen  drucken  weiterempfehlen

Ehe und Frauen

Außer der Ehe ist keine Form der Beziehung zwischen

Mann und Frau zulässig (§ 29). Ein junger Mann darf sich nur

dann mit seiner künftigen Ehe befassen, wenn sein Vater tot ist,

eine junge Frau niemals (§§ 30-31). Eine Frau erbt nicht und

besitzt nichts (§ 44). Während der junge Mann eine Verlobung

aufkündigen kann, können die Eltern ihre Tochter zur Heirat

zwingen und den Mann durch die mitgegebene Patrone

ermächtigen, sie straffrei zu töten, falls sie fliehen sollte; wenn die

Eltern die ablehnende Haltung der Tochter billigen, darf sie ohne

Erlaubnis ihres bisherigen Verlobten keinen anderen heiraten,

solange dieser lebt, auch wenn er selbst heiratet (§§ 42-43). Unter

Hinzuziehung von 12 Eideshelfern kann ein Mädchen ewige

Jungfräulichkeit schwören und dann Nonne oder Dienerin eines

Priesters werden, oder es kann sich als Mann kleiden und wie ein

Mann leben, allerdings ohne Stimmrecht in der Versammlung (§

1228). Diese Sonderrolle der

verbreitet und in jedem Fall selten. Offenbar war diese Rolle nicht

so sehr als letzter Ausweg vor einer ungewollten Ehe gedacht,

sondern als Rettungsanker für eine Familie ohne Söhne; so konnte

virgjën ist offenbar nur regional

Einführung

36

Durham, S. 194, 211; Kaser, S. 286-87; Antonia Young:

Women who become men. Albanian Sworn Virgins.

2000.

Oxford, New York

37

xxix

Kaser, S. 287.

die Vererbung des Besitzes innerhalb der Familie gesichert

werden

Die Frau bleibt entsprechend dem Prinzip der

Blutsverwandtschaft Mitglied der elterlichen Familie, die die

Blutrache auf sich nimmt, wenn die Frau jemanden tötet, und die

zur Blutrache verpflichtet ist, wenn jemand, z. B. ihr Ehemann,

die Frau tötet (§ 57). Der Ehemann darf sie beliebig arbeiten

lassen, sie - in gewissen Grenzen - schlagen und sie verlassen.

Wenn sie Ehebruch begeht oder die Gastfreundschaft verletzt, darf

er sie straflos töten; für diese Fälle legen die Eltern der Aussteuer

die erwähnte Gewehrpatrone bei (§ 57). Uneheliche Kinder waren

nicht nur vom Erbrecht und von der Teilnahme an der

Gemeinschaft ausgeschlossen; ihre Geburt wurde durch die

Hinrichtung der Eltern bzw. die Tötung des Mädchens durch die

eigene Familie meist verhindert; gelang dem Mädchen die Flucht,

waren sie und ihr Kind für immer verbannt (§ 929-931)

36.37.



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New PostErstellt: 11.03.08, 22:01  Betreff: Re: Der KANUN - Die Rache  drucken  weiterempfehlen

Die Rache

Die Blutrache (

Todesstrafe, die von der Gemeinschaft wegen Delikten, die die

Gemeinschaft als solche bedrohen, von der Familie (der

patrilinearen Verwandtschaft) des Geschädigten innerhalb der

Regeln des Kanun vollstreckt. Sie betrifft nur Männer; auf Frauen

und Kinder darf ebensowenig wie auf Vieh und Häuser

gjak, gjakmarrje) wird, anders als die

Einführung

38

xxx

Hasluck, S. 229.

geschossen werden (§§ 835-836). Der Ausführende eines

Anschlags, ebenso der Anstifter, meist auch die Mittäter fallen

unter die Blutrache (§§ 822-842). Bei Tötungen wird zwischen

Mord und unbeabsichtigter (fahrlässiger) Tötung unterschieden;

letztere ist straflos (§§ 932-938).

Der Mörder (

informieren, damit kein falscher Verdacht aufkommt, und für den

Transport des Toten zu dessen Familie sorgen. Auf keinen Fall

darf er dessen Waffe stehlen; wenn er sie zum Beweis seiner Tat

mitnimmt, muss er sie der Familie des Opfers schicken

durch Vermittler zunächst einen 24stündigen Waffenstillstand

(

die Familie kann noch einen weiteren 30tägigen Waffenstillstand

gewähren, muss es aber nicht. Gelingt es der Familie des Opfers,

den Mörder, ohne dass eine

Stunden zu töten, gilt dies als vollzogene Blutrache, danach

eröffnet die Tötung des Mörders eine neue Blutrache (§§ 843-

873). Außerdem muss an das Banner eine hohe Geldstrafe von

3000 Grosh, 100 Schafen und einem halben oder ganzen Ochsen

gezahlt werden, für Verwundungen die Hälfte (§§ 892-895), in der

Mirdita zusätzlich noch 500 Grosh an die Gjonmarkaj. In der

ursprünglichen Form des Kanun richtete sich die Rache nur gegen

den tatsächlichen Mörder, später gegen jeden männlichen

Verwandten (§§ 898-900). Auch die Tötung in Selbstverteidigung,

zur Abwehr eines Raubes, einer Brandstiftung oder wegen einer

Beleidigung zieht Blutrache nach sich, obwohl die Ehre es häufig

verlangt, zur Waffe zu greifen (§§ 909-915). Die eigene Frau und

ihren Liebhaber darf man nur in flagranti mit einem einzigen

Schuss töten, ohne Blutrache auf sich zu ziehen; sonst ist der

dorëras) muss die Familie des Opfers38. Er mussbesë) erwirken und an der Beerdigung seines Opfers teilnehmen;besë gewährt wurde, binnen 24

Einführung

xxxi

Stamm, das Dorf oder das Banner verpflichtet, die Ehebrecher

hinzurichten (§§ 920-931).

Selbst Tötungen innerhalb der Familie sind genau

geregelt: Selbstmord und Tötung des Sohnes durch den Vater sind

straffrei, für Brudermord ist nur die Geldstrafe zu zahlen, weil

keine andere Familie da ist, bei der man das Blut nehmen könnte;

auf Vatermord steht die Todesstrafe, weil er die maximale

Verletzung des patriarchalen Systems darstellt; Tötung des

Ehepartners oder der Mutter löst Blutrache mit der Familie der

Ermordeten aus (§§ 958-964).

Versöhnungen können durch Vermittler (

Bürgen (

meist im Kriegsfall) zustandekommen (§§ 965-990). Die

langwierigen Vermittlungsverfahren, die durch die Familie des

zuletzt Ermordeten beliebig abgebrochen werden können, enden

im Erfolgsfall mit einer Blutsbrüderschaft, die auch Heiraten im

Wege stehen (§§ 988-990). Es gibt Spezialisten für das

Gewohnheitsrecht in Kosovo und in Nordalbanien, die sich seit

Jahrzehnten hauptsächlich mit der Aussöhnung verfeindeter

Familien befassen.

Es bleibt die Frage, warum es die Blutrache nicht beim

Talionsprinzip belässt und die ursprüngliche Tötung nicht mit

einer weiteren Tötung tilgt und so die Affäre beendet, sondern zu

einem "Pingpongspiel" ausartet, das sich über viele Generationen

hinzieht. Der ungarische Geograph und Ethnograph Baron Nopcsa

untersuchte Gemeindestatistiken der Jahrhundertwende und führte

23-42% aller Todesfälle bei Männern auf Mord zurück. Der Grund

dürfte darin liegen, dass die Blutrache mehr ist als bloße

Rechtspflege - denn wenn die Gesellschaft der nordalbanischen

Berge sich für eine Reihe von Verstößen Institutionen,

Verfahrensweisen und Sanktionen geschaffen hat, hätte sie dies im

Prinzip auch für alle Tötungsdelikte tun können. Karl Kaser

ordnet sicher zu Recht die Blutrache in den Ahnenkult ein: Die

shkues) unddorzân) oder im Rahmen einer Generalamnestie (dies

Einführung

39

xxxii

Kaser, S. 275-279.

Seele des Ermordeten kann erst dann Ruhe finden, wenn sein Tod

gerächt wurde

39.



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New PostErstellt: 11.03.08, 22:02  Betreff: Re: Der KANUN - Staatliches Recht  drucken  weiterempfehlen

Staatliches Recht

Alle albanischen Regimes, besonders die etwas

langlebigeren unter Ahmet Zogu und unter der Partei der Arbeit

Albaniens (PPSH), haben versucht, in ganz Albanien modernes

staatliches Recht durchzusetzen. Zogus Möglichkeiten waren aus

strukturellen Gründen gering; außerdem hatten etliche

Stammesführer, zu denen er selbst auch gehörte, bei seiner

Machtübernahme 1924 eine entscheidende Rolle gespielt; auch die

Besatzungsregimes haben sich maßgeblich auf die Stammesführer

gestützt. Damit standen die meisten von ihnen in scharfer

Gegnerschaft zu den Kommunisten, deren Machtübernahme viele

von ihnen das Leben kostete. Das kommunistische System hat für

sich in Anspruch genommen, in ganz Albanien einheitliche

Rechtsverhältnisse geschaffen zu haben. Dies sei durch eine Reihe

objektiver und subjektiver Veränderungen erreicht worden:

990. demographischer Wandel (Generationswechsel, starke

Bevölkerungszunahme),

991. sozioökonomischer Wandel (soziale Revolution,

veränderte Klassenstruktur, beginnende Urbanisierung),

992. politische Führungsrolle der PPSH im ideologischen

Kampfe gegen die Normen des Kanun,

993. Einsatz der Strafjustiz gegen Gesetzesverstöße aufgrund

der Normen des Kanun,

994. Kulturrevolution ab 1967 mit Stoßrichtung gegen die

rückständigen Sitten des Nordens,

Einführung

40

për zhdukjen e mbeturinave të saj në Shqipëri.

Ismet Elezi: E drejta zakonore penale e shqiptarëve dhe luftaTirana 1983, S. 267-284.

41

xxxiii

Populli Po. 31.7.1994.

995. Kampf gegen die Religionen,

996. Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen die

Überreste des Gewohnheitsrechts

Der fast übergangslose Zusammenbruch der

realsozialistischen Ordnung und der mit ihr verbundenen

Grundwerte hat ein Vakuum hinterlassen, das die schwachen

Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaats nicht ausfüllen

konnten. Die totale Abwertung der vergangenen 50 Jahre

bedeutete gleichzeitig eine Aufwertung früherer Verhältnisse und

Werte, gegen die die Kommunisten angetreten waren.

Ordnungselemente des Kanun hätten z. B. bei der Landverteilung

eine stabilisierende Rolle spielen können, doch ist das

Gewohnheitsrecht ein so weitgehend geschlossenes System, dass

auch die destruktiven, mit dem Rechtsstaat unvereinbaren

Elemente des Kanun nach dem Wegfall der staatlichen Repression

wiederbelebt wurden. Diese Unvereinbarkeit zeigte sich schon

1991 an der (bereits im Ansatz widersinnigen) Gründung einer

Partei "Rache nach dem Kanun", die wegen

Verfassungswidrigkeit nicht zugelassen wurde

40.41.



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New PostErstellt: 11.03.08, 22:03  Betreff: Re: Der KANUN - Alte Fälle und neue Motive  drucken  weiterempfehlen

Alte Fälle und neue Motive

Bei den Blutfehden, die jetzt wieder aufleben oder erst neu

entstehen, sind folgende Motive erkennbar:

Einführung

42

Sokol Mici: Wiederaufleben der Blutrache in Albanien, in:

Albanische Hefte,

21 (1992) 2, S. 20-21, Fall Kapllani.

43

Mici, Fall Gjeka; Der Spiegel 27.2.1995, Fall Ropaj.

44

Der Spiegel 27.2.1995.

45

xxxiv

Der Spiegel 27.2.1995.

1. Eine jahrzehntealte Blutschuld ist noch offen und wird

jetzt beglichen

2. Rache gegen Funktionäre des kommunistischen Systems

(Polizisten, Sigurimi-Mitarbeiter) wegen deren

Übergriffen;

3. Eskalation eines Streits (häufig aus politischen Gründen)

zur Ehrverletzung

4. Übergriffe gegen Frauen, vor allem Nötigung zur

Prostitution

5. objektiv fahrlässige Tötungen, die dennoch als Mord

gewertet werden

6. Streit um Grundstücksgrenzen, Bewässerungskanäle u.a.;

hier hat die Kollektivierung den Grundsatz der

prinzipiellen Unveränderbarkeit von Grundstücksgrenzen

und der Pflicht zur genauen Demarkation (§ 242)

aufgehoben. Nach dem Kanun ist der Grenzstein den

Gebeinen der Toten gleichgestellt (§ 243).

Daraus folgt, dass, wenn keine gütliche Einigung mit Hilfe

der Ältesten möglich ist, die Auseinandersetzung mit der Waffe

Ausschlag gebend ist: Grenzpunkt wird der Steinhaufen, der einen

im Grundstücksstreit Getöteten bedeckt (§ 255); ein schwer

Verletzter soll sich mit letzter Kraft vorwärts schleppen, um so die

42;43;44;45;

Einführung

46

Der Spiegel 27.2.1995, Fall Dullaj.

47

Rilindja Demokratike 5.1.1995.

48

xxxv

so Der Spiegel 27.2.1995.

Grenzen seines Hauses, Dorfes, Stammes usw. vorzuschieben (§

259)

Die Angaben über die Zahl der Blutrachetoten seit der

politischen Wende schwankt. Für 1994 gab der damalige

Innenminister Agron Musaraj 265 Fälle vorsätzlicher Tötung an,

von denen 228 aufgeklärt seien; er schlüsselte die Motive nicht

auf. In den Bezirken des nördlichen Berglandes sei die Zahl der

Blutrachetoten stark gestiegen

behaupten

Menschen würden ihre Häuser nicht mehr verlassen. Das Bild

wird verfälscht, weil in vielen Fällen die Täter oder die

Beobachter Elemente des Kanun in "normale" Gewaltkriminalität

hinein interpretieren.

46.47. Bürgerrechtler in Tirana48, es habe seit 1991 bereits 5.000 Tote gegeben; 60.000



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