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Suave
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New PostErstellt: 13.12.07, 10:20     Betreff: Dort im Kaukasus



Simon Sebag Montefiore:

Der junge Stalin
Das frühe Leben des Diktators 1878 - 1917
Fischer S. Verlag GmbH
Oktober 2007

Artikel über das Buch

Chorsänger, Bankräuber und Sexbesessener


30. November 2007 Die Danksagung am Ende
des Buches lässt die Dimensionen des Unternehmens ahnen. Weit über
einhundertfünfzig Personen werden hier namentlich genannt.
Hochgestellte Funktions- und Würdenträger gehören dazu, wie der
Präsident der Republik Georgien, Saakaschwili, und seine Frau, Fürst
David Chavchavadze und Fürstin Marusya, der Botschafter Ihrer Majestät
in Georgien und der Chef des georgischen Fernsehsenders Rustawi-2, Sir
Evelyn de Rothschild und Seine Durchlaucht Fürst Karl zu Schwarzenberg.
Die Verlagsankündigung weist auch darauf hin, dass Simon Sebag
Montefiore selbst einer der ältesten jüdischen Familien Großbritanniens
entstammt, dass sein Urururgroßvater von Queen Victoria geadelt wurde
und dass der Autor und seine Ehefrau mit Prinz Charles und Camilla, der
Herzogin von Cornwall, befreundet sind.

Fast zwei Dutzend Archive
und Museen hat der Autor besucht, in Georgien (Tiflis, Gori und
Batumi), in Russland (Moskau, Petersburg, Wologda und Atschinsk), in
Aserbaidschan, in Finnland, in Schweden und den Vereinigten Staaten.
Immense Aktenbestände konnten dabei eingesehen, zahlreiche publizierte
und unpublizierte Erinnerungen ausfindig gemacht, Gespräche mit
Nachkommen von Zeitgenossen (in seltenen Fällen auch mit solchen
selbst) geführt werden - immer dem großen Thema, dem "jungen Stalin",
auf der Spur. Fast zehn Jahre hat ihn der Autor verfolgt, das
vorliegende Buch sei das Ergebnis dieser langen Recherchen. Der "junge
Stalin" - das sind die Jahre, als er noch nicht so hieß, vor der
Revolution: Es sind die Jahre der Kindheit im georgischen Gori, wo
Josef (mit dem Kosenamen Sosso) am 6. Dezember 1878 als Sohn des
Schusters Wissarion Dschugaschwili und seiner Ehefrau Keke geboren
wurde. In dieser kaukasischen Kleinstadt, am Flüsschen Kura, mit
einigen tausend Einwohnern, wo jeder jeden kannte, wuchs er auf - mit
einem Vater, der immer mehr dem Alkohol verfiel, und einer Mutter, die
sich und den Sohn mit Putz- und Wascharbeiten durchzubringen suchte.
Geprägt wurde er von einer traditionalen Gewaltkultur vor Ort, aber
auch von einer Zeit, die ihn noch als Heranwachsenden die öffentliche
Hinrichtung von zwei räuberischen ossetischen Bauern durch den Strang
miterleben ließ. Und für das Leben gezeichnet war er von einer im
Kindesalter überstandenen Pockenkrankheit.


 

Die Mutter wollte, dass Josef Priester werden sollte,
und meldete ihn in der Kirchschule an. Er lernte gut, sang im Chor mit
und schuf sich damit das Entree für das geistliche Seminar in Tiflis,
der georgischen Hauptstadt, 70 Kilometer von Gori entfernt, mit der
Eisenbahn zu erreichen. Auch hier fügte sich Josef zunächst ein (er war
inzwischen 16), bekam in Betragen eine Eins, sang weiter im Chor mit,
hatte gute Noten, großes Interesse an der Literatur, wozu schließlich
auch "verbotene Bücher" kamen, und schrieb romantische Gedichte auf
Georgisch (von denen einige veröffentlicht wurden). Doch das Seminar
war zugleich eine Brutstätte marxistischer Zirkel, die schließlich
Sosso in ihren Bann zogen; die Konflikte nahmen zu, die Betragensnoten
wurden immer schlechter, 1898 war er Mitglied der eben gegründeten
Sozialdemokratischen Partei geworden, 1899 verließ er die Schule ohne
Abschluss.

In den folgenden Jahren beteiligte sich Koba, wie seine Freunde ihn
nun nannten, an der Organisation von konspirativen Versammlungen, von
Demonstrationen und Streiks in Tiflis und Batumi (dem Ölhafen am
Schwarzen Meer), immer auch in innerparteiliche Querelen verwickelt und
auf der Flucht vor der Ochrana (der zaristischen Geheimpolizei), ihren
Spitzeln und Doppelagenten. Gegner verdächtigten ihn, selbst ein
solcher zu sein. Im Frühjahr 1902 erstmals verhaftet, wurde er nach
Sibirien verbannt und floh. Ein halbes Dutzend weiterer Verhaftungen,
Verbannungen, Fluchten sollten folgen; allzu schwer war es nicht, sich
vom Verbannungsort abzusetzen, denn das zaristische Überwachungssystem
- wie Trotzki einmal sagte - soll "löchrig wie ein Sieb" gewesen sein.

Im
Januar 1904 war Koba, der nun wechselnde Decknamen benutzte, zurück in
Tiflis, setzte seine Untergrundarbeit fort, in West-Georgien, wo die
Bauern rebellierten, in Kutaissi, in der aserbaidschanischen
Ölmetropole Baku. Die revolutionären Unruhen 1905/06 boten ein breites
Betätigungsfeld, ließen ihm kaum Zeit für Privates: Immerhin fand seine
kirchliche Trauung mit Jekaterina (Kato) Swanidse statt, die ihm im
Jahr darauf seinen Erstgeborenen (Jakow) schenkte. In diesen Jahren
lernte er auch zum ersten Mal Lenin und die Parteiführung kennen, auf
dem 4. Parteitag in Stockholm (im April 1906). Bei den
innerparteilichen Auseinandersetzungen, die zur Spaltung in zwei
Fraktionen (Bolschewiki und Menschewiki) geführt hatten, tendierte Koba
(obwohl das Kaukasus-Gebiet eher eine Hochburg des Menschewismus war)
zur maximalistischen Haltung Lenins. Und was Lenin an dem "prächtigen
Georgier" zu schätzen begann, war wohl dessen zupackende Art, wozu auch
die Bereitschaft gehörte, mit einer Gruppe äußerst zwielichtiger,
vierschrötiger Spießgesellen "Expropriationen", Banküberfälle und
Schutzgelderpressungen durchzuführen, die nicht unerheblich zur
Parteifinanzierung beitrugen.

Das Jahr 1912 brachte den
vorläufigen Höhepunkt in Kobas politischer Karriere: Er wurde ins
Zentralkomitee kooptiert und an der Herausgabe des Parteiorgans
"Prawda" beteiligt. Wieder einmal verhaftet und verbannt, floh er
erneut, traf Lenin in Krakau und besuchte Wien. In dieser Zeit legte er
sich den Decknamen Stalin (der "Stählerne") zu, bevor er Anfang 1913
zum sechsten Mal verhaftet und diesmal auf längere Zeit aus dem Verkehr
gezogen wurde. Er wurde nach Sibirien, ins Gebiet von Turuchansk am
Polarkreis, verbannt und verblieb dort bis zum März 1917, als ihm eine
Amnestie nach dem Sturz des Zaren die Rückkehr erlaubte. Allzu erpicht
scheint er nicht gewesen zu sein, wieder auszubrechen. Russland war im
Krieg, die Partei mit Spitzeln durchsetzt, ihre Organisation fast
aufgerieben, und Stalin hatte es sich im Dörfchen Kurejka am Jenissej
kommod gemacht. Er ging zur Jagd und zum Fischen, besuchte Mitverbannte
in Nachbarorten und hatte mit einem - allerdings erst dreizehnjährigen
- Mädchen eine Liebschaft begonnen, aus der nun ein (unehelicher) Sohn
hervorging.

Die Spuren dieses "jungen Stalin" zu verfolgen ist
keine leichte Sache, schließlich hatte der Diktator - erst einmal zur
Macht gekommen - keine Mühen gescheut, sich selbst und die eigene
Jugend neu zu erfinden, um sich als Lenins gelehrigster Schüler, als
seine rechte Hand, als seinen Ratgeber, als seinen einzig legitimen
Nachfolger und Erbe darzustellen. Was nicht in dieses Bild passte,
wurde rigoros retuschiert, weggesperrt, vernichtet. Gegner verschwanden
von Fotos, selbst in vermeintlich wissenschaftlichen Darstellungen
tauchten sie nicht mehr auf, Fehlendes wurde hinzuerfunden, historische
Wahrheit und Fälschung ununterscheidbar. Eine restriktive Handhabung
des Archivzugangs sorgte dafür, dass dies sogar nach Stalins Tod so
blieb. Das änderte sich erst mit dem Zerfall der Sowjetunion und der
schrittweisen Öffnung der Archive. Auch wenn nur Teile des amtlichen
Nachlasses freigegeben wurden (der Großteil liegt noch im
Präsidentenarchiv in Moskau unter Verschluss), wissen wir heute
bedeutend mehr über seinen Regierungsstil, das "stalinistische System",
seine persönliche Verstrickung in die Staatsverbrechen und über die
private Seite seines Lebens.

Sebag Montefiore interessiert das
Private besonders, und darauf bleibt seine Betrachtung fixiert. Sie
kreist um Stalin, den jungen Chorsänger und Gedichteschreiber, um den
kaukasischen Bankräuber, Schutzgelderpresser und seine Banditen, um den
Sexbesessenen und seine vielen Liebschaften. Das deuten schon die
Kapitelüberschriften an: "Schläger, Ringer und Chorknaben", "Der
Dichter und die Priesterschaft", "1905: Kämpfer, Gassenjungen und
Schneiderinnen", "Der Boss der Schwarzen Stadt: Plutokraten,
Schutzgelderpressung und Piraterie", "Zwei verlorene Verlobte und eine
schwangere Bäuerin", "Das Zentralkomitee und ,Zierpüppchen', das
Schulmädchen", "Reisen mit der geheimnisvollen Valentina", "Der
Geheimpolizisten-Ball: Verraten in Frauenkleidung", "1914: Eine
arktische Sexkomödie" oder "Stalins Rentierschlitten und ein
sibirischer Sohn". So begegnen wir hier nicht nur den beiden
Angetrauten (Jekaterina Swanidse und Nadeschda Allilujewa), sondern
mindestens zehn weiteren jungen Frauen, bei denen nachzuweisen, zu
vermuten oder denkbar ist, dass sie ein sexuelles Verhältnis mit dem
jungen Stalin hatten. Hier fügt die Darstellung unserem Kenntnisstand
manches, vieles hinzu. Wen dagegen mindestens ebenso sehr interessieren
würde, welche politischen Positionen der junge Stalin in seinen ersten
Artikeln vertrat, welche Rolle er beim Aufbau der sozialdemokratischen
Parteiorganisation im Kaukasus spielte, wie tief der Riss zwischen
Bolschewiki und Menschewiki dort wirklich ging, ob Stalin die
Verwerfungen, die Wechselbeziehungen zwischen politischen, sozialen und
nationalen Fragen im Geschehen des Jahres 1905 wahrnahm, thematisierte,
wird dazu kaum etwas finden. Eine wichtige Quelle sind für den Autor
die publizierten und unpublizierten Memoiren zahlreicher Zeitgenossen,
die er - vor allem in georgischen Archiven - ausfindig machen konnte.
Wie weit ist ihrem Erinnerungsvermögen zu trauen, wenn sie ihre
Aufzeichnungen erst Jahrzehnte später niederschrieben? Wie weit der
Aussagekraft ihrer Darlegungen, wenn Stalin inzwischen an den Hebeln
der Macht saß, zum alles beherrschenden Staatsmann aufgestiegen war?
Inwieweit mobilisierte dies nicht nur ihre Schere im Kopf, sondern
veränderte darüber hinaus ihr Bild von der Vergangenheit?

Fragen
über Fragen, die auch der Verfasser stellt. Doch er begegnet daraus
resultierenden Zweifeln eher mit burschikoser Zuversicht - und erwartet
das gleiche robuste Vertrauen offenkundig von seinen Lesern: Obwohl das
Buch - grob geschätzt - zu einem Viertel, vielleicht auch zu einem
Drittel aus Zitaten besteht, ist kein einziges belegt, auf Fußnoten
wird generell verzichtet. Wer's genauer wissen will, wird im Anhang auf
zwei Internetadressen verwiesen. Den professionellen Historiker wird
das kaum befriedigen. Oder sollte das Buch für ihn gar nicht
geschrieben sein? Wendet es sich bewusst und vor allem an einen
"breiteren Leserkreis"?

Simon Sebag Montefiore: "Der junge
Stalin". Das frühe Leben des Diktators 1878 -1917. Aus dem Englischen
von Bernd Rullkötter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 608
S., 24,90 [Euro].






Buchtitel: Der junge Stalin - Das frühe Leben des Diktators 1878-1917

Buchautor: Montefiore, Simon Sebag



Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2007, Nr. 279 / Seite L22





[editiert: 13.12.07, 10:30 von Suave]


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