Schleswig-Holstein unter Atomstrom
Trotz Abschaltung: Knapp die Hälfte des Stroms im Norden stammt aus Kernenergie
Kiel/Hamburg/Hannover
Knapp ein Jahr nach dem Fukushima-Schock werden die Vorbereitungen für die Energiewende eingeläutet. Zwei der drei Kernkraftwerke (KKW) in Schleswig-Holstein,
Krümmel und Brunsbüttel, sind bereits abgeschaltet. Das KKW Brokdorf
soll nach dem von der Bundesregierung beschlossenen Atomausstieg 2021
abgeschaltet und stillgelegt werden. Gleichwohl: Die Kernenergie im
nördlichsten Bundesland ist noch der bestimmende Energiefaktor im
Norden, auch wenn diverse Pannen und Abschaltungen den Betrieb der
Meiler Brunsbüttel und Krümmel seit 2007 begleiteten und das KKW
Brokdorf als einziges relativ konstant im Betrieb war. Eine Übersicht:
Energiebilanz
Im Jahr 2010 wurde nach Angaben des Statistikamtes Nord
„trotz der weiter bestehenden Abschaltung von zwei Kernkraftwerken“
knapp die Hälfte des in Schleswig-Holstein
produzierten Stroms aus Kernenergie gewonnen – nämlich 49,8 Prozent,
nach 51,4 im Vorjahr und 50,9 Prozent im Jahr 2008. Die aktuellsten
Zahlen von 2011 liegen zwar noch nicht vor. „Die Größenordnung des
Kernenergieanteils an der Stromerzeugung in Schleswig-Holstein
dürfte aber in etwa beibehalten werden“, sagt Dr. Hendrik Tietje,
Referatsleiter im Statistikamt Nord in Hamburg. Insgesamt wurden 2010
knapp 23 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Zum Vergleich: Der
durchschnittliche Stromverbrauch eines Drei-Personen-Haushalts
liegt bei etwa 3500 Kilowattstunden pro Jahr. Welches Gewicht die
Meiler im Norden für die Energiebilanz noch haben, macht Tietje mit
einem Beispiel deutlich: „Rein rechnerisch könnte allein das
Kernkraftwerk Brokdorf den Strombedarf in Schleswig-Holstein
zu etwa 85 Prozent decken.“ Ähnlich sehen die Bilanzen der inzwischen
abgeschalteten Meiler in Krümmel und Brunsbüttel aus.
KKW Krümmel
„Das Siedewasserkraftwerk in Krümmel mit einer
Nettoleistung von 1346 Megawatt produzierte im Leistungsbetrieb rund
zehn Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr und lieferte damit etwa
30 Prozent der insgesamt in Schleswig-Holstein
erzeugten Strommenge“, sagt Alexander Hauk, Sprecher des Energiekonzerns
und Betreibers Vattenfall. Damit habe Krümmel täglich in etwa so viel
Strom produziert, wie in Hamburg verbraucht wurde. Seit Aufnahme des
kommerziellen Leistungsbetriebs Ende März 1984 seien in Krümmel gut 199
Milliarden Kilowattstunden Strom ins Netz eingespeist worden, so Hauk
weiter.
KKW Brunsbüttel
Der Siedewasserreaktor in Brunsbüttel mit einer Nettoleistung von 771 Megawatt produzierte nach Vattenfall-Angaben im Leistungsbetrieb sechs Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr. „Das entspricht etwa einem Fünftel der in Schleswig-Holstein
erzeugten Strommenge“, so Hauk. Seit Aufnahme des kommerziellen
Leistungsbetriebs Anfang Februar 1977 seien in Brunsbüttel knapp 119
Milliarden Kilowattstunden Strom ins Netz eingespeist worden.
KKW Brokdorf
Der Druckwasserreaktor mit einer Nettoleistung von 1410
Megawatt speist laut E.ON pro Jahr im Schnitt zehn Milliarden
Kilowattstunden Strom in das Höchstspannungsnetz. Seit der kommerziellen
Inbetriebnahme des Kraftwerks im Jahr 1986 wurden demnach 276
Milliarden Kilowattstunden elektrische Energie erzeugt. Was sagt die
Zahl aus? „Mit dieser Strommenge kann man die gesamte Hansestadt
Hamburg, Haushalte wie Industrie, fast 20 Jahre rund um die Uhr mit
Strom versorgen“, sagt Dr. Petra Uhlmann, Sprecherin von E.ON Erzeugung
Deutschland in Hannover.
Wirtschaftsfaktor
Der Anteil der Kernkraft am Bruttoinlandsprodukt in Schleswig-Holstein
ist „eher bescheiden“, wie es der Statistiker Dr. Hendrik Tietje
ausdrückt. Er liege bei etwa einem Prozent. Dennoch: Die Kernkraftwerke
waren und sind wichtiger Wirtschaftsfaktor, Arbeitgeber und
Gewerbesteuerzahler für die Region, sagt Manfred Duffke, Referent für
Standortpolitik der IHK in Kiel.
„Viele Unternehmen im Umfeld profitierten von Aufträgen“, bestätigt auch Vattenfall-Sprecher
Hauk. Profitierende Gewerbe seien viele kleine und mittelständische
Unternehmen. Und zwar „die üblicherweise am Kraftwerk tätig werdenden
Dienstleister wie Landschaftspfleger, Maler, Maurer, Gerüstbauer,
Elektriker, Tischler“, sagt E.ON-Sprecherin Uhlmann, „aber auch der Einzelhandel wie Bäcker, Supermärkte, Metzger und natürlich Gastronomie und Hotelgewerbe.“
Die KKW Krümmel und Brunsbüttel bestellten laut Vattenfall jährlich
Waren und Dienstleistungen im In- und Ausland mit einem Gesamtvolumen
von knapp 100 Millionen Euro. Davon seien im Falle von Brunsbüttel im
Jahr 2010 mehr als 21 Millionen Euro direkt in die Unterelberegion
vergeben worden, beim KKW Krümmel seien es mehr als 37 Millionen Euro
gewesen. Beim KKW Brokdorf sind nach E.ON-Angaben
in den vergangenen fünf Jahren jährlich Aufträge mit einem Volumen von
im Schnitt 70 Millionen Euro vergeben worden. Davon seien 20 Millionen
Euro in der Region verblieben. „Dazu kommt noch die Kaufkraft der
beschäftigten Mitarbeiter, die ja auch hauptsächlich in der Region
verbleibt“, so die E.ON-Sprecherin. Diese bewege sich ebenfalls bei 20 Millionen Euro pro Jahr.
Zudem profitiert das Land Schleswig-Holstein
vom „Wasserpfennig“ – der Oberflächenwasserabgabe. Die Einnahmen lagen
nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in Kiel zu Zeiten des Betriebs
aller drei Atomkraftwerke bei 30 Millionen Euro, beim verbliebenen KKW
Brokdorf seien jährlich etwa 15 Millionen Euro fällig.
Stilllegung als Wirtschaftsfaktor
Hätte auch ein direkter Rückbau
wirtschaftliche Bedeutung für die Region? „Dabei würden überwiegend
spezialisierte Abbruchfirmen profitieren“, sagt der Vattenfall-Sprecher.
„Auch örtliche Handwerksbetriebe und Zulieferer könnten von den
Aufträgen profitieren.“ Es gebe allerdings auch Fachfirmen aus dem
Ausland, die sich für dieses Geschäft vorbereiten.
Energiewende
Die Energiewende tragen die KKW-Betreiber
mit – das schnelle Ende der Atomkraft aber mit Zähneknirschen.
„Vattenfall respektiert die Ausstiegsentscheidung der Regierung zur
Kernenergie“, sagt Konzern-Sprecher Hauk. „Wir
halten jedoch eine angemessene Entschädigung für notwendig. Dafür prüfen
wir alle juristischen Möglichkeiten, denn der finanzielle Schaden ist
enorm.“ Ähnlich blickt E.ON auf den Atomausstieg: „Diese Entscheidung ist
rein politisch motiviert und orientiert sich in keinster Weise an den
sicherheitstechnischen Gegebenheiten im Kernkraftwerk Brokdorf. Die
damit eingeleitete Energiewende akzeptieren wir als Primat der Politik.“
Gleichwohl hat E.ON Verfassungsklage eingereicht. „Die aber richtet sich
eben nicht gegen die Energiewende“, macht Sprecherin Petra Uhlmann
deutlich. Vielmehr betreffe die Klage die vorzeitige Abschaltung der KKW
Isar 1 und Unterweser. E.ON hofft dabei auf Milliarden-Entschädigungen vom Bund.
Wolfgang Blumenthal