Brief von Boris Palmer, bündnisgrüner Oberbürgermeister der Stadt Tübingen, an den grünen Landesvorstand von Baden-Württemberg, 18.06.2008:
"Vorneweg: Ich unterstütze unsere Partei voll und ganz in der Forderung, alle Atomkraftwerke still zu legen und die Verbrennung fossiler Energieträger möglichst rasch vollständig zu beenden. Die Stadtwerke Tübingen arbeiten in diesem Sinn sehr engagiert an der Energiewende. Wir haben keinen Dissens in den politischen Zielen.
Leider zwingen mich aber Umstände, die ich nicht zu verantworten habe, zu der schwierigen Positionierung für die Beteiligung an einem Kohlekraftwerk. Mir ist bewusst, dass dies auf den ersten Blick als Widerspruch zu unserem politischen Grundkonsens erscheint. Der Bau eines Kohlekraftwerkes mit einer – wenn auch kleinen – Beteiligung eines Stadtwerks, dessen Aufsichtsratsvorsitzender Mitglied der Grünen ist, sendet ein irritierendes Signal in die Öffentlichkeit aus.
Was sind die äußeren Einflüsse, die für eine Kohlekraftwerksbeteiligung sprechen?
Zuerst eine Entscheidung, die vor meiner Amtszeit getroffen wurde. Schon im Jahr 2005 beschloss der Aufsichtsrat der Stadtwerke Tübingen mit den Stimmen aller Fraktionen des Gemeinderats die Beteiligung an der Südweststrom Kraftwerksgesellschaft, die nun in Brunsbüttel als Bauherr auftritt. Ein Ausstieg heute würde die Stadtwerke Tübingen finanziell schwer zur Ader lassen und ihr Ansehen als verlässlicher Partner stark beschädigen. Hier bin ich durch Entscheidungen gebunden, die ich heute anders treffen würde, aber nicht ungeschehen machen kann.
Geradezu tragisch ist für mich, dass die Südweststrom Kraftwerksgesellschaft zuerst den Bau eines Gaskraftwerks in Wertheim am Main vorangetrieben hatte, damit aber unserer Partei gescheitert ist. Dieses Vorhaben war im Herbst 2006 bereits sehr weit gediehen, als unser energiepolitischer Sprecher Hans-Josef Fell MdB maßgeblich dazu beitrug, einen Bürgerentscheid gegen das Kraftwerk zu befeuern. Erfolgreich, wie wir wissen. Mit Unterstützung der Grünen wurde der positive Beschluss des Gemeinderats in Wertheim in sein Gegenteil verkehrt. Die umfangreichen Vorarbeiten waren vergeblich, der Stadtwerkeverbund stand ohne Standort da. Erst nach diesem Debakel wurde die bis dahin zurückgestufte Suche nach einem Kohlekraftwerksstandort intensiviert. Das zeigt sehr deutlich: Einen Kraftwerksneubau zu verhindern ist kein Ersatz für eine konsistente Energiepolitik. Entscheidend ist, was an Stelle des verhinderten Kraftwerks gebaut oder eingespart wird.
In den letzten beiden Jahren haben sich die Rahmenbedingungen für Investitionen der Stadtwerke erheblich verändert. Einerseits sind Gaslieferungsverträge für Kraftwerke kaum noch zu bekommen. Was 2006 noch möglich schien, ist heute wesentlich schwieriger geworden. Dadurch rückt die Kohle stärker in den Vordergrund. Andererseits wurde durch die Netzentgeltregulierungsverordnung das Geschäftsmodell vieler Stadtwerke in den Grundfesten erschüttert. In der Konsequenz ist der Zwang zur Steigerung der Eigenstromproduktion erheblich gewachsen.
Weil dies in der Öffentlichkeit und auch in unserer Partei kaum wahrgenommen wird, will ich das etwas erläutern: Die seit 2007 wirksame Anreizregulierungsverordnung zwingt alle Netzbetreiber dazu, die Gebühren für die Netznutzung drastisch zu senken. Geld verdienen kann man mit den Netzen nicht mehr, oftmals werden rote Zahlen die Folge sein. Den großen Konzernen macht das nichts aus. Sie erhöhen einfach die Preise für die Stromerzeugung und machen damit die Verluste im Netzbetrieb mehr als wett. Für die meisten Stadtwerke ist die Verordnung hingegen höchst bedrohlich. Denn viele erzeugen überhaupt keinen Strom, fast alle müssen einen erheblichen Anteil zukaufen. Die Gewinne fließen damit an die vier großen Konzerne, die zusammen über 85% der Erzeugungskapazität verfügen. Die Verluste bleiben bei den Stadtwerken hängen. Das gefährdet deren eigenständige Existenz massiv.
Dass sich ein halbes Hundert Stadtwerke – überwiegend aus Baden-Württemberg – zusammen tun, um ein Großkraftwerk zu bauen, ist also Ausdruck eines Überlebenskampfes. Nur wer selbst Strom erzeugt, kann in Zukunft am Strommarkt Geld verdienen. Und wer kein Geld verdient, wird zwangsläufig verkauft. Die Stadtwerke Tübingen sind eine 100%ige Tochter der Stadt. Ich will, dass das so bleibt und deshalb benötigen wir mehr Eigenstromproduktion. Heute können wir nur 30% des Tübinger Strombedarfs selbst decken. Bis im Jahr 2015 wollen wir deutlich über 50% liegen. Die Beteiligung an einem Großkraftwerk soll dazu 10% beitragen.
Nun höre ich schon den Einwand, Eigenstromproduktion sei ja gut, aber bitte dezentral, ohne Kohle und mit erneuerbaren Energien. Richtig! Die Stadtwerke Tübingen sind dabei absolut vorbildlich. In Projekte der Kraft-Wärme-Kopplung und der erneuerbaren Energien sind bis 2015 mehr als 30 Millionen Euro an Investitionen geplant. Wir werden dann von unserer Eigenstromproduktion mehr als 80% aus erneuerbaren Energien oder aus Kraft-Wärme-Kopplung schöpfen. Nur ein Fünftel wird Kohlestrom sein, wenn wir uns Brunsbüttel engagieren. Das wird bundesweit für ein Stadtwerk dieser Größe ein Spitzenwert und meilenweit vom Strommix der vier großen Konzerne entfernt sein.
Kommt es dann auf den Kohlestrom überhaupt an? Leider ja. Denn die Investitionen in Wasserkraftwerke oder Fernwärmenetze sind meistens an der Grenze zur Wirtschaftlichkeit oder richtige Verlustbringer. Wir können uns die ambitionierten Ökologieprojekte nur leisten, wenn wir auch von den Gewinnen im Strommarkt ein Stück abbekommen. Atomkraft scheidet für uns aus, die Option Gas wurde uns aus der Hand geschlagen, mit Erneuerbaren und KWK ist kaum Geld zu verdienen. Es bleibt uns also nur die Beteiligung an einem Kohlekraftwerk.
„Halt!“ rufen nun manche. Kohle wird sehr viel teurer und die CO2-Zertifikate werden künftige nicht mehr verschenkt, sondern versteigert. Dann wird das Kohlekraftwerk eine Investitionsruine. Sicher kann ich euch überzeugen, dass mehrer hundert Stadtwerke-Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzende diese Frage gewissenhaft prüfen, bevor sie sich auf so ein Risiko einlassen. Ich habe das auch getan. Und ich hoffe darauf, dass Kohle und CO2-Zertifikate teuer werden. So lange nämlich überhaupt Kohlestrom benötigt wird, und das wird auch in den kühnsten Prognosen noch drei Jahrzehnte der Fall sein, heißt das nur: Das Stadtwerke-Kraftwerk in Brunsbüttel, das je Kilogramm Kohle und Kohlendioxid mehr Strom erzeugen kann als jedes andere Kohlekraftwerk in Deutschland, wird immer wirtschaftlicher!
Und wo bleibt bei so vielen wirtschaftlichen Zwängen der Klimaschutz? Natürlich ist ein Kohlekraftwerk mit einem Wirkungsgrad knapp unter 50% immer noch ziemlich ineffektiv. Aber was ist die Alternative? Wenn wir den Kohlestrom nicht selbst erzeugen, müssen wir ihn von anderen kaufen. Das heißt aber: mehr CO2-Emissionen aus alten Kraftwerken und Transfer der Gewinne in die Kassen der Konzerne. Das hilft dem Klima nichts. Wenn aber viele Stadtwerke sterben, dann fehlen uns die Akteure für eine Energiewende. Von den Konzernen können wir den beschleunigten Übergang zur solaren Energiewirtschaft auf absehbare Zeit nicht erhoffen. Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, um zwei Schritte voranzukommen.
Unterm Strich bin ich mit der Entscheidung sicher nicht glücklich. Doch bin ich der festen Überzeugung, dass der Austritt aus unserem Stadtwerkeverbund nur den großen Konzernen aber nicht dem Klimaschutz helfen würde. Unter gegebenen Rahmenbedingungen habe ich keine bessere Alternative.
Um so mehr hoffe ich darauf, dass es uns als Partei gelingt, den energiewirtschaftlichen Rahmen zu verändern. Wenn wir endlich eine Quotenregelung mit stark steigenden Pflichtanteilen für KWK-Strom hätten, dann könnten wir in Tübingen unsere Gewinne im KWK-Bereich schöpfen und die Überschuss-Zertifikate teuer an die großen Konzerne verkaufen. Wenn wir mit unseren Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien eine angemessene Rendite erzielen könnten, würden wir noch mehr Kleinkraftwerke bauen. Wenn wir den Billigstrom der Konkurrenten nicht per Diktat zu Dumpingpreisen durch unser Netz an Tübinger Kunden weiterleiten müssten, wären wir dem Druck der Großkonzerne nicht so extrem ausgeliefert.
All das lässt sich ändern. All das muss sich ändern. Dafür brauche ich Eure Unterstützung. Aber bitte seht mir nach, dass die Investitionsentscheidungen eines mittelständischen Unternehmens sich an den vorhandenen Gesetzen und Marktbedingungen orientieren müssen, nicht an gewünschten. Als Parteipolitiker ist das grüne Parteiprogramm für mich Richtschnur. Als Aufsichtsratsvorsitzender ist es das Wohl der Stadt und der Stadtwerke. Ich stecke in einem Dilemma, das ich nicht auflösen kann, weil Wunsch und Realität in diesem Fall in einem harten Widerspruch zueinander stehen.
Ich hoffe sehr, dass diese Erklärungen euch helfen können, meine Position zu verstehen. Ich hielte es gar nicht für richtig, wenn die Partei sie übernehmen würde. Aber auf Verständnis für meine Lage hoffe ich doch."