WZ vom 24.09.2013:
Der lange Weg zum Rückkauf
Der Hamburger Volksentscheid verpflichtet den
Senat zum Handeln gegen den Willen der Konzerne / Bürgermeister Scholz
erwartet Prozessflut
Hamburg /mlo
Nach dem Ja der Hamburger für einen Rückkauf der Energienetze steht
der Stadt ein beispielloses Verfahren bevor. Noch kaum jemand
überblickte gestern im Rathaus in Gänze die finanziellen, juristischen,
technischen und politischen Folgen der vom Wahlvolk gewollten
Vergesellschaftung der Strom-, Gas- und Fernwärmeleitungen. Der Senat
unter Olaf Scholz (SPD) muss nun umsetzen, wogegen er vehement gekämpft
hatte. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Was will die Stadt zurückkaufen?
Das Stromnetz von Vattenfall (27 500 Kilometer) zuzüglich
Umspannwerken, das Gasnetz samt Leitzentrale und technischen
Einrichtungen vom Quickborner Versorger Eon Hanse (7400 Kilometer) sowie
ebenfalls von Vattenfall das Fernwärmenetz (800 Kilometer) samt einigen
Erzeugungsanlagen.
Was kostet die Übernahme?
Unklar. Die Rückkauf-Gegner gehen von mehr
als zwei Milliarden Euro aus. Diese Schätzung basiert auf dem Kauf von
25,1 Prozent der Anteile durch die Stadt im vorigen Jahr für 543,5
Millionen Euro. Beobachter erwarten ein langwieriges Gezerre um den
Preis der Leitungen.
Wie will Hamburg das bezahlen?
Nicht aus dem Stadthaushalt, sondern über die städtische
Beteiligungsgesellschaft HGV. Die würde den Kaufpreis als Kredit
aufnehmen.
Ist der Netzbetrieb gewinnbringend?
Ja. Das Hamburger Stromnetz warf 2012 rund 48 Millionen Euro ab, das
Gasnetz 17,6 Millionen. Für das Fernwärmenetz gibt es keine Zahlen.
Rückkauf-Befürworter erwarten Profite in einer Gesamthöhe von rund 100 Millionen Euro pro Jahr.
Sinken nach dem Netzerwerb die Preise?
Nein. Was Netzbetreiber von den Kunden kassieren dürfen, ist über die Bundesnetzagentur streng reguliert.
Fließt mehr Öko-Energie?
Umstritten. Der Netzeigner muss jede Art von Energie durchleiten,
auch Atom- und Kohlestrom. „Unser Hamburg – unser Netz“ argumentiert,
dass vor allem im Fernwärmemarkt der Besitzer des Netzes mittelfristig
entscheidet, wie die Heizenergie erzeugt wird.
Zieht der Senat bei der Umsetzung des Volksentscheides mit?
Auch wenn er den Rückkauf abgelehnt hat, sagt Bürgermeister Scholz
jetzt: „Ja. Ich bin ein großer Anhänger von Volksentscheiden.“
Was wird dann mit all den anderen Vereinbarungen des Energiepakts?
Formal werden alle hinfällig. Das gilt auch für ein zwischen
Vattenfall und Hamburg vereinbartes neues Gaskraftwerk in Wedel.
Allerdings könnte Vattenfall den Bau im Alleingang realisieren.
Wie reagieren Vattenfall und E.ON Hanse?
Beide wollen ihre Netze behalten und werden das Kaufangebot der Stadt über ihre je 74,9 Prozent ablehnen. Vattenfall Deutschland-Chef
Tuomo Hatakka hat schon angekündigt, sein Unternehmen werde sich 2014
erneut um die Stromkonzession bewerben. Von E.ON Hanse wird dies für die
Gaskonzession 2016 ebenfalls erwartet.
Gingen die Konzession für die Netze automatisch an die Stadt?
Nein. Stadt und Konzerne würden als Konkurrenten gegeneinander
antreten. Als wahrscheinlich gilt aber, dass die Senatsbürokratie am
Ende ihrer eigenen Gesellschaft den Zuschlag erteilen wird.
Droht juristischer Ärger?
Reichlich. Scholz erwartet sieben Prozesse zwischen Stadt und
Vattenfall/E.ON: Drei um die Konzessionen, drei um den Kaufpreis und
einen um die Zukunft der Fernwärmenetze.
Standpunkt:
Klarer Auftrag an Scholz
Hamburgs Bevölkerung stimmt für den Rückkauf der Versorgungsnetze
Markus Lorenz
Es ist eine späte Quittung für enttäuschte Hoffnungen einstiger
Privatisierungseuphorie. Gegen den erklärten Willen ihres Senats haben
die Hamburger per Volksentscheid für den vollständigen Rückkauf der
Strom-, Gas- und Fernwärmenetze gestimmt. Knapp, aber eindeutig sagen
die Bürger ihren Politikern im Rathaus: Nehmt zwei Milliarden Euro in
die Hand und kauft zurück, was ihr in den 90ern an staatlicher
Infrastruktur verscherbelt habt. Damals konnte sich der behäbige Staat
gar nicht schnell genug aus der Daseinsvorsorge verabschieden und die
Privaten ans Ruder lassen.
Heute zeigt sich: Ob Strom, Gas oder Gesundheit, kaum etwas ist
wirklich besser geworden, seit der Markt regiert. Und schon gar nicht
günstiger. Gleichwohl ist es eine romantische Illusion zu glauben, das
Rad der Geschichte ließe sich mal eben zurückdrehen. Wie wenig das
funktionieren wird, zeigt sich gerade in Hamburg, wo sich der
Volksentscheid eben ausschließlich auf die Netze bezieht, nicht auf die
Kraftwerke. Die bleiben in der Hand der Konzerne. Ob also die
Energiewende in Hamburg durch Vergesellschaftung tatsächlich
Fortschritte macht, muss sich erst zeigen. Ebenso wie das Ausmaß des
finanziellen Risikos. Richtig ist: Zwei Milliarden neuer Schulden sind
beängstigend viel. Richtig ist aber auch: Netzbetrieb hat goldenen
Boden. Für Zins und Tilgung sollte es allemal reichen. Landespolitisch
gesehen ist mit der Abstimmung tatsächlich dem Bürgermeister der erste
Zacken aus der Krone gebrochen. Olaf Scholz hat sich persönlich mit
ganzer Kraft gegen den Rückkauf gestemmt – und verloren. Nun muss er
umsetzen, was er von Herzen ablehnt. Pikant genug, aber eben auch ein
Exempel dafür, wie ernst Politik den erklärten Volkswillen wirklich
nimmt.