Neue Zweifel an der Stromautobahn „Südlink“
Energie-Expertin: Für den Atomausstieg brauchen wir die Leitung von Schleswig-Holstein nach Bayern nicht
Berlin/Kiel
Nächsten Monat geht der Atomausstieg weiter: In der zweiten
Junihälfte schaltet der Stromkonzern E.ON sein Kernkraftwerk
Grafenrheinfeld in Bayern endgültig ab. Dann sind neun von einst
siebzehn Meilern in Deutschland stillgelegt und damit mehr als die
Hälfte, inklusive Brunsbüttel und Krümmel in Schleswig-Holstein.
Von den restlichen acht Reaktoren stehen fünf im Süden der Republik –
doch selbst sobald auch die letzten drei Ende 2022 ihre Produktion
eingestellt haben, wird Bayern auf die geplante Stromautobahn „Südlink“
von Wilster in der Elbmarsch verzichten können. Zu diesem überraschenden
Urteil kommt die Energie-Expertin Claudia
Kemfert vom renommierten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
(DIW). „Das Wohl und Wehe der Energiewende hängt nicht am Südlink“,
sagte Kemfert gestern in Berlin.
Mit ihrer Einschätzung stützt Kemfert den bayrischen
Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der die neue „Südlink“-Leitung zum
Transport von Windstrom nach Süddeutschland wegen Bürgerprotesten am
liebsten ganz verhindern oder wenigstens größtenteils durch die
benachbarten Länder Hessen und Baden-Württemberg führen will. „Wichtig für Süddeutschland ist nicht Südlink“, pflichtet Kemfert dem CSU-Chef nun bei, „sondern dass die Integration des Strommarkts mit Österreich gesichert bleibt.“ Denn dann könnten Bayern und Baden-Württemberg
bei besonders hoher Nachfrage zusätzlichen Strom von jenseits der
Grenze importieren – in der Regel aus Wasserkraft. Und selbst diese
Stromeinfuhr werde nur „in wenigen Fällen“ nötig sein, erklärte Kemfert.
Eine neue innerdeutsche Nord-Süd-Trasse
dagegen sei für den Atomausstieg bis 2022 nicht erforderlich. „Südlink
ist keine Frage für die nächsten zehn Jahre“, sagte die Expertin.
Vielmehr reiche es „später über eine weitere Leitung von Norden nach
Süden auf welcher Strecke auch immer zu reden“, meinte Kemfert: „Das
wird erst relevant, wenn deutlich mehr Windstrom kommt – also nach
2025.“
Dagegen will Netzbetreiber Tennet den „Südlink“ bis 2022
fertigstellen, wie es der Gesetzgeber vorsieht. Zwar sei das ein
„ehrgeiziges Ziel“, räumt Tennet-Sprecherin
Ulrike Hörchens ein. Doch sei der Süden Deutschlands schon bald auf
Strom aus dem Norden angewiesen: „Selbst die konservativsten Prognosen
gehen davon aus, dass Bayern in zehn Jahren ein Drittel seines
Jahresbedarfs nicht mehr decken kann“, sagte Hörchens. Sollte der
Freistaat sich dann auf den Stromimport aus Österreich verlassen,
widerspreche das nicht nur der Logik der deutschen Energiewende, sondern
sei auch riskant: „Bei Engpässen wäre die Frage, ob Österreich nicht
zuerst das eigene Land beliefert.“
Auch der grüne Kieler Energieminister Robert Habeck kritisierte Kemfert.
„Südlink ist und bleibt dringend erforderlich“, sagte er. Das habe die
Bundesnetzagentur mehrfach festgestellt. Zudem könne Bayern den
wegfallenden Atomstrom nicht allein mit Wasserkraft aus Österreich
kompensieren. Vielmehr sei dazu auch Atomstrom aus dem Ausland oder
Kohlestrom nötig. „Ohne Südlink“, sagte Habeck, „gibt es vor allem einen
Verlierer – den Klimaschutz.“
Henning Baethge