Ich hatte Urlaub genommen, ich musste einfach heraus aus der Enge der Stadt, aus dem Getriebenwerden durch das vermeintliche Muß des täglichen Einerlei. Ich war lufthungrig, einmal wieder ohne Schlips und Kragen die Füße vertreten, die Freiheit der Natur spüren die frische Bergluft in tiefen Zügen atmen können, den Luft der Latschen, der Alpenrosen, der frischen Almen zu spüren, zu erleben - aufzuleben.
Ich hatte gepackt nur das Notwendigste in meinen Rucksack gestopft, die alten ledernden Bundhosen angezogen, das Wollhemd, das karierte, die Windjacke, den alten Filzhut genommen, der mich schon so viele Jahre begleitet hat und war mit dem Auto in meine geliebten Berge gefahren.

Hier gab es noch Täler, jenseits aller Hektik, verwunschene Märchenbereiche, die sich der liebe Gott offenbar vorbehalten hatte, um von dem Ärger auszuruhen, den ihm seine Welt macht. Ich war von der Hauptstrasse abgebogen, und über einem Feldweg bis zum Waldrand gefahren. Hier parkte ich meinen Wagen, nahm den Rucksack und marschierte los. Der Weg ging sanft bergan und führte am Waldessaum und einer satten saftigen Wiese entlang. Das Gras war schon das zweite Mal gemäht worden und stand auf dem Hocken zum Trocknen. Sein Duft füllte die Luft. Es war schon später Nachmittag, und die Sonne schickte sich an, blutrot hinter den Bergen zu versinken, und tauchte alles in ein goldiges warmes Licht, als ich um eine Waldecke bog und vor mir ein kleines Bergdorf sah.

Es waren vielleicht fünfzig oder sechzig Häuser, die sich um die Kapelle wie die Küken um dien Glucke scharten, eng aneinander geschmiegt, aus dem Holz der bergigen Wälder gezimmert, das im Laufe der Jahre dunkel und fest geworden war, hier und da verzogen. Man hatte den Eindruck, dass ein Haus das andere abstützte. Es sah aus, als wenn alle Häuser sich untereinander einhakten um nicht umzufallen.
Aber vor den Fenstern hingen Blumenkästen mit bunten Blumen in üppiger Pracht, die einen seltsamen Kontrast bildeten und dem Ganzen einen versöhnlichen Liebreiz verliehen.

Ich war durch die kleine Gasse gegangen, die auf die Mitte des Platzes vor der Kapelle fuhrte. Hier plätscherte ein Brunnen und spendete köstliches kaltes, kristallklares Bergwasser. Ich genoss es in vollen Zügen zu trinken, und ließ die Romantik der Stunde tief in mich eindringen. In solchen kleinen Tiroler Ortschaften, die es hier und da noch unbeleckt von der Zivilisation gibt, reizt es mich immer, in die Kapelle zu gehen, da sich hier eine Stimmung tiefer Verinnerlichung offenbart, eine Art der Ruhe
und des Friedens, die sich harmonisch einbindet in die Landschaft mit ihren Menschen und mit ihrer Art zu leben, in tiefer Frömmigkeit, in stetem Zwiegespräch mit ihrem Herrgott. Auf dem Weg zum Eingang zur Kapelle musste ich durch den kleinen Friedhof, der vor der Eingangspforte lag. Unwillkürlich blieb ich stehen und schaute auf die Tafeln und die Kreuze mit den Bildern und den Inschriften. Es ist für mich immer ein eigentümliches Gefühl, auf einen Friedhof zu stehen, den Blick über die Gräber schweifen zu lassen, ein seltsames Gefühl der Verwunderung, der Verwunderung darüber, wie dicht das Diesseits mit dem Jenseits zusammenliegen.

Als ich hier nun stand, und die Inschriften las, war ich erstaunt, dass zwischen den dort eingelassenen
und vermerkten Geburtsdaten und den Todestagen immer nur ganz kurze Zeiträume lagen. Beim einen waren es acht Stunden, beim anderen drei Tage, bei wieder einem anderen zwanzig Stunden, dann wiederum vier volle Tage, bei einigen aber nur einige Minuten und bei einem war sogar die Geburtsstunde mit der Todesstunde gleich.In der Verwunderung versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, als ein kleines Mädchen kam, das in der Hand einen Strauß Blumen hatte, um ihn auf einen der Gräber zu legen. Ich ging auf dieses Mädchen zu und fragte: Was ist hier eigentlich passiert ? Wie kommt es, dass all die Menschen, die hier liegen, so jung gestorben sind ? Hat es hier eine schwere Krankheit gegeben, ein großes Säuglingssterben, eine Hungersnot, oder wie kommt es, dass alle nicht alt geworden sind??
Das Mädchen guckte mich zunächst verwundert an, dann lächelte es fein und sagte: Nein was Sie annehmen
stimmt alles nicht! Es ist keine Krankheit gewesen, es war auch kein Säuglingssterben, es ist nur dass
wir alle hier in unserem Ort nicht unser wirkliches Alter auf das Kreuz und Stein schreiben.
>Nicht euer wirkliches Alter<, fragte ich verwundert: Was schreibt ihr dann ?

Sie guckte zu Boden und sah mir dann mit großen dunklen Augen ruhig und gelassen ins Gesicht und antwortete: Wir schreiben hier auf unsere Kreuze und Steine nur die Augenblicke des Glücks, die wir in unserem Leben erlebt haben. Dann machte sie einen Knicks und ging leise davon.

Ich war völlig konsterniert, und ich wiederholte leise vor mich hin: Nur die Stunden des Glücks?
Wie viele Stunden habe ich dann gelebt, was würde auf meinem Kreuze stehen? Ich schaute mich um, erfasste mit einem schier hungrigen , verschlingenden Blick alles um mich herum, die Landschaft, den Ort, die kleine Kapelle, den Friedhof, die nun untergehende Sonne, die Farben, das Grün, das sanfte rot, die Wärme des Tages, die belebende Kühle, die in den Abend überging, und wusste, diese Stunde war eine Stunde des Glücks, eine Stunde, in der ich begriffen hatte, was wirklich im Leben zählt.