HAUPTSTÜCK

§§

Seite


XVIII.


275

Wie ein Musikus und eine Musik zu beurtheilen sey.


1.§




2.§




3.§




4.§




5.§




6.§




7.§




8.§




9.§




10.§




11.§




12.§




13.§




14.§




15.§




16.§




17.§




18.§




19.§




20.§




21.§




22.§




23.§




24.§




25.§




26.§




27.§




28.§




29.§




30.§




31.§




32.§




33.§




34.§




35.§




36.§




37.§




38.§


Das letzte Allegro eines Concerts muß sich nicht nur in der Art und Natur, sondern auch in der Tactart, vom ersten Satze sehr unterscheiden. So ernsthaft das erste seyn soll; so scherzhaft und lustig muß hingegen das letztere seyn. Diese nachbenannten Tactarten, als: 2/4, 3/4, 3/8, 6/8, 9/8, 12/8 Tact, können hierbey gute Dienste thun. Niemals müssen in einem Concert alle drey Sätze in einerley Tactart gesetzet werden: sondern wenn die ersten zweene Sätze im geraden Tacte stehen: so muß der letzte im Tripeltacte gesetzet seyn. Ist aber der erste im geraden Tact, und der zweyte im Tripeltacte: so kann der letzte sowohl im Tripel= als im Zweyviertheiltacte gesetzet werden. Niemals aber darf er im gemeinen geraden Tacte stehen: weil dieser zu ernsthaft wäre, und sich also eben so wenig zum letzten Satze schicken würde, als der Zweyviertheil= oder ein geschwinder Tripeltact bey dem ersten Satze eine gute Wirkung thun würde. Es dürfen auch nicht alle drey Sätze ihren Anfang in eben demselben Tone nehmen: sondern wenn die Oberstimme bey dem einen im Grundtone anfängt; kann sie bey dem andern in der Terze, und bey dem dritten mit der Quinte anfangen. Der letzte Satz geht zwar aus der Tonart des ersten: doch muß man in Ansehung der Modulationen sich hüten, daß man im letzten Satze die Tonarten nicht so nach einander berühre, wie im ersten Satze geschehen ist, um die Aehnlichkeit zu vermeiden.


39.§


Im letzten Satze muß überhaupt 1) das Ritornell kurz, lustig, feurig, doch dabey etwas tändelnd seyn. 2) Die Hauptstimme muß einen gefälligen, flüchtigen und leichten Gesang haben. 3) Die Passagien müssen leicht seyn, damit man nicht an der Geschwindigkeit gehindert werde. Mit den Passagien im ersten Satze aber, dürfen sie keine Aehnlichkeit haben. Z.E. Wenn die im ersten Satze aus gebrochenen oder harpeggirten Noten bestehen; so können die im letztern Satze stufenweise gehen, oder rollend seyn. Oder wenn im ersten Satze Triolen sind; so können die Passagien im letzten Satze aus gleichen Noten bestehen: und so das Gegentheil. 4) Das Metrum muß auf das strengste beobachtet werden. Denn je kürzer und geschwinder die Tactarten sind: je empfindlicher ist es, wenn dawider gehandelt wird. Die Cäsur muß also im 2/4= und im geschwinden 3/4= 3/8= und 6/8 Tacte allezeit auf den Anfang des zweyten Tacts, die Haupteinschnitte aber, auf den vierten und achten Tact fallen. 5 Das Accompagnement darf nicht zu vollstimmig oder überhäufet seyn. Es muß vielmehr aus solchen Noten bestehen, welche die begleitenden Stimmen, ohne große Bewegung oder Mühsamkeit, heraus bringen können: weil der letzte Satz gemeiniglich sehr geschwind gespielet wird.


40.§


Um auch bey einem Concert eine proportionirliche Länge zu beobachten; kann man die Uhr dabey zu Rathe ziehen. Wenn der erste Satz die Zeit von fünf Minuten, das Adagio fünf bis sechs Minuten, und der letzte Satz drey bis vier Minuten einnimmt: so hat das ganze Concert seine gehörige Länge. Es ist überhaupt ein größerer Vortheil, wenn die Zuhörer ein Stück eher zu kurz, als zu lang empfinden.


41.§




42.§


Eine Ouvertüre, welche zum Anfange einer Oper gespielet wird, erfodert einen prächtigen und gravitätischen Anfang, einen brillanten, wohl ausgearbeiteten Hauptsatz, und eine gute Vermischung verschiedener Instrumente, als Hoboen, Flöten, oder Waldhörner. Ihr Ursprung kömmt von den Franzosen her. Lully hat davon gute Muster gegeben. Doch haben ihn einige deutsche Componisten, unter andern vornehmlich Händel und Telemann, darinne weit übertroffen. Es geht den Franzosen mit ihren Ouvertüren fast, wie den Italiänern mit ihren Concerten. Nur ist, wegen der guten Wirkung welche die Ouvertüren thun, zu bedauern, daß sie in Deutschland nicht mehr üblich sind.


43.§


Die italiänischen Sinfonien, welche mit den Ouvertüren gleiche Absicht haben, erfodern zwar, in Ansehung der Pracht, eben dieselben Eigenschaften. Da aber die meisten von solchen Componisten verfertiget werden, die ihren Geist mehr in der Sing= als Instrumentalmusik geübet haben, so giebt es bis itzo nur noch sehr wenige Sinfonien, die alle Vollkommenheiten besitzen, und deswegen zu einem guten Muster dienen könnten. Es scheint zuweilen, als wenn es die Operncomponisten bey Verfertigung der Sinfonien so macheten, wie die Maler bey Ausarbeitung eines Conterfeyes; als welche sich der übrig gebliebenen Farben bedienen, um die Luft, oder das Gewand damit auszumalen. Indessen sollte doch billig eine Sinfonie, wie oben schon gedacht worden, einigen Zusammenhang mit dem Inhalte der Oper, oder zum wenigsten mit dem ersten Auftritte derselben haben; und nicht allezeit mit einem lustigen Menuet, wie mehrentheils geschieht, schließen. [...] Es ist ja eben nicht nothwendig, daß eine Sinfonie vor einer Oper allezeit aus drey Sätzen bestehen müsse: man könnte ja auch wohl mit dem ersten oder zweiten Satze schließen. Z.E. Der erste Auftritt hielte heroische oder andere feurige Leidenschaften in sich: so könnte der Schluß der Sinfonie mit dem ersten Satze geschehen. Kämen traurige oder verliebte Affecten darinne vor:: so könnte man mit dem zweyten Satze aufhören. Hielte aber der erste Auftritt gar keine besondern Affecten in sich, sondern diese kämen erst in der Folge der Oper, oder am Ende vor: so könnte man mit dem dritten Satze der Sinfonie schließen. Auf solche Art hätte man Gelegenheit, einen jeden Satz der Sache gemäß einzurichten. Die Sinfonie aber bliebe doch auch noch zu andern Absichten brauchbar.


44.§


Ein Quatuor, oder eine Sonate mit drey concertirenden Instrumenten, und einer Grundstimme, ist eigentlich der Probierstein eines echten Contrapunctisten; aber auch eine Gelegenheit, wobey mancher, der in seiner Wissenschaft nicht recht gegründet ist, zu Falle kommen kann. Der Gebrauch davon ist noch niemals sehr gemein geworden; folglich kann er auch nicht allen so gar bekannt seyn. Es ist zu befürchten, daß endlich diese Art von Musik das Schicksal der verlohrenen Künste werde erfahren müssen. Zu einem guten Quatuor gehöret: 1) ein reiner vierstimmiger Satz; 2) ein harmonischer guter Gesang; 3) richtige und kurze Imitationen; 4) eine mit vieler Beurtheilung angestellete Vermischung der concertirenden Instrumente; 5) eine recht baßmäßige Grundstimme; 6) solche Gedanken, die man mit einander umkehren kann, nämlich, daß man sowohl darüber als darunter bauen könne; wobey die Mittelstimmen zum wenigsten einen leidlichen, und nicht mißfälligen Gesang behalten müssen. 7) Man muß bemerken können, ob diese oder jene stimme den Vorzug habe. 8) Eine jede Stimme muß, wenn sie pausiret hat, nicht als eine Mittelstimme, sondern als eine Hauptstimme, mit einem gefälligen Gesange wieder eintreten: doch ist dieses nicht von der Grundstimme, sondern nur von den dreyen concertirenden Oberstimmen zu verstehen. 9) Wenn eine Fuge vorkömmt; so muß dieselbe, mit allen vier Stimmen, nach allen Regeln, meisterhaft, doch aber dabey schmackhaft ausgeführet seyn.

Sechs gewisse Quatuor für unterschiedene Instrumente, meistentheils Flöte, Hoboe, und Violine, welche Herr Telemann schon vor ziemlich langer Zeit gesetzet hat, die aber nicht in Kupfer gestochen worden sind, können, in dieser Art von Musik, vorzüglich schöne Muster abgeben.


45.§


Ein Trio erfodert zwar nicht eine so mühsame Arbeit, als ein Quatuor; doch aber von Seiten des Componisten fast eben dieselbe Wissenschaft; wenn es anders von der rechten Art seyn soll. Doch hat es dieses voraus, daß man darinne galantere und gefälligere Gedanken anbringen kann, als im Quatuor: weil eine concertirende Stimme weniger ist. Es muß also in einem Trio 1) ein solcher Gesang erfunden werden, der eine singende Nebenstimme leidet. 2) Der Vortrag beym Anfange eines jeden Satzes, besonders aber im Adagio, darf nicht zu lang seyn, weil solches bey der Wiederholung, so die zweyte Stimme machet, es sey in der Quinte, oder in der Quarte, oder im Einklange, leichtlich einen Ueberdruß erwecken könnte. 3) Keine Stimme darf etwas vormachen, welches die andere nicht nachmachen könnte. 4) Die Imitationen müssen kurz gefasset, und die Passagien brillant seyn. 5) In Wiederholung der gefälligsten Gedanken muß eine gute Ordnung beobachtet werden. 6) Beyde Hauptstimmen müssen so gesetzet seyn, daß eine natürliche und wohlklingende Grundstimme darunter statt finden könne. 7) Soferne eine Fuge darinne angebracht wird, muß selbige, eben wie beim Quatuor, nicht nur nach den Regeln der Setzkunst richtig, sondern auch schmackhaft, in allen Stimmen ausgeführet werden. Die Zwischensätze, sie mögen aus Passagien oder andern Nachahmungen bestehen, müssen gefällig und brillant seyn. 8) Obwohl die Terzen= und Sextengänge in den beyden Hauptstimmen eine Zierde des Trio sind; so müssen doch dieselben nicht zum Misbrauche gemachet, noch bis zum Ekel durchgepeitschet, sondern vielmehr immer durch Passagien oder andere Nachahmungen unterbrochen werden. Das Trio muß endlich 9) so beschaffen seyn, daß man kaum errathen könne, welche Stimme von beyden die erste sey.


46.§




47.§




48.§


Soll ein Solo dem Componisten und dem Ausführer Ehre machen, so muß: 1) das Adagio desselben an und vor sich singbar und ausdrückend seyn. 2) Der Ausführer muß Gelegenheit haben, seine Beurtheilungskraft, Erfindung und Einsicht zu zeigen. 3) Die Zärtlichkeit muß dann und wann mit etwas Geistreichem vermischet werden. 4) Man setze eine natürliche Grundstimme, worüber leicht zu bauen ist. 5) Ein Gedanke muß weder in demselben Tone, noch in der Transposition, zu vielmal wiederholet werden: denn dieses würde nicht nur den Spieler müde machen, sondern auch den Zuhörern einen Ekel erwecken können. 6) Der natürliche Gesang muß zuweilen mit einigen Dissonanzen unterbrochen werden, um bey den Zuhörern die Leidenschaften gehörig zu erregen. 7) Das Adagio muß nicht zu lang seyn.


49.§


Das erste Allegro erfodert: 1) einen fließenden, an einander hangenden, und etwas ernsthaften Gesang; 2) einen guten Zusammenhang der Gedanken; 3) brillante, und mit Gesange wohl vereinigte Passagien; 4) eine gute Ordnung in Wiederholung der Gedanken; 5) schöne ausgesuchte Gänge zu Ende des ersten Theils, welche zugleich so eingerichtet seyn müssen, daß man in der Transposition den letzten Theil wieder damit beschließen könne. 6) Der erste Theil muß etwas kürzer seyn als der letzte. 7) Die brillantesten Passagien müssen in den letzten Theil gebracht werden. 8) Die Grundstimme muß natürlich gesetzet seyn, und solche Bewegungen machen, welche immer eine Lebhaftigkeit unterhalten.


50.§


Das zweyte Allegro kann entweder sehr lustig und geschwind, oder moderat und arios seyn. Man muß sich deswegen nach dem ersten richten. Ist dasselbe ernsthaft: so kann das letzte lustig seyn. Ist aber das erste lebhaft und geschwind: so kann das letzte moderat und arios seyn. In Ansehung der Verschiedenheit der Tactarten, muß das, was oben von den Concerten gesaget worden ist, auch hier beobachtet werden: damit nicht ein Satz dem andern ähnlich werde. Soll überhaupt ein Solo einem jeden gefallen: so muß es so eingerichtet seyn, daß die Gemüthsneigungen eines jeden Zuhörers darinne ihre Nahrung finden. Es muß weder durchgehends pur cantabel, noch durchgehends pur lebhaft seyn. So wie sich ein jeder Satz von dem andern sehr unterscheiden muß; so muß auch ein jeder Satz, in sich selbst, eine gute Vermischung von gefälligen und brillanten Gedanken haben. Denn der schönste Gesang kann, wenn vom Anfange bis zum Ende nichts anders vorkömmt, endlich einschläfern: und eine beständige Lebhaftigkeit, oder lauter Schwierigkeit, machen zwar Verwunderung, sie rühren aber nicht sonderlich. Dergleichen Vermischung unterschiedener Gedanken aber, ist nicht nur beym Solo allein, sondern vielmehr auch bey allen musikalischen Stücken zu beobachten. Wenn ein Componist diese recht zu treffen weis: so kann man mit Rechte von ihm sagen, daß er einen höhern Grad des guten Geschmacks erreichet, und, so zu sagen, den musikalischen Stein der Weisen gefunden habe.


51.§




52.§


Der Unterschied des Geschmackes, der sich bey verschiedenen Nationen, welche an den Wissenschaften überhaupt Geschmack finden, nicht sowohl in Ansehung des Wesentlichen, als vielmehr des zufälligen der Musik, äußerst, hat in die musikalische Beurtheilung den größten Einfluß. Es ist also nöthig, diesen Unterschied des Geschmackes, in der Musik, noch etwas weitläuftiger zu untersuchen: ob ich gleich schon im Vorigen, an verschiedenen Orten, wo es nöthig war, etwas davon angeführet habe.


53.§


Jede Nation, die anders nicht zu den barbarischen gehöret, hat zwar in ihrer Musik etwas, das ihr vor andern vorzüglich gefällt: es ist aber theils nicht so sehr von andern unterschieden, theils nicht von solcher Erheblichkeit, daß man es einer besondern Aufmerksamkeit würdig schätzen könnte. Zwey Völker in den neuern Zeiten aber, haben sich besonders, nicht nur um die Ausbesserung des musikalischen Geschmackes verdient gemacht, sondern auch darinne, nach Anleitung ihrer angebohrnen Gemüthsneigungen, vorzüglich von einander unterschieden. Dieses sind die Italiäner und die Franzosen. Andere Nationen haben dem Geschmacke dieser beyden Völker den meisten Beyfall gegeben, und entweder diesem, oder jenem nachzufolgen, und etwas davon anzunehmen, gesuchet. Hierdurch sind die gedachten beyden Völker auch verleitet worden, sich gleichsam zu eigenmächtigen Richtern des guten Geschmackes in der Musik aufzuwerfen: und weil niemand von den Ausländern lange Zeit nichts dawider einzuwenden gehabt hat; so sind sie gewissermaßen, einige Jahrhunderte hindurch, wirklich die musikalischen Gesetzgeber gewesen. Von ihnen ist hernach der gute Geschmack in der Musik auf andere Völker gebracht worden.


54.§




55.§




56.§


Die Neigung der Italiäner zur Veränderung in der Musik, hat dem wahren guten Geschmacke viel Vortheil geschaffet. Wieviel berühmte große Componisten hat man nicht, bis zum Ende der ersten dreyßig Jahre dieses Jahrhunderts, unter ihnen aufzuweisen gehabt?


57.§


Jedoch die Veränderung des Geschmackes in der Musik hat sich, ohngefähr seit den fünf und zwanzig letztvergangenen Jahren, bey den Tonkünstlern der welschen Nation, auch auf eine ganz andere Art gewiesen. In den gegenwärtigen Zeiten unterscheidet sich der Geschmack ihrer Sänger und Instrumentisten überaus sehr von einander. Sie sind darinne gar nicht mehr einig. Obwohl die italiänischen Instrumentisten, vor anderer Völker ihren, den Vortheil voraus haben, daß sie in ihrem Lande, von Jugend auf, so viel Gutes singen hören: so gewöhnen sie sich in den itzigen Zeiten dennoch, einen von den Sängern so sehr unterschiedenen Geschmack anzunehmen, daß man sie kaum für einerley Volck halten sollte. Dieser Unterschied aber besteht größtentheils im Vortrage und in einem überhäuften Zusatze der willkührlichen Auszierungen. Er hat von einigen berühmten Instrumentisten seinen Ursprung genommen, welche sich von Zeit zu Zeit in der Setzkunst, besonders aber auf ihren Instrumenten, durch Ausführung vieler Schwierigkeiten, hervorgethan haben. Sie müsen aber dabey auch von so unterschiedener Gemüthsbeschaffenheit gewesen seyn, daß der eine dadurch auf diesen, der andere auf einen andern Geschmack verführet worden: welchen nachgehends ihre Anhänger immer weiter fortgepflanzet haben: so daß dadurch endlich aus einem gründlichen, ein frecher und bizarrer Geschmack entstanden ist. [...]


58.§


Zweene berühmte lombardische Violinisten, welche ohngefähr vor etlichen und dreyßig Jahren, nicht gar lange nach einander, angefangen haben bekannt zu werden, haben hierzu insonderheit viel beygetragen. Der erste war lebhaft, reich an Empfindung, und erfüllete fast die halbe Welt mit seinen Concerten. Obwohl Torelli, und nach ihm Corelli hierinne einen Anfang gemacht hatten: so brachte er sie doch, nebst dem Albinoni, in eine bessere Form, und gab davon gute Muster. Er erlangete auch dadurch, so wie Corelli durch seine zwölf Solo, einen allgemeinen Credit. Zuletzt aber verfiel er, durch allzuvieles und tägliches Componiren, und besonders da er anfieng theatralische Singmusiken zu verfertigen, in eine Leichtsinnigkeit und Frechheit, sowohl im Setzen, als Spielen: weswegen auch seine letztern Concerte nicht mehr so viel Beyfall verdieneten, als die erstern. Man sagt von ihm, daß er einer von denen sey, die den sogenannten lombardischen Geschmack, welcher darinne besteht, daß man bisweilen, von zwo oder drey kurzen Noten, die anschlagende kurz machet, und hinter die durchgehende einen Punct setzet [...] [vgl. Kap. V, §. 23, <59>], und welcher Geschmack ohngefähr im Jahre 1722 seinen Anfang genommen hat, erfunden haben. Es scheint aber diese Schreibart, wie einige Merkmale zu erkennen geben, der Schottländischen Musik etwas ähnlich zu seyn; sie ist auch schon wohl zwanzig Jahre vor ihrem Aufkommen in Italien, von einigen deutschen Componisten, hier und da, ob wohl nicht so häufig, angebracht worden: folglich könnte sie bey den Welschen nur als eine Nachahmung der itztbenennten angesehen werden. Dem sey nun wie ihm wolle, so hat doch diese Veränderung der Art zu denken, den gedachten berühmten Violinisten, vor seine Person, in den letzten Jahren seines Lebens, von dem guten Geschmacke fast ganz und gar abgeführet.


59.§


Der andere der oben erwähnten beyden lombardischen Violinisten [Corelli], ist einer der ersten und größten Meister Schwierigkeiten auf der Violine zu spielen. Er hat, wie man vorgiebt, sich einige Jahre der musikalischen Gesellschaft ganz und gar entzogen, um einen aus ihm selbst fließenden Geschmack hervor zu bringen. Dieser Geschmack ist aber so gerathen, daß er nicht nur des Vorigen seinem [Torelli], in gewisser Art, ganz entgegen ist, sondern auch im Singen unmöglich nachgeahmet werden kann; folglich nur denen Violinisten, die von der wahren guten Singart vielleicht wenig Empfindung haben, allein eigen bleibt. Wie aber jener durch die Vielheit seiner musikalischen Werke in eine Leichtsinnigkeit und Frechheit verfiel; und durch solche sich von dem Geschmacke der andern merklich unterschied: so ist dieser hingegen, in Ansehung der Singart, oder vielmehr durch Verbannung des Guten und Gefälligen so dieselbe hat, von allen andern ganz und gar abgegangen. Deswegen hat auch seine Composition nicht, mit der vorerwähnten, ein gleiches Schicksal erhalten. Es sind in derselben fast nichts als trockene, einfältige, und ganz gemeine Gedanken anzutreffen, welche sich allenfalls besser zur komischen, als zur ernsthaften Musik, schicken möchten. Sein Spielen hat zwar, weil es etwas neues zu seyn geschienen, bey denen, die das Instrument verstehen, viel Verwunderung, bey andern aber desto weniger Gefallen erwecket. [...] Es ist deswegen einem jeden jungen Musikus anzurathen, nicht eher nach Italien zu gehen, als bis er das Gute vom Bösen in der Musik zu unterscheiden weis: denn wer nicht von musikalischer Wissenschaft etwas mit hinein bringt; der bringt auch, zumal itziger Zeit, schwerlich was mit heraus. Ein angehender Musikus muß ferner, in Italien, immer mehr von Sängern, als von Instrumentisten, zu profitiren suchen. Wen aber nicht etwan das Vorurtheil verleitet, der findet nunmehro das, was er sonst in Italien und in Frankreich sich hätte zu nutzen machen können, in Deutschland.


60.§




61.§




62.§


In der Composition der itzigen italiänischen Instrumentisten, wenige davon ausgenommen, findet man mehr Frechheit und verworrene Gedanken, als Bescheidenheit, Vernunft, und Ordnung. Sie suchen zwar viel Neues zu erfinden; sie verfallen aber dadurch in viele niederträchtige und gemeine Gänge, die mit dem, was sie noch Gutes untermischen, wenig Gemeinschaft haben. Sie bringen nicht mehr solche rührende Melodien vor, als ehedem. Ihre Grundstimmen sind weder prächtig noch melodisch, und haben keinen sonderlichen Zusammenhang mit der Hauptstimme. In ihren Mittelstimmen findet man weder Arbeit, noch etwas gewagtes, sondern nur eine trockene Harmonie. [...] Sie suchen nicht die Leidenschaften so auszudrücken und zu vermischen, wie es in der Singmusik üblich ist. Mit einem Worte, sie haben den Geschmack ihrer Vorfahren, in der Instrumentalmusik, zwar verändert, aber nicht verbessert.


63.§


In der Vocalcomposition der heutigen Nationalitaliäner ist die Rolle der Singstimme das Beste. Hierauf wenden sieden meisten Fleiß; sie machen sie dem Sänger bequem, und bringen darinne nicht selten artige Einfälle und ausdrücke an. Oefters aber verfallen sie auch dabey in das Niederträchtige und Gemeine. Was die Begleitung der Instrumente betrifft, so unterscheidet sie sich nicht viel von der im vorigen §. beschriebenen Instrumentalcomposition. Das Ritornell ist meistentheils sehr schlecht, und scheint manchmal gar nicht zu dieser Arie zu gehören. Das richtige Metrum fehlt auch sehr öfters. Es ist zu bedauern, daß die meisten der itzigen italiänischen Operncomponisten, deren einigen man das gute Naturell nicht absprechen kann, zu frühzeitig, ehe sie noch was von den Regeln der Setzkunst verstehen, für das Theater zu schreiben anfangen; daß sie sich nachgehends nicht mehr, wie ihre Vorfahren thaten, die Zeit nehmen, die Setzkunst aus dem Grunde zu studiren; daß sie dabey nachläßig sind, und mehrentheils zu geschwind arbeiten. Ich getrauete mir eben nicht, das

[unvollst.]


64.§


Uebrigens, wenn man die Fehler der Componisten, von dem, was sie wirklich Gutes haben, absondert; so kann man den Italiänern überhaupt, die Geschiklichkeit im Spielen, die Einsicht in die Musik, die reiche Erfindung schöner Gedanken, und daß sie es im Singen zu einer größern Vollkommenheit gebracht haben, als irgend eine andere Nation, nicht absprechen. Nur Schade, daß seit einiger Zeit, die meisten ihrer Instrumentisten allzuweit von dem Geschmacke des Singens abgegangen sind: wodurch sie nicht nur Viele, die Ihnen nachzuahmen suchen, verführen, sondern auch so gar manchen Sänger verleiten, die gute Singart zu verlassen. Es ist daher nicht ohne Grund zu befürchten, daß der gute Geschmack in der Musik, welchen die Italiäner ehedem vor den meisten Völkern voraus gehabt haben, sich bey ihnen nach und nach wieder verlieren, und andern gänzlich zu Theile werden könne. Einige vernünftige, und von den Vorurtheilen befreyete italiänische Musikverständige gestehen dieses selbst zu. Sie wollen noch dazu behaupten, daß solches, sowohl in Ansehung der Composition, als der Art zu spielen, bereits geschehen sey. Dem sey aber wie ihm wolle, so bleibt den Italiänern doch die gute Singart, welche sich auch sogar gewissermaßen bis auf ihre Gondelnführer ausbreitet, vor allen andern Völkern noch eigen.


65.§


Bey den Franzosen findet sich das Gegentheil von dem, was ich von den Italiänern gesaget habe. Denn so wie die Italiäner in der Musik fast zu veränderlich sind; so sind die Franzosen darinne zu beständig und zu sklavisch. Sie binden sich allzusehr an gewisse Charaktere, welche zwar zum Tanze und zu Trinkliedern, aber nicht zu ernsthaftern Stücken vorteilhaft sind: weswegen auch das Neue bey ihnen öfters alt zu seyn scheint. Die Instrumentisten pflegen sich zwar mit Ausführung großer Schwierigkeiten, und mit vielen Auszierungen im Adagio, nicht weit einzulassen; doch tragen sie ihre Sache mit vieler Deutlichkeit und Reinigkeit vor: womit sie zum wenigsten die guten Gedanken des Componisten nicht verderben. Wegen ihres deutlichen Vortrages, sind sie in einem Orchester, als Ripienisten, besser zu gebrauchen, als die Italiäner. Es ist daher einem jeden angehenden Instrumentisten zu rathen, daß er mit der französischen Art zu spielen den Anfang mache. Er wird dadurch nicht allein, die vorgeschriebenen Noten, und die kleinen Auszierungen, reinlich und deutlich vortragen lernen; sondern auch, mit der Zeit, den französischen Schimmer mit der italiänischen Schmeicheley vermischen, fähig werden, und eine um so viel gefälligere Art zu spielen erlangen.


66.§


Die französische Art zu singen ist so beschaffen, daß dadurch nicht, wie bey den Italiänern, große Virtuosen können gezogen werden. Sie erschöpfet das Vermögen der menschlichen Stimme bey Weitem nicht. Ihre Arien sind mehr redend als singend. Sie erfodern fast mehr Fertigkeit der Zunge, im Sprechen der Wörter, als Geschiklichkeit der Kehle. Der Zusatz der Manieren wird von dem Componisten vorgeschrieben: folglich haben die Ausführer nicht nötig die Harmonie zu verstehen. Die Passagien sind bey ihnen im Singen fast gar nicht üblich: weil sie vorgeben daß ihre Sprache dieselben nicht erlaube. Die Arien werden mehrentheils, wegen Mangels der guten Sänger, so gesetzet, daß sie ein jeder, wer nur will, nachsingen kann: welches zwar solchen Liebhabern der Musik, die nicht viel davon verstehen, ein Vergnügen machet; den Sängern aber keinen sonderlichen Vorzug giebt. Es bleibt ihren Sängern nichts besonderes eigen, als die gute Action, welche sie vor andern Völkern voraus haben.


67.§


In der Composition verfahren die Franzosen sehr gewissenhaft. In ihren Kirchenmusiken findet man zwar mehr Bescheidenheit, aber auch mehr Trockenheit, als in den italiänischen. Sie lieben die natürlichen Gänge mehr, als die chromatischen. In der Melodie sind sie treuherziger als die Italiäner, denn man kann die Folge der Gedanken fast immer errathen: an Erfindungen aber sind sie nicht so reich als jene. Sie sehen mehr auf den Ausdruck der Wörter, als auf einen reizenden oder schmeichelnden Gesang. So wie die Italiäner die Schönheit der Composition, größten Theils, nur in der Hauptstimme anzubringen suchen, wodurch zwar die Grundstimme dann und wann verabsäumet wird: so legen hingegen die Franzosen meistentheils mehr Schimmer in die Grundstimme, als in die Hauptstimme. Ihr Accompagnement ist mehr simpel, als erhaben. Ihr Recitativ singt zu viel, die Arien hingegen zu wenig: weswegen man in einer Oper nicht allemal errathen kann, ob man ein Recitativ oder ein Arioso höre. Wofern auf ein französisches Recitativ eine zärtliche Arie folget, wird man ganz und gar eingeschläfert, und verlieret alle Aufmerksamkeit: da doch der Entzweck einer Oper erfordert, daß die Zuhörer beständig mit einer angenehmen Abwechselung unterhalten, und immer aus einer Leidenschaft in die andere versetzet, ja daß die Leidenschaften selbst bisweilen auf einen gewissen Grad der Stärke getrieben werden, und wieder abnehmen sollen. Dieses kann aber der Dichter, ohne Beyhülfe des Componisten, nicht allein bewerkstelligen. Doch was den französischen Opern, wegen des geringen Unterschieds, der sich zwischen Arien und Recitativen findet, an der Lebhaftigkeit abgeht, das ersetzen die Chöre und Tänze. Wenn man den ganzen Zusammenhang einer französischen Oper genau betrachtet, so sollte man fast glauben, als wenn die allzuähnliche Vermischung der Arien und Recitative mit Fleiß so eingerichtet würde, um die Chöre und Ballette desto mehr zu erheben. Ungeachtet nun diese, sowohl als die Auszierungen des Schauplatzes, nur als ein Nebenwerk einer Oper anzusehen sind, wie denn absonderlich die Chöre in den italiänischen Opern wenig geachtet werden: so sind sie nichts desto weniger fast die größte Zierde der französischen Singspiele. Es ist unstreitig, daß die Musik der Franzosen, sich, zu dem in seiner Vollkommenheit betrachteten Tanzen, viel besser schicket, als keine andere: da hingegen die italiänische zum Singen und Spielen eine bessere Wirkung thut, als zum Tanzen. Doch ist auch nicht ganz zu läugnen, daß man in der französischen Instrumentalmusik, vornehmlich aber in ihren charakterisireten Stücken, wegen des an einander hangenden und concertirenden Gesanges, viele gefällige und annehmliche Gedanken antrifft, die sich, im italiänischen Geschmacke, mit prächtigen und erhabenen Gängen sehr wohl vermischen lassen.


68.§


Alle italiänischen Opern sind, wenn man sie im Ganzen betrachtet, auch nicht lauter Meisterstücke. Obgleich ihre vornehmsten Operndichter, sich, absonderlich seit dem Anfange dieses Jahrhunderts, alle Mühe gegeben haben, die Singspiele von vielen Ausschweifungen zu reinigen, und dem vernünftigen Geschmacke des französischen Tragödientheaters, so viel als möglich ist, ähnlich zu machen, ob man wohl in Italien eine Menge vollkommen schöner Opernpoesieen aufzuweisen hat: da hingegen die Franzosen, in ihren meisten Opern, noch immer an den Fabeln kleben, und an einer Menge unnatürlicher und abentheuerlicher Vorstellungen sich belustigen: so werden doch noch in Italien, sowohl durch manche Poeten, als durch die Componisten und Sänger, große Fehler begangen. Die Poeten verbinden z.E. die Arien nicht allemal mit der Hauptsache: so daß manche Arie, die mit dem Vorigen nicht den gehörigen Zusammenhang hat, nur von ohngefähr eingeschoben zu seyn scheint. Manchmal mag es einigen Dichtern wohl an der Beurtheilung oder an der Empfindung gefehlet haben: zuweilen aber kann es seyn, daß sie dem Componisten zu Gefallen, und nach gewissen Nebenabsichten haben dichten müssen: wenn nämlich die Worte nicht bequem in die Musik zu bringen gewesen sind, woran der Poet Schuld ist, oder wenn etwan der Componist eine Arie schon fertig hat, deren Worte sich nicht an den Ort, wo sie hinkommen soll, schicken, und der Dichter also eine Parodie darüber machen muß, welche freylich nicht allemal zum besten geräth. Bisweilen müssen sich die Dichter nur bemühen, Worte mit solchen Selbstlauten ausfündig zu machen, die sich gut zu Passagien schicken: wodurch denn, wenn die Dichter nicht reich an Veränderung der Gedanken und der Ausdrücke sind, dem Zusammenhange der Sache, und der Schönheit der Poesie, freylich nicht allezeit gerathen wird. Doch wird man wahrnehmen, daß die großen Operndichter, den einzigen Metastasio ausgenommen, gemeiniglich bey Weitem nicht so bequeme Arien zur Musik machen, als die mittelmäßigen. Diese müssen sich dem Componisten wohl bequemen, wenn sie anders fortkommen wollen: jene aber wollen sich, auch öfters nicht einmal in billigen und nothwendigen Stücken, zum Vortheile der Musik, von ihrer vermeynten Höhe herab lassen: ob es gleich gar wohl möglich ist, daß die Poesie und Musik sich mit einander so vereinigen können, daß keine dabey zu kurz komme, wie nur noch erst kürzlich, in einem eigenen deutschen Werke: von der musikalischen Poesie, mit besonderer Gründlichkeit ist gezeiget worden.


69.§


Die Franzosen legen den Italiänern, nicht ganz und gar ohne Grund, zur Last, daß sie in den Arien, ohne Unterschied, zu viel Passagien anbringen. Es ist zwar wahr, daß wenn es der Sinn der Worte erlaubet, und der Sänger die Fähigkeit besitzt, Passagien lebhaft, egal, rund, und deutlich heraus zu bringen, die Passagien eine ausnehmende Zierde im Singen sind. Es ist aber auch nicht zu läugnen, daß die Italiäner hierinne bisweilen zu weit gehen, und weder einen Unterschied der Worte, noch der Sänger machen, sondern nur mehrentheils der hergebrachten Gewohnheit , ohne Beurtheilung, nachgehen. Die Passagien mögen wohl Anfangs, einigen guten Sängern zu Gefallen, so häufig eingeführet worden seyn, um die Geschiklichkeit ihrer Kehle zu zeigen. Es ist aber nachher ein Misbrauch daraus erwachsen; so daß man glaubet, eine Arie ohne Passagien sey nicht schön, oder ein Sänger singe nicht gut, oder tauge gar nichts, wenn er nicht auch gleich, wie ein Instrumentist, viele schwere Passagien zu machen wisse: ohne zu bedenken, ob der Text Passagien erlaube, oder nicht. Es ist absonderlich nichts ungereimter, als wenn in einer sogenannten Actionarie, worinn ein hoher Grad des Affects, er mag klagend oder wütend seyn, liegt, und die mehr sprechend, als singend seyn sollte, viele Passagien vorkommen. Diese unterbrechen und vernichten an diesem Orte den ganzen Ausdruck der Sache: zu geschweigen, daß dergleichen Arien bey vielen Sängern unbrauchbar werden. Sänger, welche die Fähigkeit haben, Passagien, mit völliger Stärke und ohne Fehler der Stimme, rund und deutlich heraus zu bringen, sind rar: da hingegen viele Sänger, ohne diese Geschiklichkeit und Naturgabe zu besitzen, dennocht gut seyn können. Ehe man zu einer Leichtigkeit in den Passagien gelanget, muß ein großer Fleiß und besondere Uebung vorher gehen. Diejenigen Sänger aber, welchen, ungeachtet alles angewendeten Fleißes, die Natur doch diese Leichtigkeit versaget, dürften nur, anstatt daß sie sich, um die Mode mit zu machen, mit Passagien martern, ihre Zeit auf etwas bessers wenden, nämlich schmackhaft und ausdrückend zu singen, welches sonst öfters dabey versäumet wird. Aus der übertriebenen Lust Passagien zu singen, entsteht auch öfters noch das Uebel, daß um einiger Sänger willen, denen zuwider zu seyn die Klugheit nicht allemal erlaubet, dem Componisten, und dem Dichter, die Freyheit ordentlich zu denken benommen wird. Doch es scheint, daß itzo, der an den meisten Orten in Welschland eingerissene Mangel fertiger Sänger, den Passagien öfters fast gar zu enge Gränzen setzen werde.


70.§


Der Ursachen, warum nicht alle Opern in Italien vernünftig und gut ausgeführet werden, kann es noch viel mehrere geben. Taugt vollends die ganze Erfindung und Ausführung der Oper, von Seiten des Poeten, nicht viel, denn nicht einmal alle Materien sind der Musik bequem: so kann es auch dem besten Componisten fehl schlagen, weil er selbst durch die Poesie nicht angefeuert wird. Wendete er auch alle seine Kräfte an, um etwas Gutes hervor zu bringen, so kann dessen ungeachtet seine Composition doch nicht den erwarteten Beyfall erhalten: weil die Meisten, bisweilen aus Irrthum, den guten oder schlechten Erfolg einer Oper nicht dem Poeten, sondern dem Componisten allein zuschreiben: ob gleich der eine eben so viel als der andere beytragen muß, wenn die Oper, von Seiten der Verfasser, vollkommen seyn soll. Eine gute, und durch den Dichter wohl ausgeführte Materie eines Singspiels, kann eine mittelmäßige Musik erheben: eine schlecht abgehandelte hingegen, kann verursachen, daß eine darüber sehr wohl gesetzte Musik, wenn man sie öfters höret, Verdruß und lange Weile machet: besonders wenn die Sänger und Accompagnisten das Ihrige nicht auch gehörig dazu beytragen.


71.§


Wenn aber der Poet eine gute Materie gewählet, und selbige nach aller möglichen Wahrscheinlichkeit ausgeführet hat, wenn er die Charaktere der aufgeführten Personen wohl von einander unterschieden, und solche, so viel als möglich ist, den Fähigkeiten, dem Alter, den Gemüthsneigungen, und der Gestalt der Sänger gemäß eingerichtet hat, wenn er einen jeden so sprechen läßt, wie es dem Charaktere, den er vorstellet, zukömmt, wenn die Recitative nicht gar zu weitläuftig, und die Worte der Arien nicht zu lang noch zu hochtrabend sind, wenn in den Arien zwar zuweilen einige, mit der Musik bequem nachzumalende Gleichnisse, vornehmlich und unumgänglich aber die Sprache der Leidenschaften, eingeführet worden, wenn die Leidenschaften, so wohl an ihrer zu? und abnehmenden Stärke, als an ihrer Verschiedenheit, geschikt mit einander abwechseln, wenn bequeme Versarten zu den Arien erwählet worden sind, wenn auch auf die zum Singen vorzüglich bequemen Wörter eine vernünftige Absicht gerichtet worden, die ungeschikten aber nach Möglichkeit vermieden sind, wenn ferner der Componist einen gereinigten Geschmack, und das Vermögen hat, die Leidenschaften, den Worten gemäß, mit der Musik auszudrücken, wenn er einen jeden Sänger nach seiner Stärke, und ohne Parteylichkeit eingekleidet hat, wenn er alles in seinem gehörigen Zusammenhange wohl mit einander verbunden, dabey aber eine billige Kürze beobachtet hat, wenn die Sänger ihre Rollen dem vorzustellenden Charaktere, und der Absicht des Componisten gemäß, mit Ernst und Eifer ausführen, wenn die Accompagnisten der Vorschrift des Componisten, und ihrer Pflicht nachkommen, wenn endlich die Auszierungen des Theaters und die Ballette mit dem Inhalte der Oper wohl übereinstimmen: so ist kein Zweifel, daß nicht eine solche italiänische, oder nach italiänischer Art eingerichtete Oper, jedermann gefallen, und für eines der angenehmsten Schauspiele gehalten werden könne.


72.§


Hierüber aber kann weder ein Italiäner, noch ein Franzose, wenn er zumal niemals aus seinem Lande gekommen, und nur immer einerley Art von Musik gewohnet gewesen ist, ein richtiges Urtheil fällen. Ein jeder wird die, welche seiner Landesart gemäß ist, für die beste halten, und die andere verachten. Es wird ihn immer, entweder eine lange Gewohnheit, oder ein eingewurzeltes Vorurtheil verhindern, das Gute des Gegentheils, und das Schlechte seiner Parthey einzusehen. Ein dritter hingegen, wenn er anders Einsicht und Erkenntnis besitzet, und unpartheyisch ist, kann hierbey den sichersten Ausschlag geben.


73.§


In Italien sind meines Wissens niemals, weder französische Opern öffentlich, noch Arien oder andere französische Singstücke insbesondere aufgeführet, noch weniger französische Sänger dahin berufen worden. In Frankreich hingegen hat man, zwar keine italiänische Oper öffentlich, doch aber italiänische Arien, Concerte, Trio, Solo, u.d.m. insbesondere aufgeführet, auch italiänische Sänger dahin kommen lassen, und unterhalten: wovon unter andern das italiänische Concert an der Tuillerie, und verschiedene neuere Vorfälle Zeugnis geben. In Deutschland sind schon von mehr als siebenzig Jahren her, sowohl französische als italiänische Opern, und, von noch längern Zeiten her, andere, in beyderley Geschmacke verfertigte Musiken, öffentlich und ins besondere aufgeführet worden: folglich hat man sich auch italiänischer und französischer Sänger dazu bedienet. Nachdem es aber die Italiäner im Geschmacke immer weiter getrieben haben, die Franzosen hingegen immer auf einer Stelle geblieben sind: so hat man fast seit 20 oder 30 Jahren, außer den Balletten, weder französische Opern, noch andere von dieser Art Musik in Deutschland gehöret. Sowohl die im italiänischen Geschmacke gesetzten Opern, als Instrumentalstücke, finden nicht nur bis itzo in ganz Deutschland, sondern auch in Spanien, Portugall, England, Pohlen und Rußland Beyfall. Der Franzosen ihre Sprache, Schriften, Poesie, Sitten, Gebräuche, Moden, und was sie sonst Gutes vorzubringen wissen, wird von den meisten europäischen Völkern, besonders aber von den Deutschen, geliebet: nur die Musik nicht mehr wie ehedem, ausgenommen von einigen jungen Leuten, deren erste Ausflucht nach Frankreich geht, und die allda etwan ein Instrument zu spielen anfangen, die französische Musik aber bequemer zu spielen finden, als die italiänische.


74.§


Man hat sich zwar seit etlichen und zwanzig Jahren, insonderheit in Paris, bemühet, den italiänischen Geschmack mit dem französischen zu vermischen. Allein man findet von dem guten Erfolge bis itzo noch keine sonderlichen Merkmaale. In der Singmusik entschuldiget man sich immer mit der Sprache, daß dieselbe zu der italiänischen Singart nicht bequem sey. Vielleicht aber hat es noch an geschikten Componisten, und guten Sängern gefehlet, um es gehörig ins Werk zu setzen. Man hat ja wohl über deutsche und engländische Worte, welche bey den Franzosen noch weniger im Credite stehen, mit gutem Erfolge im italiänischen Geschmacke Musik gesetzet, warum sollte es denn nicht auch über die so sehr beliebte französische Sprache angehen? Um den Franzosen dieses Vorurtheil zu benehmen, sollte man durch einen Componisten, der in der italiänischen Art eine schöne Arie zu machen weis, und der die französische Sprache so gut, als die italiänische versteht, über französische Worte, die nach der italiänischen Weise eingerichtet wären, eine Arie verfertigen, und dieselbe durch einen guten italiänischen Sänger, der aber eine gute französische Aussprache haben müßte, absingen lassen. Dieses könnte zu einer Probe dienen, ob die Schuld an der Sprache, oder an der Unwissenheit der französischen Componisten liege, wenn Musik im italiänischen Geschmacke sich nicht zur französische Sprache schicken will.


75.§


In der Instrumentalmusik möchten es die Franzosen noch eher zu etwas bringen, wenn sie sowohl in Ansehung der Composition, als der Ausführung, gute Muster von andern Völkern bey sich hätten: oder wenn ihre Componisten, Sänger, und Instrumentisten mehr Liebhaber wären, andere Länder zu besuchen, um eine vernünftige Vermischung im Geschmacke zu machen. So lange sie sich aber noch von Vorurtheilen vor ihr eigenes Land beherrschen lassen, auch keine rechten echten und guten Beyspiele von Italiänern, oder andern Nationen, die schon in einem vermischten Geschmacke setzen, singen oder spielen, in ihrem Lande haben, so lange sie den vermischeten Geschmack in andern Ländern nicht zu erlangen suchen: werden sie entweder bleiben wie sie vor langen Zeiten gewesen sind, oder es steht zu befürchten, daß sie, wegen des Mangels guter Muster, wenn sie ja was neues einführen wollen, aus der allzugroßen Modestie, endlich in eine desto größere Frechheit verfallen, und den ihnen immer noch eigen gewesenen netten und deutlichen Vortrag, in eine bizarre und dunkele Art zu spielen verwandeln möchten. Bey einer neuen und fremden Sache, wendet man mehrentheils nicht Zeit genug zur Untersuchung derselben an, sondern man fällt gemeiniglich von einem äußersten Ende aufs andere: absonderlich wenn es auf die Wahl junger Leute ankömmt, welche durch alles, was nur neu ist, verblendet werden können.


76.§


Wollte man endlich die italiänische und französische Nationalmusik, wenn man jede von der besten Seite betrachtet, in der Kürze charakterisiren, und den Unterschied des Geschmackes gegen einander halten, so würde diese Vergleichung, meines Erachtens ohngefähr also ausfallen:

Die Italiäner sind in der Composition uneingeschränket, prächtig, lebhaft, ausdrückend, tiefsinnig, erhaben in der Denkart, etwas bizarr, frey, verwegen, frech, ausschweifend, im Metrum zuweilen nachlässig, sie sind aber auch singend, schmeichelnd, zärtlich, rührend, und reich an Erfindung. Sie schreiben mehr für Kenner als für Liebhaber. Die Franzosen sind in der Composition zwar lebhaft, ausdrückend, natürlich, dem Publicum gefällig und begreiflich, und richtiger im Metrum als jene, sie sind aber weder tiefsinnig noch kühn, sondern sehr eingeschränket, sklavisch, sich selbst immer ähnlich, niedrig in der Denkart, trocken an Erfindung, sie wärmen die Gedanken ihrer Vorfahren immer wieder auf, und schreiben mehr für Liebhaber als für Kenner.

Die italiänische Singart ist tiefsinnig, und künstlich, sie rühret, und setzet zugleich in Verwunderung, sie beschäftiget den musikalischen Verstand, sie ist gefällig, reizend, ausdrückend, reich im Geschmacke und Vortrage, und versetzet den Zuhörer, auf eine angenehme Art, aus einer Leidenschaft in die andere. Die französische Singart ist mehr simpel als künstlich, mehr sprechend als singend, im Ausdrucke der Leidenschaften, und in der Stimme, mehr übertrieben als natürlich, im Geschmacke und im Vortrage ist sie arm, und sich selbst immer ähnlich, sie ist mehr für Liebhaber als für Musikverständige, sie schicket sich besser zu Trinkliedern als zu ernsthaften Arien, und belustiget zwar die Sinne, den musikalischen Verstand aber läßt sie ganz müßig.

Die italiänische Art zu spielen ist willkührlich, ausschweifend, gekünstelt, dunkel, auch öfters frech und bizarr, schwer in der Ausübung, sie erlaubet viel Zusatz von Manieren, und erfodert eine ziemliche Kenntnis der Harmonie, sie erwecket aber bey den Unwissenden mehr Verwunderung als Gefallen. Die französische Spielart ist sklavisch, doch modest, deutlich, nett und reinlich im Vortrage, leicht nachzuahmen, nicht tiefsinnig noch dunkel, sondern jedermann begreiflich, und bequem für die Liebhaber, sie erfordert nicht viel Erkenntnis der Harmonie, weil die Auszierungen mehrentheils von dem Componisten vorgeschrieben werden, sie verursachet aber bey den Musikverständigen wenig Nachdenken.

Mit einem Worte: die italiänische Musik ist willkührlich, und die französische eingeschränket: daher es bey dieser mehr auf die Composition als auf die Ausführung, bey jener aber, fast so viel, ja bey einigen Stücken fast mehr, auf die Ausführung, als auf die Composition ankömmt, wenn eine gute Wirkung erfolgen soll.

Die italiänische Singart, ist ihrer Art zu spielen, und die französische Art zu spielen, ihrer Singart vorzuziehen.


77.§


Die Eigenschaften dieser beyden Musikarten, könnten zwar noch weitläufiger ausgeführet, und noch genauer untersuchet werden. Allein dieses würde vielmehr in eine eigene und besondere Abhandlung davon, als hierher gehören. Inzwischen habe ich mich doch bemühet, die vornehmsten Wahrheiten und Kennzeichen derselben, und des dazwischen befindlichen Unterschiedes, in der Kürze zu bemerken. Ich lasse einem jeden die Freyheit, aus dem Angeführten den Schluß zu ziehen, welcher Geschmack von beyden mit Rechte den Vorzug verdiene. Ich habe aber zu der Billigkeit meiner Leser das Vertrauen, daß sie mich um soviel weniger hierbey einer Partheylichkeit beschuldigen werden: da dasjenige, was ich etwan selbst von Geschmacke erlanget habe, sowohl aus dem französischen als aus dem italiänischen geflossen ist, da ich beyde Länder, in der ausdrücklichen Absicht, mir das Gute von beyden in der Musik zu Nutzen zu machen, durchreiset bin, und da ich also von beyden Musikarten einen Augen? und Ohrenzeugen abgeben kann.


78.§


Wenn man die Musik der Deutschen, von mehr als einem Jahrhunderte her, genau untersuchet: so findet man zwar, daß die Deutschen es schon vor geraumer Zeit, nicht nur in der harmonisch richtigen Setzkunst, sondern auch auf vielen Instrumenten, sehr weit gebracht hatten. Vom guten Geschmacke aber, und von schönen Melodieen, findet man, außer einigen alten Kirchengesängen, wenig Merkmaale, sondern vielmehr daß sowohl ihr Geschmack als ihre Melodieen, länger als bey ihren Nachbarn, ziemlich platt, trocken, mager, und einfältig gewesen.


79.§


Ihre Composition war, wie gesagt, harmonisch und vollstimmig aber nicht melodisch und reizend. Sie sucheten mehr künstlich, als begreiflich und gefällig, mehr für das Gesicht, als für das Gehör zu setzen. Die ganz Alten brachten, in einem ausgearbeiteten Stücke, zu viele und zu überflüßige Cadenzen nach einander an: indem sie fast aus keiner Tonart in die andere, ohne vorher zu cadenziren, auszuweichen pflegeten: durch welche Aufrichtigkeit aber das Gehör selten überraschet wurde. Es fehlete ihnen an einer guten Wahl und Verbindung der Gedanken. Die Leidenschaften zu erregen und zu stillen, war ihnen etwas unbekanntes.


80.§


80. In ihrer Singmusik sucheten sie mehr die bloßen Wörter, als den Sinn derselben, oder den damit verknüpfeten Affect, auszudrücken. Viele glaubeten dieserwegen schon eine Gnüge geleistet zu haben, wenn sie z.E. die Worte: Himmel und Hölle, durch die äußerste Höhe und Tiefe ausdrücketen: wodurch denn oft viel Lächerliches mit unterzulaufen pflegete. In Singstücken liebten sie sehr die äußerste Höhe, und ließen in derselben immer Worte aussprechen. Hierzu mögen die Falsetstimmen erwachsener Mannespersonen, welchen die Tiefe gemeiniglich beschwerlich ist, einige Ursache gegeben haben. Den Sängern gaben sie unter geschwinden Noten viele Worte nach einander auszusprechen, welches aber der Eigenschaft des guten Singens zuwider ist, den Sänger verhindert die Töne in ihrer gehörigen Schönheit hervor zu bringen, und sich von der gemeinen Rede allzuwenig unterscheidet (*). Ihre Singarien bestunden mehrentheils aus zwo Reprisen; sie waren sehr kurz; aber auch sehr einfältig und trocken.

(*) Obgleich einige wenige Deutsche, durch Nachahmung des italiänischen Geschmackes, diesen Fehler, welcher nur in der komischen Musik eine Schönheit ist, abgeleget haben: so ist er doch, auch zu itziger Zeit, noch nicht gänzlich ausgerottet. Wie die Singart der Deutschen in den alten Zeiten beschaffen gewesen sey, kann man, noch bis auf diese Stunde, in den meisten Städten, an den Chor? oder Schulsängern abnehmen. Diese bringen es zwar im Notenlesen weiter, als viele galante Sänger anderer Völker: allein mit der Stimme wissen sie fast gar nicht umzugehen. Sie singen daher meistentheils ohne Licht und Schatten, in einerley Stärke des Tones. Die Nasen? und Gurgelfehler kennen sie kaum. Die Vereinigung der Bruststimme mit dem Falset ist ihnen eben so unbekannt, als den Franzosen. Mit dem Triller begnügen sie sich so, wie ihn die Natur giebt. Von der italiänischen Schmeicheley, welche durch geschleifete Noten, und durch das Vermindern und Verstärken des Tones gewirket wird, haben sie wenig Empfindung. Ihr unangenehmes, übertriebenes, allzurauschendes Stoßen mit der Brust, wobey sie sich die Fertigkeit der Deutschen das h auszusprechen rechtschaffen zu Nutze machen, und bey allen Noten: ha ha ha ha hören lassen, verursachet, daß die Passagien alle gehacket klingen, und ist von der Art, mit welcher die welschen Bruststimmen die Passagien vortragen, weit entfernet. Den simpeln Gesang hengen sie nicht genug an einander, und verbinden denselben nicht durch vorhaltende Noten: weswegen ihr Vortrag sehr trocken und einfältig klingt. Es fehlet diesen deutschen Chorsängern zwar weder an natürlich guten Stimmen, noch an der Fähigkeit etwas zu lernen: es fehlet ihnen vielmehr an der guten Unterweisung. Die Cantores sollen, wegen der mit ihrem Amte immer verknüpfeten Schularbeiten, zugleich halbe Gelehrte seyn. Deswegen wird öfters bey der Wahl mehr auf das letztere, als auf die Wissenschaft in der Musik gesehen. Die nach solchen Absichten erwähleten Cantores treiben deswegen die Musik, von der sie ohnedem sehr wenig wissen, nur als ein Nebenwerk. Sie wünschen nichts mehr, als bald durch eine gute fette Dorfpfarre, von der Schule, und zugleich von der Musik erlöset zu werden. Findet sich auch ja noch hier und da ein Cantor, der das Seinige versteht, und seinem musikalischen Amte rechtschaffen vorzustehen Lust hat: so suchen an vielen Orten die Obersten der Schule, einige geistlichen Aufseher derselben, unter denen viele der Musik aufsätzig sind, nicht ausgenommen, sowohl den Cantor, als die Schüler, an der Ausübung der Musik zu hindern. Auch sogar in denen Schulen, welche, besage ihrer Gesetze, hauptsächlich in der Absicht gestiftet worden sind, daß die Musik darinne vorzüglich soll gelehret und gelernet, und MUSICI ERUDITI gezogen werden, ist öfters der durch den Vorsteher unterstützete Rector der abgesagteste Feind der Musik. Gerade als wenn ein guter Lateiner und ein guter Musikus Dinge wären, deren eines das andere nothwendiger Weise aufhebt. Die mit den Cantordiensten verknüpfeten Vortheile, sind an vielen, ja an den meisten Orten, so gering, daß ein guter Musikus Bedenken tragen muß, einen solchen Dienst, ohne Noth, anzunehmen. Da es nun, auf solche Art, in Deutschland an guter Anweisung, vornehmlich in der Vocalmusik, fehlet, da derselben auch noch dazu an vielen Orten unübersteigliche Hindernisse in den Weg geleget werden, so können auch nicht leicht gute Sänger erzogen werden. Es ist bey diesen Umständen zu vermuthen, daß bey den Deutschen die gute Singart niemals so allgemein werden dürfte, als bey den Italiänern, bey welchen, schon von vielen Zeiten her, dießfalls die besten Anstalten vorhanden sind: es wäre denn, daß große Herren Vorschub thäten, Singschulen anzulegen, in welchen die gute und echte italiänische Singart gelehret würde.


81.§


Die Instrumentalmusik der Deutschen in den vorigen Zeiten sah mehrentheils auf dem Papiere sehr bunt und gefährlich aus. Sie schrieben viele drey= vier= und mehrmal geschwänzten Noten. Weil sie aber dieselben in einer sehr gelassenen Geschwindigkeit ausführeten: so klangen ihre Stücke dessen ungeachtet nicht lebhaft, sondern matt und schläfrig.

Sie hielten mehr von schweren als leichten Stücken, und sucheten mehr Verwunderung zu erwecken, als zu gefallen.

Sie beflissen sich mehr, den Gesang der Thiere, z.E. des Kukuks, der Nachtigall, der Henne, der Wachtel, u.s.w. auf ihren Instrumenten nachzumachen, wobey der Trompete und der Leyer auch nicht vergessen wurde: als der Menschenstimme nachzuahmen.

Oefters war ein sogenanntes Quodlibet, wobey entweder in Singstücken lächerliche Worte, ohne Zusammenhang, vorkamen, oder, in Instrumentalstücken, die Sangweisen gemeiner und niederträchtiger Trinklieder unter einander gemischet wurden, ihr angenehmster Zeitvertreib.

Auf der Geige spieleten sie mehr harmonisch, als melodisch. Sie setzeten viele Stücke, wozu die Violinen umgestimmet werden mußten. Die Seyten wurden nämlich, nach Anzeige des Componisten, anstatt der Quinten, in Secunden, Terzen, oder Quarten gestimmet, um die Accorde desto leichter zu haben: welches aber bey den Passagien eine nicht geringe Schwierigkeit verursachete.

Ihre Instrumentalstücke bestunden meistentheils aus Sonaten, Partieen, Intraden, Märchen, Gassenhauern, und vielen andern oft lächerlichen Charakteren, deren Gedächtnis itzo verloschen ist.

Das Allegro bestund mehrentheils vom Anfange bis zum Ende aus lauter Passagien, da fast immer ein Tact dem andern ähnlich war, und von einem Tone zum andern, durch die Transpositionen, wiederholet wurde, welches aber endlich nothwendig einen Ekel verursachen müßte. Oefters blieben sie nicht länger als nur wenige Tacte bey einerley Tempo: sie vermischeten vielmehr, in einem Satze, bald etwas Langsameres, bald wieder etwas Geschwinderes, mit einander.

Ihr Adagio hatte mehr eine natürliche Harmonie, als gute Melodie. Sie macheten darinne auch wenig Manieren, außer daß sie dann und wann die springenden Intervalle mit laufenden Noten ausfülleten. Die Schlüsse ihrer langsamen Stücke waren einfältig. Anstatt daß man itziger Zeit, wenn man z.E. im C schließen will, den Triller auf dem D oder H schlägt: so schlugen sie denselben auf dem C, welchem sie die Zeit einer punctirten Note gaben, und ließen das H als eine kurze Note nur simpel hören; der Endigungsnote C aber wurde noch eine, um einen Ton höher stehende Note, als ein besonderer Zierrath angeschleifet. Ihre Cadenzen waren ohngefähr in der Ausführung so beschaffen, wie Tab. XXIII. Fig.15 mit Noten ausdrücket zu sehen ist. Von vorhaltenden Noten, welche den Gesang an einander zu binden, und, auf eine angenehme Art, die Consonanzen in Dissonanzen zu verwandeln dienen, wußten sie wenig oder gar nichts: weswegen ihre Art zu spielen nicht rührend noch reizend, sondern platt und trocken war.

Vielerley Instrumente, von denen man itzo kaum noch die Namen weis, waren bey ihnen üblich. Es ist daher zu vermuten, daß man, wegen Vielheit derselben, mehr Ursach gehabt habe ihren Fleiß, als ihre Geschiklichkeit im Spielen, zu bewundern.


82.§


So schlecht es aber in den vorigen Zeiten, bey aller gründlichen Einsicht der deutschen Componisten in der Harmonie, mit ihrem, und der deutschen Sänger und Instrumentisten ihrem Geschmacke ausgesehen haben mag: so ein anderes Ansehen hat es doch nunmehr nach und nach damit gewonnen. Denn wenn man auch von den Deutschen nicht eben sagen kann, daß sie einen eigenthümlichen, und von den andern Nationalmusiken sich ganz unterscheidenden Geschmack hervor gebracht hätten: so sind sie hingegen desto fähiger, einen andern, welchen sie nur wollen, anzunehmen, und wissen sich das Gute von allen Arten der ausländischen Musik zu Nutzen zu machen.


83.§


Es fiengen schon im vorigen Jahrhunderte, seit der Mitte desselben, einige berühmte Männer, welche theils Italien oder Frankreich selbst besuchet, und darinne profitiret hatten, theils aber auch die Arbeiten und den Geschmack der verdienten Ausländer zu Mustern nahmen, an, die Ausbesserung des musikalischen Geschmackes zu bearbeiten. Die Orgel? und Clavierspieler, unter den letztern vornehmlich Froberger, und nach ihm Pachhelbel, unter den erstern aber Reinken, Buxtehude, Bruhns, und einige andere, setzeten fast am ersten die schmackhaftesten Instrumentalstücke ihrer Zeit, für ihre Instrumente. Absonderlich wurde die Kunst die Orgel zu spielen, welche man großen Theils von den Niederländern empfangen hatte, um diese Zeit schon, von den obengenannten und einigen andern geschikten Männern, sehr weit getrieben. Endlich hat sie der bewundernswürdige Johann Sebastian Bach, in den neuern Zeiten, zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht. Nur ist zu wünschen, daß dieselbe, nach seinem Absterben, wegen der geringen Anzahl derer, die noch einigen Fleiß darauf wenden, sich nicht wieder dem Abfalle, oder gar dem Untergange nähern möge.

Man kann zwar nicht läugnen, daß es in gegenwärtigen Zeiten unter den Deutschen viele gute Clavierspieler gebe: die guten Organisten aber sind anitzo in Deutschland viel rarer, als vor diesem. Es ist wahr, daß man noch hier und da einen und den andern brafen und geschikten Orgelspieler findet. Allein es ist auch eben so gewiß, daß man öfters, so gar in manchen Hauptkirchen großer Städte, die Orgeln von solchen, durch ordentliche Vocation dazu berechtigten Stümpern mishandeln höret, welche kaum Werth wären, Sackpfeifer in einer Dorfschenke zu seyn. Es fehlet so weit, daß dergleichen unwürdige Organisten etwas von der Composition verstehen sollten, daß sie vielmehr nicht einmal einen wohlklingenden und richtigen Baß zu der Melodie eines Chorals ausfinden können, geschweige daß sie dazu zum wenigsten noch zwo richtige Mittelstimmen zu treffen fähig wären. Ja nicht einmal die simple Melodie eines Choralgesanges kennen sie. Oefters sind die blökenden Currentjungen ihre Vorsänger und Muster, nach deren Fehlern sie die Melodien, wohl alle Monate, immer wieder aufs Neue verhunzen. Unter Orgel und Clavicimbal machen sie keinen Unterschied. Das der Orgel eigene Tractament ist ihnen so unbekannt, als die Kunst ein geschiktes Vorspiel vor einem Gesange zu machen: ungeachtet es nicht an gestochenen und geschriebenen Mustern fehlet, woraus sie beydes, wenn sie wollten, erlernen könnten. Sie ziehen lieber ihre eigenen, aus dem Stegreife erschnappeten Gedanken, den besten, mit Vernunft und Ueberlegung ausgearbeiteten Orgelstücken berühmter Männer, vor. Mit ihren ungeschikten bockpfeiferhaften Coloraturen, welche sie zwischen jedem Einschnitte eines Chorals herleyern, machen sie die Gemeine irre, anstatt ihren Gesang in Ordnung zu erhalten. Von der Art wie man das Pedal brauchen soll, hat mancher nicht einmal reden hören. Der kleine Finger der linken Hand, und der linke Fuß, stehen bey vielen in solcher Verbindung mit einander, daß niemals einer, ohne des andern Vorwissen und Uebereinstimmung, einen Ton anzuschlagen sich getrauet. Ich will nicht einmal gedenken, wie sie öfters eine ohnedem schlecht genug ausgeführte Kirchenmusik, durch ihr elendes Accompagnement, noch schlechter machen. Schade! wenn Deutschland den Vorzug des Besitzes guter Orgelspieler nach und nach wieder verlieren sollte. Freylich geben die, an den meisten Orten, gar zu geringen Besoldungen eine schlechte Aufmunterung zu dem Fleiße in der Orgelwissenschaft. Freylich wird auch mancher geschikter Organist, durch den Hochmuth und Eigensinn einiger seiner geistlichen Befehlshaber, niedergeschlagen.


84.§


Den merkwürdigen Zeitpunct, worinne absonderlich der Geschmack der Deutschen, in Ansehung der Vocalcomposition, angefangen hat, eine bessere Gestalt zu gewinnen, könnte man ohngefähr um das Jahr 1693 setzen, als zu welcher Zeit, nach des, um die Vertheidigung und die Geschichtskunde der Musik ausnehmend verdieneten Herrn Matthesons Berichte, im musikalischen Patrioten, S. 181 und 343 der Capellmeister Cousser die neue oder italiänische Singart in den Hamburgischen Opern eingeführet hat. Um eben diese Zeit fieng der berühmte Reinhard Keiser an, sich mit seinen Operncompositionen hervorzuthun. Dieser schien zu einem, mit reicher Erfindung verknüpfeten, angenehm singenden Wesen gleichsam gebohren zu seyn, er belebte also die neue Singart damit auf eine vorzügliche Weise. Ihm hat der gute Geschmack in der Musik in Deutschland, unstreitig, viel zu danken. Die in Hamburg und Leipzig nach dieser Zeit ziemlich lange in blühendem Zustande gewesenen Opern, und die berühmten Componisten, welche, zugleich nebst Keisern, von Zeit zu Zeit, ungeachtet der öfters schlechten, und nicht selten gar niederträchtigen Texte, für dieselben gearbeitet haben, haben zu dem Grade des guten Geschmackes, in welchem die Musik in Deutschland gegenwärtig steht, gute Vorbereitungen gemachet. Es könnte als ein Ueberfluß angesehen werden, wenn ich diejenigen großen Männer, welche sich in den itztgenannten Zeiten, sowohl in der Kirchen? Theatral? und Instrumentalcomposition, als auch auf Instrumenten, unter den Deutschen berühmt gemachet haben, und deren einige entschlafen, einige noch am Leben sind, alle mit Namen anführen wollte. Ich bin versichert, daß sie in und außer Deutschland schon alle so bekannt sind, daß ihre Namen, meinen musikliebenden Lesern, ohne vieles Nachdenken, gleich beyfallen werden. So viel ist gewiß, daß ihnen diejenigen, welche zu unsern Zeiten in der Tonkunst hervorragen, den größten Dank schuldig sind.


85.§


Bey allen diesen Bemühungen brafer Tonkünstler aber, fanden sich in Deutschland doch noch immer unterschiedene Hindernisse, welche dem guten Geschmacke im Wege standen. Man war öfters nicht so bemüht, den Erfindungen dieser berühmten Männer den gehörigen Beyfall zu geben, und ihnen nachzufolgen, wie es wohl hätte seyn sollen. An vielen Orten bekümmerte man sich nicht einmal darum: sondern blieb immer bey dem Alten stehen. Ja was noch mehr ist, es fanden sich vielmehr unterschiedene Widersacher, welche, aus einer ungereimten Liebe zu dem Alterthume, schon darinne, weil die Ausarbeitungen gedachter Männer von der alten Art abgiengen, Ursache genug zu haben glaubten, alles als Ausschweifungen zu verwerfen. Wie lange ist es her, daß man noch die alte Weise, in Deutschland, mit großer Hitze, obgleich desto schwächern Gründen, zu vertheidigen suchte? Viele, die auch noch Lust gehabt hätten zu profitiren, hatten weder das Vermögen, an solche Orte zu reisen, wo die Musik im Flore war, noch auch sich Musikalien von da zu verschreiben. Es ist nicht zu läugnen, daß durch die Einführung des Cantatenstyls, in die Kirchen der Protestanten, dem guten Geschmacke auch ein besonderer Vortheil zugewachsen ist. Allein wie viel Widerspruch hat es nicht zu überwinden gekostet, ehe die Cantaten und Oratorien in der Kirche einen festen Fuß haben fassen können? Vor wenigen Jahren gab es noch Cantores, die in ihrem mehr als funfzigjährigen Amte, sich noch nicht hatten überwinden können, ein Kirchenstück von Telemannen aufzuführen. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit an einem Orte in Deutschland gute, am andern aber sehr unschmackhafte und ungesalzene Musik angetroffen hat. Wer nun von Ausländern etwa, zum Unglücke, an einem der letztern Orte Musik gehöret hatte, und alle Deutschen hiernach beurtheilete, der konnte sich freylich von ihrer Musik nicht die vortheilhaftesten Begriffe machen.


86.§


Die Italiäner pflegeten vor diesem den deutschen Geschmack in der Musik: un gusto barbaro, einen barbarischen Geschmack, zu nennen. Nachdem es sich aber gefüget, daß einige deutsche Tonkünstler in Italien gewesen und allda Gelegenheit gehabt haben, von ihrer Arbeit, sowohl Opern als Instrumentalmusik mit Beyfalle aufzuführen, da wirklich die Opern, an welchen man in Italien zu itzigen Zeiten den meisten Geschmack, und zwar mit Rechte, findet, von der Feder eines Deutschen herkommen: so hat sich das Vorurtheil nach und nach verlohren. Doch muß man auch sagen, daß die Deutschen sowohl den Italiänern, als auch eines Theils den Franzosen, wegen dieser vortheilhaften Veränderung ihres Geschmackes, ein Vieles zu danken haben. Es ist bekannt, daß an verschiedenen deutschen Höfen, als: in Wien, Dresden, Berlin, Hannover, München, Anspach, u.a.m. schon von hundert Jahren her, italiänische und französische Componisten, Sänger und Instrumentisten in Diensten gestanden sind, und Opern aufgeführet haben. Es ist bekannt, daß einige große Herren viele von ihren Tonkünstlern nach Italien und Frankreich haben reisen lassen, und daß, wie ich schon oben gesaget habe, viele der Verbesserer des Geschmackes der Deutschen, entweder eines, oder beyde dieser Länder besuchet haben. Diese haben also, sowohl von dem einen als von dem andern den Geschmack angenommen, und eine solche Vermischung getroffen, welche sie fähig gemachet hat, nicht nur deutsche, sondern auch italiänische, französische, und engländische Opern, und andere Singspiele, eine jede in ihrer Sprache und Geschmacke zu componiren, und mit großem Beyfalle aufzuführen. Weder von den italiänischen noch französischen Tonkünstlern kann man dergleichen sagen. Nicht daß es ihnen am Talente dazu fehlete: sondern weil sie sich wenig Mühe geben, fremde Sprachen zu erlernen, weil sie allzusehr von Vorurtheilen eingenommen sind, und weil sie sich nicht überreden können, daß außer ihnen, und ohne ihre Sprache, etwas Gutes in der Singmusik hervorgebracht werden könne.


87.§


Wenn man aus verschiedener Völker ihrem Geschmacke in der Musik, mit gehöriger Beurtheilung, das Beste zu wählen weis: so fließt daraus ein vermischter Geschmack, welchen man, ohne die Gränzen der Bescheidenheit zu überschreiten, nunmehr sehr wohl: den deutschen Geschmack nennen könnte: nicht allein weil die Deutschen zuerst darauf gefallen sind, sondern auch, weil er schon seit vielen Jahren, an unterschiedenen Orten Deutschlandes, eingeführet worden ist, und noch blühet, auch weder in Italien, noch in Frankreich, noch in andern Ländern misfällt.


88.§


Wofern nun die deutsche Nation von diesem Geschmacke nicht wieder abgeht: wenn sie sich bemühet, wie bishero ihre berühmtesten Componisten gethan haben, darinne immer weiter nachzuforschen, wenn ihre neuangehenden Componisten sich mehr, als itziger Zeit leider geschieht, befleißigen, nebst ihrem vermischeten Geschmacke, die Regeln der Setzkunst, so wie ihre Vorfahren, gründlich zu erlernen, wenn sie sich nicht an der puren Melodie, und an der Verfertigung theatralischer Arien allein begnügen, sondern sich sowohl im Kirchenstyle als in der Instrumentalmusik auch üben, wenn sie wegen Einrichtung der Stücke und wegen vernünftiger Verbindung und Vermischung der Gedanken, solche Componisten, welche einen allgemeinen Beyfall erhalten, sich zu Mustern vorstellen, um ihrer Art zu setzen, und ihrem feinen Geschmacke nachzuahmen: doch daß sie sich dabey nicht gewöhnen, wie es von sehr vielen geschieht, sich mit fremden Federn zu schmücken, und etwa den Hauptsatz, oder den ganzen Zusammenhang, von diesem oder jenem auszuschreiben, oder aufzuwärmen, wenn sie vielmehr ihre eigene Erfindungskraft dran strecken, um ihr Talent ohne Nachtheil eines Andern zu zeigen, und aufzuräumen, und um nicht, anstatt Componisten zu werden, immer nur Copisten zu verbleiben, wenn die deutschen Instrumentisten sich nicht, wie oben von den Italiänern gesaget worden ist, durch eine bizarre und komische Art auf Irrwege führen lassen: sondern die gute Singart, und diejenigen, welche in einem vernünftigen Geschmacke spielen, zum Muster nehmen, wenn ferner die Italiäner und die Franzosen den Deutschen in der Vermischung des Geschmackes so nachahmen wollten, wie die Deutschen ihnen im Geschmacke nachgeahmet haben, wenn dieses alles, sage ich, einmüthig beobachtet würde: so könnte mit der Zeit ein allgemeiner guter Geschmack in der Musik eingeführet werden. Es ist auch dieses so gar unwahrscheinlich nicht: weil weder die Italiäner, noch die Franzosen, doch mehr die Liebhaber der Musik, als die Tonkünstler unter ihnen, mit ihrem puren Nationalgeschmacke selbst mehr recht zufrieden sind, sondern schon seit einiger Zeit, an gewissen ausländischen Compositionen, mehr Gefallen, als an ihren inländischen, bezeiget haben.


89.§


In einem Geschmacke, welcher, so wie der itzige deutsche, aus einer Vermischung des Geschmackes verschiedener Völker besteht, findet eine jede Nation etwas dem ihrigen ähnliches, welches ihr also niemals misfalllen kann. Müßte man auch gleich, in Betrachtung aller, über den Unterschied des Geschmackes bisher angeführten Gedanken und Erfahrungen, dem puren italiänischen Geschmacke, vor dem puren französischen, einen Vorzug einräumen: so wird doch jedermann eingestehen, weil der erste nicht mehr so gründlich, als vor diesem ist, sondern sehr frech und bizarr geworden, der andere hingegen gar zu simpel geblieben ist, daß deswegen ein, von dem Guten beyder Arten zusammengesetzeter <334> und vermischter Geschmack, unfehlbar allgemeiner und gefälliger seyn müsse. Denn eine Musik, welche nicht in einem einzelnen Lande, oder in einer einzelnen Provinz, oder nur von dieser oder jener Nation allein, sondern von vielen Völkern angenommen und für gut erkannt wird, ja, aus den angeführten Ursachen, nicht anders als für gut erkannt werden kann, muß, wenn sie sich anders auf die Vernunft und eine gesunde Empfindung gründet, außer allem Streite, die beste seyn.