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Autor Beitrag
SusanneLöns
Vielschreiber


Beiträge: 96

New PostErstellt: 08.11.07, 08:20     Betreff: Türkische Rechtskultur von Marco W. bis Ragip ( Bericht 3sat vom 7.11. )




Gestern ( 7.11.2007 ) auf 3sat


http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/kuz_titel.html





Rigoroses Recht


Türkische Rechtskultur von Marco W. bis Ragip Z.





Die Aussichten sind düster. Im türkischen Knast sitzt Marco, der
minderjährige Schüler aus Uelzen. Der Fall, der sich über ein halbes
Jahr hinzieht, ohne dass die türkische Justiz das eigentliche Verfahren
überhaupt eröffnet hätte, hat sattsam die Medien gefüttert. Große
Empörung entstand über die unvertretbar lange Untersuchungshaft.

Boulevard-Journalisten wie seriöse Leitartikler geizten nicht mit
Erstaunen - was wiederum eine prominente Berliner Anwältin, die beide
Rechtssysteme sehr gut kennt, nun überhaupt nicht versteht. "Ich bin
ganz irritiert über das Erstaunen", sagt die Juristin Seyran Ates.
"Zumal das teilweise von Menschen kommt, die die Türkei eigentlich
kennen müssten. Wir wissen doch schon seit Jahrzehnten, dass in der
Türkei durchaus nicht immer das gleiche Recht angewandt wird wie bei
uns in Deutschland oder Europa. Wir wissen, dass wir es mit einem Land
zu tun haben, indem es zum Beispiel kein Jugendstrafrecht gibt. Das
weiß man doch, und dann muss man sich nicht darüber wundern. Wir wissen
auch, dass Menschen viele, viele Monate und Jahre ohne richtigen
Prozess im Gefängnis sitzen können“.

Bittere Bilanz


Marco, ein ganz normaler Fall, einer von Tausenden? Der Weg zum
Rechtsstaat jedenfalls scheint weit. Unternehmen wir eine Reise nach
Istanbul, wo sich Orient und Okzident, aber eben auch zwei immer noch
höchst unterschiedliche Rechts-Systeme, begegnen. 30 Kilometer abseits
des Zentrums und dennoch jeden Tag von über zehntausend Menschen
besucht, ist die Buchmesse Istanbul, jedes Jahr Anfang November. Ohne
Zweifel ist dies ein Ort freier Begegnungen, im äußeren
Erscheinungsbild der Frankfurter Messe nicht unähnlich. Aber sie ist
eben auch die Stätte bitterer Bilanz. "Zur Zeit befinden sich in der
Türkei insgesamt 23 Schriftsteller und Journalisten in Gefangenschaft",
sagt Necati Abay von der Organisation "Journalists in Prison" in
Istanbul. "Die meisten wegen vermeintlicher Beleidigung des Türkentums
oder wegen Verstößen gegen das so genannte Anti-Terror-Gesetz."

Beleidigung des Türkentums, die Schmähung des großen Atatürk gar: Im
kleinen, aber sehr bekannten Belge-Verlag weiß man, wie rigoros
türkische Gerichte den berüchtigten Paragraph 301 des Strafgesetzbuchs
auszulegen wissen. In einem Kellerloch, im Untergrund wortwörtlich,
werden Übersetzungen von Dostojewski oder Georg Lukacs verlegt und
verkauft, aber eben auch Bücher, die an den großen gesellschaftlichen
Tabus rütteln. Ragib Zarakolu verlegt seit Jahrzehnten kritische Bücher
über den Genozid an den Armeniern und dessen Duldung. Darum steht er
auch jetzt wieder vor Gericht. "Mein Prozess könnte damit enden, dass
ich ins Gefängnis muß", sagt Ragib Zarakolu. "Der Staatsanwalt hat auf
eine Gefängnisstrafe plädiert, das bedeutet, zwischen einem Jahr und
drei Jahren Gefängnis." Und das für ein einziges Buch.

Ständige Gefahr


Schon oft haben er und seine Frau, die 2002 gestorbene
Menschenrechts-Preisträgerin Ayse, im Knast gesessen. In den 1990er
Jahren wurde der Verlag gar von einer Miliz in Schutt und Asche gelegt.
Ein langjähriger Mitstreiter, der Verleger Attila Tuygan, sagt: "Du
kannst eigentlich kaum ein größeres Projekt in Angriff nehmen. Du sagst
dir, morgen oder übermorgen werden sie dich ins Gefängnis werfen. Sie
beteuern zwar immer wieder, dass in der Türkei niemand wegen einer
Meinungsäußerung in den den Knast käme. Sie gaukeln Europa, ja der
ganzen Welt vor, dass sie Demokraten geworden sind. Aber gleichzeitig
werden im Namen des Staates Gefängnis-Strafen verhängt. Jeder dieser
Prozesse kann mit einer Haftstrafe enden. Wir leben Monat für Monat mit
dieser Gefahr, gestern wie auch heute."

Türkischer Alltag - kann da der Fall Marco, die offenkundige Willkür
des Gerichts in Antalya, verwundern? Vor allem: Geht es hier wirklich
ausschließlich um eine mögliche Vergewaltigung? Oder will man ein
fundamentales Zeichen setzen? "Ich bin felsenfest der Überzeugung, dass
es dem Gericht auch nicht darum geht, dass ein Mädchen sexuell
missbraucht wurde", so Seyran Ates. "Denn auch in der Türkei werden
regelmäßig viele, viele tausend Frauen und Mädchen sexuell missbraucht.
Ich glaube, es geht um ein Politikum, zu zeigen, wir sind ein Land, das
moralisch dem Westen gegenüber höher platziert ist. Dass man wirklich
das Signal setzen will, wir hier in der Türkei, in einem muslimischen
Land, setzen mehr auf Sitte und Moral, als ihr das im Westen tut."

"Nicht länger schweigen!"


Was aber ist von einer Justiz zu halten, die nicht Recht spricht,
sondern Exempel statuiert? Szenenwechsel - und auch wieder nicht. Ragib
Zarakolu führt uns in eine geheime Druckerei am Rande Istanbuls. Es ist
wieder ein Keller. Selbst ein kurdisches Wörterbuch kann hier nur mit
äußerster Vorsicht gedruckt werden. So viele unliebsame Titel, gerade
des Belge-Verlags, wurden hier schon konfisziert. Was tun? Ganz
einfach, sagt Ragib Zarakolu: nicht länger schweigen! "Ich finde, die
europäischen Staaten sind verantwortlich für diese Probleme, weil sie
zu tolerant waren", meint Zarakolu. "Damals brauchten sie die Türkei,
speziell, die türkische Armee, gegen die Sowjetunion. Heute brauchen
sie die Türkei im Kampf gegen den radikalen Islam. Sie haben schon
immer die Augen vor diesen Defiziten in der türkischen Demokratie
verschlossen. Wäre Europa kritischer, hätten wir hier nicht diese
Probleme."

Diplomatisches Schweigen des europäischen Auslands hat wohl noch keinem
Häftling in der Türkei geholfen, nicht den türkischen Journalisten und
Schriftstellern. Und auch nicht dem jungen Deutschen, dessen Schicksal
nun so viele Gemüter bewegt. "Meiner Ansicht nach ist das Maß dessen,
was für jemanden in Untersuchungshaft erträglich ist, überschritten",
meint die Juristin Seyran Ates. "Rein aus demokratischen,
rechtsstaatlichen Gründen muss Deutschland, meine ich, klarere Worte in
Richtung Türkei aussprechen." Nur, warum musste erst ein Deutscher in
türkische Gefangenschaft geraten, um dieses Rechtssystem, die
Verfolgung so vieler, nachweislich Unschuldiger, für alle Welt sichtbar
zu machen? Das ist eigentlich eine Schande.





07.11. 2007 / Tilman Jens für Kulturzeit / lj


3sat / Kulturzeit [E-Mail]





[editiert: 10.11.07, 02:02 von Admin]
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