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Der wunde Punkt des Koschtschej

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Jan
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Beiträge: 85
Ort: Oebisfelde


New PostErstellt: 05.09.10, 14:56  Betreff: Der wunde Punkt des Koschtschej  drucken  weiterempfehlen



Der wunde Punkt des Koschtschej


nter dicken weißen Schneemützen streuten die Straßenlaternen ihr gelbes
Licht in die Nacht. Der Zar lag auf dem Sterbebett und sprach zu Iwan
Swetowitsch: “Pass auf, dass stets des Nachts im Zarenreich die Lichter
leuchten. Und solltest du jemals im Wald auf eine modrige Hütte stoßen,
aus der grüner Rauch aufsteigt, kehr auf dem Absatz um und meide den
Fleck wie die Pest!” “Warum?” wollte Iwan wissen, doch bevor der Zar
antworten konnte, schloss er für immer den Mund, und Iwan erbte das
Reich.

Eines Tages, als Iwan Schneehasen jagte, sah er durch die Bäume dünnen, grünlichen Rauch zum Himmel steigen. Neugierig lenkte er sein Pferd Richtung Rauch und fand einen halb verfallenen Schuppen aus morschen Stämmen, kaum erkennbar unter Schnee und Eis. Sein Pferd schnaubte und blieb wie versteinert stehen. Iwan stieg ab, band den Schimmel an einen Baum, bahnte sich einen Weg und trat in die Hütte.


Beißender Rauch versperrte die Sicht. Als sich sein Auge ans Dunkel gewöhnt hatte, sah er nur graue, vermoderte Lumpen in einer Ecke. Gerade wollte er die Hütte verlassen, da hörte er aus der Lumpenecke leises Ächzen. Mit einem Ast schob er die Lumpen beiseite. Süßlicher Todesgeruch stieg ihm entgegen, aus einem verdorrten, graugrünen Greisengesicht blitzten ihn Augen an.
“Was tust du hier?” fragte Iwan.
“Ich harre des Todes.”
 “Des Todes?”
“Weil ich das Leben hasse wie die Pest.”
“Oho! Dann bist du in meinem Reich verkehrt. Recht hast du, wenn du sterben willst.”
“Aber ich kann nicht.”
“Warum nicht?”
“Weil ich unsterblich bin. Nur das Schwert eines Gerechten kann mich erlösen, und nur in einem einzigen Punkt bin ich verwundbar.”
“Wenn’s weiter nichts ist”, sprach Iwan. “Hier ist mein Schwert, und ich bin der Gerechte.”
“Wäre es nur so einfach!” wimmerte das Männchen. “Die Hütte ist grau, die Lumpen sind grau, dein Auge ist das Dunkel nicht gewohnt. Wie willst du genau meinen wunden Punkt treffen? Stichst du daneben, lässt sich dein Schwert nicht mehr lösen, weder von mir noch von dir, wir sind für ewig verkettet und können nicht leben, nicht sterben. Sei nicht leichtsinnig. Stoße erst zu, wenn du meinen wunden Punkt deutlich erkennst.”
“Wo ist er?”
“Hier! Genau in diese Stelle musst du stechen.”
Iwan zog sein Schwert und beugte sich tiefer, aber er sah außer den Lumpen nichts als die blitzenden Augen. “Warte, ich mache Licht.” Er sah sich nach Feuerholz um.
“Um Himmels willen! Bloß nicht! Siehst du den grünen Rauch? Eine Stichflamme würde dich augenblicklich zu Asche versengen.”
Iwan kratzte sich am Kopf. “Wärst du bloß nicht in meinem Reich. Als Zar habe ich für das Wohl meiner Untertanen zu sorgen. Wie kann ich dir helfen?”
 “Gewöhne dein Auge ans Dunkel, bis du mich klar erkennen und töten kannst.”
“Also gut. Ich warte, bis ich dich deutlicher sehe.”
“Ach”, jammerte das Männchen. “Solange hältst du nicht durch. Drei Tage und Nächte dürfte dein Auge kein Licht, keine Sonne sehen, dann erst könntest du mich klar erkennen. Aber das geht ja nicht in deinem Reich.”
“Warum nicht?”
“Weil tags die Sonne scheint und nachts die Lampen brennen. Du wirst die ganze Zeit vom Licht geblendet.”
“Ich könnte mir die Augen verbinden und mich dann wieder herbringen lassen.”
“Wer soll die Moderhütte finden außer dir? Nur dein scharfes Zarenauge konnte sie sehen. Andere finden sie erst, wenn sie sieben Tage keine Sonne gesehen haben.”
“Was schlägst du vor?”
“Kehr in deinen Palast zurück, lass die Lichter die Nacht über brennen und vergiss mich! Mir ist in meinem Elend nicht zu helfen.”

Das war eine Antwort! Iwan verließ die Hütte, band seinen Schimmel los und ritt ins Schloss, aus dessen Fenstern hell die Lichter strahlten. Bei Kerzen und Kuchen feierte er mit seinem Volk, lachte und trank, lauschte dem abendlichen Märchen, das Wassilissa, seine wunderschöne Zarin, erzählte, aber sein Geist schlich in den Wald zur Moderhütte, in der auf nasskaltem Lehm einer lag, dem fröstelte, weil er Licht und Leben hasste wie die Pest.
“Iwanuschka, mein Täuberich”, sprach Wassilissa vor dem Schlafengehen. “Eine Wolke verdüstert deine Stirn. Was bereitet dir Kummer?” Iwan schilderte den grünen Rauch, die Hütte, die Lumpen und den graugrünen Greis, der im Dunkeln des Todes harrte.
“Der unsterbliche Koschtschej! Er lebt in unserem Reich! Was machen wir bloß?”
Am Hofe gab es einen Minister, der schon den alten Zaren gut beraten hatte, diesen suchten sie auf und fragten um Rat. “Vergesst ihn”, riet er. “Den unsterblichen Koschtschej schafft ihr nicht aus der Welt. Je mehr ihr euch um ihn kümmert, desto schlimmer werden die Zeiten.”
Iwan und Wassilissa kehrten in ihre Gemächer zurück, aber je mehr sie den Koschtschej aus ihrem Geist zu verscheuchen suchten, desto lebendiger stand er ihnen vor Augen. In ihren Träumen erhob er sich aus den Lumpen, brandschatzte Häuser, rodete Wälder, verwüstete das ganze Reich. Nein! Solange der Koschtschej lebte, schwebte das Reich in Gefahr!
Nach drei Tagen sprach Wassilissa zum Zaren: “Iwanuschka, mein Täuberich, selbst wenn der Koschtschej nur im Schuppen unter Lumpen darbt, solange er lebt, finde ich keine Ruhe.”
Iwan nickte. “Mir geht es genau so.” Er ließ sich die Augen verbinden und nach drei Tagen zum Waldrand führen. Dort nahm er die Binde ab, ging zur Hütte mit dem grünen Rauch und schob das Lumpenbündel mit dem Schwert beiseite. “Koschtschej, hier bin ich. Wohin mit dem Schwert?”
Iwan sah den Koschtschej schon viel deutlicher. Sein Gesicht war fester geworden, seine Stimme kräftiger, seine Augen glühten wie brennende Kohlen. “Danke, Iwan, dass du mich töten willst. Aber sei vorsichtig! Stoße erst zu, wenn du todsicher bist, meinen wunden Punkt nicht zu verfehlen. Berührt mich dein Schwert an einer anderen Stelle, sind wir für ewig verkettet und können nicht leben, nicht sterben.”
“Schon gut. Wohin mit dem Schwert?”
“Hier!”, sagte der Koschtschej. “Genau durch diese Stelle musst du stechen.”
Iwan blinzelte, aber er sah keine Hand. “Zeig mir die Stelle genau, dann bist du erlöst.”
“Kannst du etwa meine Hand nicht sehen?” Der Koschtschej erschauderte, seine Augen glühten weiß. “Dann verzichte auf den Todesstoß. Lass mich liegen, kehr in deinen Palast zurück, trink und lach mit deinem Volk und vergiss meinen Jammer ... Ich wüsste zwar eine Lösung, doch sie überstiege deine Macht.”
“Ich bin der Zar.”  Iwan hob Kopf und Schwert. “Was überstiege meine Macht?”

“Dein Auge wäre scharf genug, meine Hand zu sehen, blieben nur drei Nächte lang im ganzen Zarenreich die Lichter aus.”
“Kein Licht bei Nacht? Das ist gegen das Gesetz.”
“Das sag ich doch: Es übersteigt deine Macht.”
Iwan stand eine Weile reglos da, dann verließ er die Hütte, zog sich ins Schloss zurück und schlich wortlos ins Schlafgemach. Abends fragte Wassilissa: “Iwanuschka, mein Täuberich. Die Wolke um deine Stirn ist dunkler geworden. Konntest du den Koschtschej nicht ...?”
“Ich konnte seine Hand nicht sehen, die mir zeigte, wo sein wunder Punkt ist. Was er mir riet, ist gegen das Gesetz.”
“Was riet er denn?”
“Drei Nächte im Reich kein Licht anzuzünden, bis ich seine Hand erkennen kann.”
Wassilissa hielt den Atem an. Es galt als Zeichen für den Anbruch einer dunklen Zeit, wenn die Lichter auch nur eine Nacht erloschen.
Aber was half es? Nach einer Woche schlafloser Nächte ordnete Iwan an, ihm für weitere drei Tage die Augen zu verbinden und in dieser Zeit im ganzen Reich keine Laternen anzuzünden. Dann ließ er sich zum Waldrand führen und schlich zur Hütte mit dem grünen Rauch, der jetzt kräftig aus der Hütte quoll. Drinnen schwelte eine Glut, in die der Koschtschej blies und gelbe Scheite legte.
"Willkommen!” rief er freudig und sprang auf, als Iwan die Hütte betrat. “Wie ich sehe, hat die Dunkelheit dir gut getan. Heute gibst du mir den Todesstoß.”
“Wo soll ich dich erstechen?”
“Hier!”
Iwan trat so nahe an den Koschtschej, dass ihm vom Gestank der Fäulnis übel wurde, aber der Rauch war so beißend und dicht, dass er außer den funkelnd roten Augen nichts erkennen konnte. “Ich sehe nichts. Nimm die Schwertspitze in die Hand und halte sie auf den Punkt. Dann stoße ich zu.”
“Um Himmels willen! Nur an meinem wunden Punkt darf mich dein Schwert berühren. Kommt das Zarenschwert in meine Hand, sind wir für ewig verkettet und können nicht leben, nicht sterben. Deswegen schlage ich vor ...”

So kam es, dass es im Zarenreich allmählich immer dunkler wurde. Aus drei Tagen Dunkelheit wurde eine Woche, aus einer Woche ein Monat. Immer neue Gründe gab es, den Todesstoß zu verzögern. Der beißende Rauch schwelte zum Waldesrand, Iwan fand kaum noch die Hütte. Bald zogen Banden nachts durch die Gassen, kein ehrbarer Bürger wagte sich mehr auf die Straße. Lichtscheues Gesindel belagerte Straßen und Wege, drang in den Zarenpalast, unterwanderte die Regierung. Schon legte sich der grüne Rauch auf den Samtvorhang im Schlafgemach des Zaren.
 “Iwanuschka, mein Täuberich”, fragte Wassilissa. “Woher kommt nur dieser grüne Rauch, der täglich stärker in den Augen brennt?”
“Aus der Hütte des Koschtschej.”
“Aus einer einzigen Hütte? Er zieht schon durchs ganze Reich.”
“Seit der Koschtschej die Festungen und Wachtürme besetzt und uns eingekesselt hat, lässt er überall die gelben Scheite brennen, die den Rauch verbreiten.”
“Der Rauch vergällt mir das Leben. Was können wir dagegen tun?”
“Das weiß nur der alte Minister. Ich traue mich gar nicht mehr unter seine Augen.”
“Wir müssen ihn fragen.”
“Kümmert euch nicht um den Herrscher der Dunkelheit”, riet der Minister, “entzündet das Licht. Nur im Dunkeln hat der Koschtschej Macht.”
“Aber solange er lebt, bedroht er den Frieden im Land!”
Der Minister schüttelte den Kopf. “Habt ihr euch beim alten Zar nicht wohl gefühlt? Wusstet ihr überhaupt, dass der Koschtschej noch lebt? Väterchen Zar ließ die Lichter brennen, und das Volk war glücklich und zufrieden. Aber es musste wohl so kommen. Alles hat seine Zeit, der Zar, der Koschtschej. Längst sieht jeder deutlich seine Hand. Höchste Zeit, den wunden Punkt zu treffen. Zündet das Licht an!”
Wassilissa und Iwan berieten sich, und Iwan gab den Befehl, die Laternen wieder anzuzünden.
Aber es war zu spät.
Die Schergen des Koschtschej hatten soeben den Palast gestürmt, die Macht ergriffen und bei Todesstrafe verboten, im Reiche Licht anzuzünden. Als der Zar seine Anordnung gab, ergriffen ihn Wachen und schleppten ihn ins Gefängnis.
Wassilissa war außer sich und lief zum alten Minister. “Der Koschtschej hat sein Ziel erreicht, " sprach dieser bedrückt. "Er hat das Schwert des Zaren in der Hand. Jetzt ist das ganze Reich mit ihm verkettet und kann weder leben noch sterben. Sein einzig wunder Punkt ist die Missachtung. Es gibt nur eine Rettung: Wenn draußen kein Licht mehr brennen darf, zünde das Licht im Herzen an. Lade die Schergen des Koschtschej zu deiner abendlichen Märchenstunde. Als Märchen getarnt verbreite wieder Licht.”
So kommt es, dass Wassilissa heute durch die Lande zieht und mit ihren Geschichten die Herzen der Menschen erwärmt. Überall werden neue Lichtfunken gezündet. Ob das zarte Lied der Nachtigall den Wall der Finsternis durchbrechen kann? Noch sitzen auf den Laternenpfählen die Raben und lauern auf Beute. Aber ich bange und bete täglich, es möge Wassilissa gelingen, den Koschtschej wieder in seine Schranken zu weisen. Wenn alle helfen, müsste es uns gelingen.


Die Erstfassung erschien im April 2004 auf schreib-lust.de.




[editiert: 07.06.17, 22:02 von Jan]
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