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1968: Nackt durch die Straßen

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Jan
Administrator

Beiträge: 85
Ort: Oebisfelde


New PostErstellt: 11.10.11, 23:51  Betreff: 1968: Nackt durch die Straßen  drucken  weiterempfehlen

Nackt durch die Straßen

in einer lauen sommernacht 1968 saß ich bei der schriftstellerin katja behrens in der wiesbadener goldgasse und sprach mit ihr über kafkas "fassaden-ich". kafka ging davon aus, dass jeder mensch in der gesellschaft eine fassade aufsetzt und nicht sein wahres selbst zeigt. und ich ging davon aus, dass der künstler immer versuchen sollte, hinter die fassade zu schauen und das wahre wesen zu entdecken. katja meinte, die fassade sei aber auch ein schutz, ähnlich wie die kleidung, die wir in der gesellschaft tragen. dann kam ihr auslösender satz, der mich provozierte: "du würdest dich ja auch nicht ausziehen und nackt durch die gegend laufen."
"warum nicht? in der kunsthochschule zeichnen wir ständig den nackten menschen."
"das ist was anderes. das ist im atelier, nicht im alltag."
langer rede, kurzer sinn: es war kurz vor mitternacht und die straßen waren fast menschenleer. und ich sagte: "probieren wirs doch mal."
es war noch ein freund dabei, sie nahmen mich in die mitte, ich zog nur die jacke über und nichts darunter, und wir wagten uns auf die straße. sobald ich im freien war, merkte ich, dass ich auf die jacke und den schutz meiner begleiter verzichten konnte. eine ecke weiter standen die ersten passanten vor einem restaurant.
in diesem augenblick geschah in mir etwas seltsames. wenn ich manchmal geträumt hatte, mitten in einer gesellschaft falsch oder gar nicht bekleidet zu sein, hatte ich mich im traum immer hilflos und schutzlos gefühlt und furchtbar geschämt. jetzt aber sah ich, dass die passanten sich schämten. sie drehten sich um, als hätten sie nichts gesehen, und wagten erst wieder einen blick, als ich an ihnen vorbei und fast um die ecke war. so ähnlich verhielten sich auch die nächsten passanten, die uns begegneten. und ich fühlte mich plötzlich völlig frei und selbstsicher, narren- und vogelfrei wie eulenspiegel. und meine begleiter amüsierten sich köstlich über das ganze schauspiel.
so drehten wir eine runde ums karree, bis wir wieder vor dem haus der schriftstellerin standen, auf einer engen gasse der innenstadt direkt vor dem eingang einer kneipe.
da kam ein auto die gasse entlang, hielt direkt vor mir, der fahrer drehte die scheibe runter und sagte: "des gibts doch nit. des is doch garnit rischdisch angezoche! des is doch 'grober unfuch' oder so."
jetzt begann zwischen uns eine längere diskussion darüber, was denn "rischdisch angezoche" hieße. und während der diskussion kamen immer mehr zaungäste aus der kneipe, bis es mir und meinen begleitern zu brenzlich wurde und wir wieder ins haus gingen, wo ich mich in ihrer wohnung im ersten stock wieder anzog und hinterm offenen fenster den immer lauter werdenden tumult auf der straße verfolgte.
kurz darauf klingelte es, und zwei polizisten standen in der tür und fragten höflich, ob sich hier jemand befände, der vorhin unbekleidet auf der straße gewesen sei.
wir taten zunächst entrüstet, aber ein polizist merkte, dass wir die richtigen waren, und bat mich, einmal den kopf aus dem fenster zu stecken. hier muss ich dazusagen, dass ich zu der zeit gerade zum erstenmal eine glatze trug, was damals allerdings - im gegensatz zu heute - noch kein naturgegebener dauerzustand bei mir war.
als der fahrer auf der straße mich sah, deutete er auf mich und rief: "jaja, genau des isser! der glatzkopp!  jetz hotter e brill uff, vorhint hotter kaa uffgehappt."
"sehn se", sagte der polizist, "jetzt nehmen wir doch mal ihre personalien auf. was sind sie denn von beruf?"
"kunststudent."
"und warum machen sie sowas? als student müssten sie doch eigentlich ein ganz vernünftiger mensch sein."
"ich studiere das verhalten von bürgern in ungewohnten situationen."
"aber sie können doch nicht mitten in der stadt unbekleidet ..."
"ich war ja nicht unbekleidet ..."
"sondern?"
"völlig nackt, wie ich auf die welt gekommen bin, ohne haare und brille. genauso wie die neger im busch ..."
"aber wir sind doch hier nicht in afrika."
langer rede, kurzer schluss: einige monate später, als ich mich gerade längere zeit in asien aufhielt, wurde ich in abwesenheit zu dreihundert mark geldstrafe verurteilt. wenn ich dabeigewesen wäre, hätte ich natürlich gegen die bezeichnung "unbekleidet" protestiert und den tatbestand klargestellt: ich wollte einmal testen, ob man in unserer gesellschaft auch ohne fassaden-ich leben kann.
 zwei jahre später machten in new york die "Flitzer" schlagzeilen und ich erfuhr auch, das der erste "flitzer" in paris bereits Baudelaire war.


[editiert: 02.05.12, 01:16 von Jan]
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