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1990: Nándini

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Jan
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Beiträge: 85
Ort: Oebisfelde


New PostErstellt: 25.06.11, 01:37  Betreff: 1990: Nándini  drucken  weiterempfehlen

Nándini 

Hellgrün tanzten die Blätter der Birken in der heiteren Juniluft. Im
Schlosspark des Zauberers Dschânaka erklang die Mittagsglocke, und eine
Mädchenschar rannte zum Frauenflügel, aus dessen Innerem würziger
Essensduft drang. Vor dem Speiseraum stand mit hochgezogenen Augenbrauen
die Gouvernante und prüfte bei jedem Mädchen, ob die Fingernägel sauber
waren. Dschânakas Tochter Nándini kam als Letzte aus dem Garten, sah
das hagere Gesicht der Gouvernante unter dem schwarzen Dutt, und der
Appetit war ihr vergangen. Nein, heute wollte sie keine Fingernägel
vorzeigen! Sie machte auf dem Absatz kehrt, setzte sich auf eine Bank im
Park, verzog die Unterlippe und wischte sich mit dem Ärmel über die
Augen.

Da erklang vom Treppenhaus des Männertrakts ein fröhliches "Huhu!" Ihr
Zwillingsbruder Sahakâri stand am offenen Fenster und warf ihr einen
goldenen Ball zu. Nándini fing ihn auf und warf ihn zurück. Eigentlich
waren Männer- und Frauenflügel streng getrennt. Die Wiese, auf der die
Jungen spielten, war auf der anderen Seite des Palastes. Aber Sahakâri
konnte Nándini nicht traurig sehen. Übermütig warf er ihr den Ball zu,
dass er weit über ihren Kopf flog und auf der Wiese an den
dichtbepflanzten Streifen rollte, der den Park umgrenzte. Dort wuchsen
die riesigen fleischfressenden Pflanzen, die den Park gegen Räuber
abschirmten. In kräftigem Rot blühend, verströmten sie einen betäubenden
Duft.

Nándini lief dem Ball nach, konnte ihn aber nicht finden. Noch nie war
sie den verbotenen Pflanzen so nahe gekommen und hatte deren Duft
gerochen. Eine Pflanze streckte ihr einladend ihre gescheckten Blätter
entgegen, und als ihr Nándini mit offenen Armen entgegenlief, setzte ihr
die Pflanze sanft ihre klebrigen Fühler auf die Brust.

Mit aufgerissenen Augen gewahrte Sahakâri, was er angerichtet hatte.

"Nándini!”, rief er. ”Komm zurück!" Oft schon hatte er miterleben
müssen, wie ein Räuber, der den Pflanzen zu nahe gekommen war, ihnen
freudestrahlend die Arme entgegenstreckte und den Duft einsaugte. Bald
aber hing er betäubt und schlaff in den Ranken, dann schloss die Pflanze
ihre Blütenblätter um ihn, bis er nicht mehr zu sehen war. Wochen
später, wenn sich die Blüte wieder öffnete, stand im Blütenkelch nur
noch das blanke Gerippe, das zu Boden fiel und nach und nach vom dichten
Laub begraben wurde.

Nándini drehte den Kopf zu ihm um. "Ich kann nicht”, rief sie. "Ich will nicht weg. Oh, es ist so süß.”

Sahakâri sah sich verstohlen im menschenleeren Treppenhaus um. Alle
waren inzwischen beim Essen. Niemand bemerkte ihn. Er ergriff ein
Schwert, das zur Zierde an der Wand hing, sprang aus dem Fenster und
rannte über die Mädchenwiese zu seiner Schwester. Da lag der verflixte
Ball, weit genug vom Pflanzengürtel entfernt. Warum hatte sie ihn
ausgerechnet dort gesucht? Er hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche.
Nie wieder wollte er ihr Bälle zuwerfen, wenn es ihm nur gelang, sie zu
befreien! Er lief zu der Pflanze, die Nándini gefangen hielt, und
schlug mit dem Schwert auf die Fühler an ihrer Brust.

"Bist du wahnsinnig?”, schrie sie auf. ”Du zerstichst mir das Herz!"

Jetzt erst wurde sich Sahakâri bewusst, dass die Pflanze bereits
begonnen hatte, mit Nándini zu verschmelzen. Jeder Schlag auf den Fühler
schnitt ihr ins Herz. Er ließ das Schwert sinken, warf sich ins Gras
und hielt die Hände vors Gesicht.

Der betäubende Duft aber stieg auch ihm in die Nase, schon spürte er den
Drang, sich der nächsten Blume in die offenen Blätter zu werfen. Er
wollte sich aufrichten und dem Dunstkreis entfliehen, aber bei jeder
Bewegung in Richtung Haus waren seine Glieder wie gelähmt. Wandte er
sich dagegen zu den Pflanzen, lief ihm ein Kribbeln durch den Körper und
machte ihn leicht und beschwingt. Er wartete, bis der Wind abdrehte und
den Duft verwehte, dann schob er sich Ellenbogen um Ellenbogen, Knie um
Knie zurück in Richtung Haus.

Dort kletterte er durchs offene Fenster und lief in den Keller zur
unterirdischen Zauberkammer seines Vaters. Vor der Tür begann sein Herz
wie wild zu flattern und er setzte sich in den Flur, um sich zu sammeln.
Eine sanfte Stille lag in den Gewölben vor der Kammer. Sahakâri schloss
die Augen und sah im Geist die furchtbaren Szenen vor sich: das
Ballspiel, seine suchende Schwester, die unheilvolle Umarmung der
Pflanze.

Da erinnerte er sich an die Geschichte, die er als Kind oft gehört aber
nie recht verstanden hatte. Die fleischfressenden Pflanzen waren in
Wahrheit verzauberte Menschen, die aus ihrem schrecklich-schönen Dasein
erst erlöst wurden, wenn sie mitsamt der Wurzel in den Innenhof des
Palastes verpflanzt und von einer liebenden Menschenseele gegossen
wurden. Dann verloren sie ihre fleischfressende Eigenschaft und
erschienen so schlicht und unscheinbar, dass sie niemand mehr beachtete.
In diesem Zustand aber reifte ihre Seele, bis sie den Bann aus eigener
Kraft durchbrechen und ihre menschliche Gestalt zurückerlangen konnten.

Plötzlich wusste Sahakâri, was er zu tun hatte. Ohne den Vater zu
stören, schlich er in sein Turmzimmer, nahm ein Tuch aus dem Schrank und
tränkte es in Sandelöl. Er kletterte aus dem Treppenfenster auf die
Wiese, holte aus dem Schuppen des Gärtners Spaten und Schubkarren, band
sich das Tuch vor die Nase und trat in den Duftgürtel. Als er mit dem
ausgraben begann, stöhnte Nándini. "Was tust du? Lass mich, ich will
hier bleiben."

Sahakâri gab keine Antwort.

"Sahakari, hör auf! Du zerstörst das Glück meines Lebens."

Er biss die Zähne zusammen und grub weiter. Bald wurde Nándinis Stimme
schwächer, dann hing sie schlaff und betäubt in der Pflanze.

Nach einer halben Stunde lag die Wurzel frei. Sahakâri setzte die
Pflanze mit der schlafenden Nándini in die Schubkarre und brachte sie
durch die Hinterpforte in den Innenhof des Palastes. Dort legte er sie
ins Gras und hob eine Grube aus.

Als er die Pflanze mit der Wurzel in die Grube setzte, hatte sie bereits
an Klebrigkeit verloren. Mit einem Eimer lief er zum Goldfischteich und
holte Wasser zum Gießen. Da lösten sich die Fühler von Nándinis Herz,
sie griff sich an die Brust und stöhnte. Dann schlug sie die Augen auf
und fuhr sich über die Stirn. "Ich habe geträumt?"

Sahakâri sah ihr in die Augen, und die Tränen rannen ihm übers Gesicht. "Komm", sagte er, "Vater wartet."

“Ich traue mich nicht vor seine Augen.”

“Wir müssen zu ihm.”

Durch einen Seitengang liefen sie in den Keller. Auf dem Flur zur
Zauberkammer schlug sich Nándini an die Brust. "Was soll ich sagen, wenn
er fragt, wie alles kam?"

"Mach dir keine Gedanken." Sahakâri zog sie weiter, doch sie sträubte sich.

"Sieh nur, wie schmutzig meine Fingernägel sind. So kann ich mich nicht zeigen."

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie zur Tür. Er wusste,
dass ihr Vater, wenn er in der Zauberkammer saß, durch seine
Kristallkugel alles beobachten konnte. Und er wusste auch, dass sich die
Tür öffnen würde, sobald er mit Nándini davor stand.

"Ich kann nicht", sagte Nándini. "Ich kann ..."

Es knackte leise und die Tür sprang auf. Sahakâri schob das schwere Holz auf und trat mit Nándini ein.

Dschânaka saß in seinem Stuhl und tat, als habe er das Knarren nicht
bemerkt. Erst als Nándini neben ihm stand und ihre Hände hinter dem
Rücken verbarg, sah er sie an, schlug seinen weinroten Mantel auf und
nickte. Da verlor sie ihre Scheu und fiel ihm in die Arme. Als sie
anfing zu schluchzen, zog er den Mantel über ihr blondes Köpfchen. Bald
war sie im Schoß des Vaters eingeschlafen.

Sahakâri setzte sich auf den Boden daneben. Dschânaka würdigte ihn
keines Blickes. Erst als Nándini wieder erwachte, schaute ihn der Vater
an und sagte: "Ihr müsst Hunger haben. Geht etwas essen."

Da flitzten sie los, durch Kellergänge und Treppenhaus, in den
Speisesaal der Mädchen, wo jetzt keine Gouvernante mehr aufpasste. Alle
Kinder hatten jetzt Unterricht. Aber auf dem Tisch standen noch
Ingwersaft und Erdbeersahne, und im Wärmeofen fanden sie zwei große
Teller mit Teignudeln in Soße, Oliven und Gurken.

Nándini pflegte täglich die Blume im Innenhof, gab ihr Wasser und
befreite sie von welken Blättern, Woche für Woche, Jahr für Jahr. An dem
Tag, als sie achtzehn wurde, erwachte die Menschenseele der Pflanze,
trat als Prinz vor Dschânaka und bat ihn um Nándinis Hand.


Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband:
https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html


[editiert: 04.01.23, 13:21 von Jan]
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