Kreative Intelligenz
Texte für Freunde der Vedischen Wissenschaft
 
Sie sind nicht eingeloggt.
LoginLogin Kostenlos anmeldenKostenlos anmelden
BeiträgeBeiträge MembersMitglieder SucheSuche HilfeHilfe StatStatistik
ChatChat VotesUmfragen FilesDateien CalendarKalender BookmarksBookmarks
1958: Fremder im Dorf

Anfang   zurück   weiter   Ende
Autor Beitrag
Jan
Administrator

Beiträge: 85
Ort: Oebisfelde


New PostErstellt: 20.09.11, 18:23  Betreff: 1958: Fremder im Dorf  drucken  weiterempfehlen

Fremder im Dorf

Ich nahm das verzinkte Kabelrohr zusammen mit der leeren Kanne in die
Linke und schwang mich aufs Rad. Vorsichtshalber eine Viertelstunde früher als sonst.
Um diese Zeit war es noch hell, ich konnte die Böschung gut sehen. Bevor die Böschung
begann, hatte ich nichts zu befürchten. Da ging die Straße frei durch flaches Feld.

Zwei Kilometer bis ins Dorf. Wie lang sich diese Strecke plötzlich zog!
Während ich in die Pedale trat, ging mir immer dieselbe Frage durch den
Kopf: Was wollten sie von mir? Was hatte ich ihnen getan? Was konnte ich
dafür, dass wir von einer Gegend in die andre zogen wie Nomaden –
Sachsen, Bayern, Hessen, Schweiz – von dort wieder ausgewiesen wegen
Überfremdung, und jetzt in diesem Nest gelandet waren, an der Schweizer
Grenze? Dass ich statt Fußballspielen lieber Marionetten bastelte und
Bühnenbilder malte?

An der Kurve mit den Büschen, wo die Wiese absank, suchten meine Augen
wachsam den Straßenrand ab. Hier, dachte ich, war die Gefahr am größten.
Im Gebüsch, im Straßengraben, hinter der Böschung hätten gut und gerne
dreißig Kerle Platz.

Alles blieb still. Das Schlimmste war geschafft!

Bei der Brücke über den Fischbach fuhr ich genau auf dem Mittelstreifen,
möglichst weit vom Geländer entfernt. Darunter könnten fünfzehn Kerle
auf mich lauern.

Wieder blieb alles ruhig. Hatte sich Hedi verhört?

Jetzt die Rechtskurve, die am Waldrand vorbei führte. An dieser Stelle
hielt ich einen Überfall für unwahrscheinlich. Hinter dem Ortsschild
standen schon die ersten Häuser, dann der Hof vom Bauer Isele.
Erleichtert fuhr ich durch die Toreinfahrt, lehnte mein Rad an die Wand
und trat in den Flur.

“Und?” Hedi nahm mir die Milchkanne ab.

“Alles friedlich wie immer.”

Hedi verschwand mit der Kanne und brachte sie kuhwarm zurück. “Aafm Hoimweg”, meinte sie. “I kenn den Joschi.”

“Danke”, sagte ich. “Wenn du nicht wärst ...”

Hedi wurde rot. “Un wos isch dees?”

“Mein Blasrohr.”

“Des bringt nix. So was hent die aa. Bloib lieber hier.”

“Spinnst du? Dann denken die ...”

“Na und? Du bischt nur oiner gege vierzig, fuchzig!”

“Aber warum? Was hab ich denn getan?”

“Du bischt halt fremd. Und gohscht wo andersch in die Schul. Pass acht!”

“Mach ich. Bis morgen.”

“Hoffentlich!”

Hedi berührte meine Hand und schaute zu, wie ich mein Rad durchs Tor schob und davonfuhr.

Mit der vollen Kanne fuhr ich unbeholfener. Blasrohr und Kanne hielt ich
in der Linken, mit der Rechten lenkte ich das Rad. Als ich den Dorfrand
erreichte, war die Dämmerung hereingebrochen. Mit den Augen suchte ich
den Waldsaum ab. Nach der Kurve kam die Wiese, düster, schwarz. Kalter
Wind zog mir durchs dünne Hemd. Bei der Brücke fuhr ich wieder auf dem
Mittelstreifen. Wenn ich unbehelligt bis zur nächsten Kurve käme, hätte
ich‘s geschafft!

Wie aus dem Boden geschossen standen sie quer auf der Straße! Sechs,
acht düstere Gestalten! Ich hörte meinen Herzschlag. Der Kraftprotz in
der Mitte musste Joschi sein. Keinen einzigen von ihnen hatte ich je
gesehen. Ich hielt an. Der Dicke lachte heiser.

Ein heller Lampenstrahl blendete mich, zwanzig Augenpaare starrten aus
der Böschung. Ob sie das Schlottern meiner Arme, meiner Knie sehen
konnten, weiß ich nicht. Keiner sprach. Sie starrten mich nur an.

Die Fahrradstange zwischen den Schenkeln, hängte ich die Kanne so
gelassen wie möglich an den Lenker und hielt mein Blasrohr hoch. Es
glitzerte im Schein der Lampe.

“Wisst ihr, was das ist?”

Joschi winkte lässig mit der Hand. Wie auf Kommando hob jeder sein
Blasrohr hoch und legte auf mich an. Fast dreißig Rohre aus
Holunderholz. So war das also! Sie lasen hier im Dorf wohl auch den
"Stern", mit dem "Sternchen" und der Bastelecke.

Langsam, wie gelähmt, griff ich in die Tasche, zog einen Blasrohrpfeil
heraus und hielt ihn hoch: ein Streichholz, mit Stecknadel verlängert
und am Übergang mit Klebeband so dick umwickelt, dass es genau ins Rohr
passte. Drei solcher Pfeile hatte ich dabei.

Joschi lachte und gab den anderen ein Zeichen. Alle hielten ebensolche
Pfeile hoch, steckten sie ins Mundstück ihres Blasrohrs, grinsten
hämisch.

In meiner Magengrube kam ein mulmiges Gefühl auf. Schon sah ich mich im
Fischbach liegen, Hals und Beine gebrochen, Kopf unter Wasser.
Schlagzeile: Sturz im Dunkeln.

Was hatte ich dieser Horde nur getan? Waren sie sauer, dass ich mich
außer zum Milchholen so gut wie nie im Dorf blicken ließ? Dass ich schon
morgens in den Zug nach Waldshut stieg und ins Gymnasium ging, während
sie die Dorfschule besuchten? Glaubten sie, ich käme mir besonders
schlau vor? Was half mir jetzt das ganze Bücherwissen?

Ich sah auf die Nadelspitze des Pfeils in meiner Hand. Im Licht der
Taschenlampe blitzte sie gelblich. “Seht ihr diese gelbe Spitze?”

Das war neu. Wo gab es Stecknadeln mit gelber Spitze? “Wisst ihr, was das ist?”

Das fragte ich mich selbst. Ich schaute in die reglosen Gesichter, bis ich die Antwort wusste: “Schlangengift! Aus Afrika.”

Joschis Lampenstrahl blieb fest auf mich gerichtet.

“Wer das abkriegt, der ist eine Woche lang gelähmt.”

Gemurmel. Drei aus der Sperre traten außerhalb der Schussweite. Ich
schöpfte Mut, griff wieder in die Tasche, hielt den zweiten Pfeil ins
Licht. “Und hier, die rote Spitze!” Ich drehte sie nach allen Seiten,
zeigte sie nach links und rechts, denn ich wusste, keiner konnte sehen,
ob sie wirklich rot war. “Wer die abkriegt, der kann einen Monat lang
nicht reden und nicht schlucken: Kehlkopflähmung!”

Der neben Joschi wollte sich verdrücken. Joschi hielt ihn zurück: “Der blufft doch bloß!”

“Tja!” Betont gelassen kramte ich den dritten Pfeil aus meiner
Hosentasche. “Wenn alles nur Bluff ist, dann haut dich auch der grüne
Pfeil nicht um. Mein großer Bruder hat das Zeug erst letzte Woche
mitgebracht, von den Buschnegern aus Swasiland.” Mein Bruder, der in
Hessen wohnte, war tatsächlich hier gewesen. Jeder im Dorf hatte den
bärtigen Hünen gesehen. Er lernte Suaheli, weil er später nach Afrika
wollte. “Er sagt, den darf ich nur im Ernstfall schießen, nur aus
Notwehr.” Bedächtig steckte ich den Pfeil ins Rohr. “Wer den abkriegt,
der spürt am Anfang nichts als einen Piks und bleibt drei Wochen ganz
normal. Dann kriegt er Fieber, Schreikrämpfe und rote Flecken.” Fast
glaubte ich es selbst. Ich suchte Joschis Blick. “Und eine Woche später
ist er tot. Aber beweisen, dass es an dem Gift liegt, kann man nicht. So
sagt mein Bruder. Ob‘s stimmt, das weiß ich erst nach einem Monat.”

Ich legte das Rohr an die Lippen und zielte auf Joschis Brust.

Totenstille. Keiner rührte sich. Ohne Kommentar erlosch die Taschenlampe.
“Giftmischer!” fauchte Joschi. “Hau ab, du feige Sau!”

Nichts war mir lieber. Als ich an Joschi vorbeikam, schoss mir ein
Schwall ohnmächtiger Wut entgegen. Er musste ahnen, dass mein
Schlangengift erfunden war. Aber das Wagnis, die Ungewissheit waren zu
groß. Plötzlich war mir klar: Er schämte sich vor seiner Bande. Ehe er es sich anders überlegte, fuhr ich mit schlotternden Knien so schnell wie möglich nach Hause.

Zuerst veröffentlicht im Mai 2004 auf schreib-lust.de

Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband:
https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html


[editiert: 04.01.23, 13:19 von Jan]
nach oben
Benutzerprofil anzeigen Private Nachricht an dieses Mitglied senden Website dieses Mitglieds aufrufen
Sortierung ndern:  
Anfang   zurück   weiter   Ende
Seite 1 von 1
Gehe zu:   
Search

powered by carookee.com - eigenes profi-forum kostenlos

Layout © subBlue design