Ich habe ein paar Einwände. Leider habe ich im Moment wenig Zeit, deswegen werde ich mich möglichst kurz fassen, und am Wochenende versuchen das Ganze weiter auszuführen. Und zwar bin ich nicht ganz einverstanden, was du über den englischen Ästhetizismus sagst. Das radikale l'art pour l'art-Dogma, das auch das Leben und die Ethik ausschließt, ist meines Wissens in Frankreich angesiedelt. In England herrscht eher die Tedenz der Verklärung des Lebens durch die Kunst, ohne die Absolutsetzung aufzuheben. Dazu gehört Ruskin sowie Oscar Wilde und Walter Pater. Im Walter-Killy-Literaturlexikon steht das folgendermaßen:
Zitat: Walter Killy
In England formierte sich eine vergleichbare Bewegung im Anschluß an die 1848 gegründete Malervereinigung der ›Pre-Raphaelite Brotherhood‹. Ihre Gründer u. Anhänger (Dante Gabriel Rossetti, John Everett Millais, William Holman Hunt, später u.a. William Morris, Algernon Charles Swinburne, John Ruskin, Edward Coley Burne-Jones) erkannten der Kunst indessen noch eine ethisch-ideelle Zielsetzung zu. Rückwendung in eine idealisierte Vergangenheit, MA- u. Renaissancekult sollten zgl. den Blick für die bedrängenden sozialen Probleme der eigenen Gegenwart schärfen. Erst die zweite Generation des ›Oxford Revival‹, die Spätviktorianer u. Repräsentanten der ›Nineties‹ (Burne-Jones, Walter Pater,Oscar Wilde, Aubrey Beardsley) bekannten sich zum rigoristischen Credo eines ›art for art's sake‹, wie es Pater verkündete, wenn er in der Conclusion zu seinen Studies of the Renaissance (1873) die leidenschaftl. Hingabe an die Kunst als eine die flüchtige zeitl. Erfahrung transzendierende Verdichtung u. Verklärung menschl. Daseins pries. Diesen Standpunkt eines konsequenten l'art pour l'art, das [...] nicht auf Trennung vom Leben, sondern auf dessen Transformation durch die Kunst abzielte, radikalisierte Wilde mit der Propagierung einer dandyhaften Artifizialität u. mit seinen Plädoyers für eine moral- u. zweckfreie Kunstübung in den pointierten Aphorismen der Intentions (1891) u. der Vorrede zum Roman The Picture of Dorian Gray (1891). |
Ich werde bis zum Wochenende noch genaueren Zitaten aus seinen Essays suchen. Wichtig ist aber, dass beide Richtungen (Frankreich einerseits, England andererseits) das l'art-pour-l'art-Dogma beibehielten (anders könnte man garnicht von Ästhetizismus sprechen), aber unterschiedliche Positionen vertraten bei der Frage, um den Einfluss der Kunst auf das Leben.
Tatsache ist aber, das Oscar Wilde die Moral maßgeblich ablehnte. Wichtig ist aber, zu verstehen, wie er die Moral verstand: Es ist keine Moral, die aus irgendeinem moralischen Gesetz deduziert wird (wie z.B. bei Kant der "kategorische Imperativ"), sondern es erklärt sich voll und ganz aus der gesellschaftlichen Struktur, die erst "eine" Moral hervorbringt. Man könnte dann ganz nietzscheanisch von einer "Herdenmoral" reden, dem eine einzigartige Persönlichkeit entgegengestellt wird, die, jenseits von Gut und Böse, über der menschengemachten Moral steht (bei Wilde "das ästhetische Temperament", bei Nietzsche in gewisserweise der "Übermensch"). Und genau dieser Art von Moral setzt Wilde die Kunst entgegen, die nach ihm und natürlich nach dem ästhetizistischen Theorem, absolut über der Wirklichkeit und dem Leben steht. Das heißt aber nicht, dass sich das Leben nicht nach der Kunst richten kann. Im Gegenteil: Gerade darum steht die Ästhetik höher als die Ethik, weil die Ethik und mit ihr die von Wilde so vehasste "Tat" in der Wirklichkeit haften bleibt, während die Ästhetik die Wirklichkeit überwindet und deshalb dem Leben ein Ideal zeigen kann.
Das aber nur vorläufig. Inwieweit man die Homosexualität dort mithinein nehmen soll, ist mir ein Rätsel. Natürlich gab es immer eine homophile Tedenz in ästhetizistischen Kreisen. Musterbeispiel ist wohl der George-Kreis und soviel ich weiß hatten Rimbaud und Verlaine lange Zeit ein Verhältnis. Außerdem ist das Kunstverständnis weitgehend platonisch angehaucht. In den beiden wegweisenden Dialogen von Platon "Symposium" und "Phaidros" wird eindeutig über Homosexualität diskutiert. In Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" ist das sehr schön ausgeführt. Vielleicht lässt sich so irgendwie eine Brücke schlagen.. Naja, vielleicht fällt mir ja noch was ein
Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern.
(Friedrich Hölderlin)
Destiny does not send us heralds. She is too wise or too cruel for that.
(natürlich Oscar Wilde)
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Hat je ein Dasein als es selbst frei darüber entschieden, und wird es je darüber entscheiden können, ob es ins "Dasein" kommen will oder nicht ? Martin Heidegger