Sie sind nicht eingeloggt.
LoginLogin Kostenlos anmeldenKostenlos anmelden
BeiträgeBeiträge MembersMitglieder SucheSuche HilfeHilfe StatStatistik
ChatChat VotesUmfragen FilesDateien CalendarKalender BookmarksBookmarks
Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen
Staatsterror durch staatliche Eingriffe in das Familienleben
Verletzung von Menschenrechten, Kinderrechten, Bürgerrechten durch Entscheiden und Handeln staatlicher Behörden im familienrechtlichen Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Familienhilfe unter anderem mit den Spezialgebieten Jugendamtsversagen und Jugendamtsterror
Fokus auf die innerdeutsche Situation, sowie auf Erfahrungen und Beobachtungen in Fällen internationaler Kindesentführung und grenzüberschreitender Sorgerechts- und Umgangsrechtskonflikten
Fokus auf andere Länder, andere Sitten, andere Situtationen
Fokus auf internationale Vergleiche bei Kompetenzen und Funktionalitäten von juristischen, sozialen und administrativen Behörden

"Spurensuche nach Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen"
ist ein in assoziiertes Projekt zur
angewandten Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung
"Systemkritik: Deutsche Justizverbrechen"
http://www.systemkritik.de/

 
Ein Adoptivkind berichtet: Lob der Wahlverwandten

Anfang   zurück   weiter   Ende
Autor Beitrag
Gast
New PostErstellt: 01.12.07, 19:35  Betreff: Ein Adoptivkind berichtet: Lob der Wahlverwandten  drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

Ein Adoptivkind berichtet
Lob der Wahlverwandten

Von Annette Mingels
Als Annette Mingels ihre Adoptionsunterlagen sah, wunderte sie am meisten, dass die anders hieß

Als Annette Mingels ihre Adoptionsunterlagen sah, wunderte sie am meisten, dass die anders hieß

30. November 2007 Mein Vater hat grüne Augen, er ist schlaksig und blond, ich sehe aus wie er. Nachts knirschen wir beide mit den Zähnen, Heuschnupfen bekamen wir erst im Erwachsenenalter, wir haben niedrigen Blutdruck, sind kurzsichtig und bekommen schnell Sonnenbrand, wir sind aufbrausend und versöhnen uns sofort wieder, man sieht die Ähnlichkeit, sagen die Leute. Wir schauen uns dann an und grinsen: Wem sieht man nicht alles ähnlich.

Vielleicht hat mich das am meisten gewundert, als meine Eltern mir die Unterlagen zeigten: dass ich anders hieß. Dass nicht nur der Nachname ein anderer war, sondern auch der Vorname. Mein zweiter Vorname, Aliana, war der erste und einzige. Ich war zwölf und las: „Ich bin damit einverstanden, dass mein Kind, Aliana Berger, geboren am 18. August 1971, durch das Jugendamt in eine Inkognito-Adoption vermittelt wird.“

„Es war ein Schreck“

Ich las: „Der Bestätigungsbeschluss ist unanfechtbar. Das Kind führt nunmehr den Familiennamen: Mingels.“ Ich las: „Die Eltern des Kindes, die geschiedenen Eheleute Georg Berger* und Frau Andrea Berger* (*Namen geändert), geb. Peterson, haben ihre unwiderrufliche Einwilligung zur Kindesannahme erteilt. Die Eheleute Mingels nehmen die minderjährige Aliana Berger an Kindes statt an.“ Die Urkundenrolle trug die Nummer 656 und hatte ein rotes Siegel in Form eines vielzackigen Sterns. Andrea Berger lebte in Köln und kam aus Ostfriesland. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ab jetzt keine Ostfriesenwitze mehr.

Jahre später wollte eine Freundin von mir wissen: „Was hast du damals gefühlt?“ „Es war ein Schreck“, sagte ich, „und im nächsten Moment aufregend; ich fühlte mich wie die Heldin in einem der Romane, die ich las.“ Zu keinem Zeitpunkt war ich verzweifelt, es brach keine Welt für mich zusammen, ich weinte ein bisschen, dann war das vorbei. Ich fragte: „Wie lange musstet ihr auf mich warten?“, und meine Eltern sagten: „Lange. Sieben Jahre.“ Ich hatte nie das Gefühl, nicht erwünscht gewesen zu sein. Auf andere Kinder, dachte ich, wartet man neun Monate, auf mich jahrelang.

Es gibt ein Schwarzweißfoto von meiner jungen, schönen Mutter, wie sie ein Flugzeug mit einer Baby-Tragetasche in der Hand verlässt. Sie hatte mich im Kölner Krankenhaus abgeholt, wir waren nach Madrid geflogen, wo meine Eltern damals lebten. Am nächsten Tag gaben sie eine große Feier: mein Geburtsfest. Ich war zwei Wochen alt. „Du warst der Star des Abends“, sagte mein Vater.

„Ihre Mutter ist Autorin, Fotografin und Schauspielerin“

Ich habe nie viel über meine Herkunft nachgedacht. Wenn ich es tat, dann mit einer Mischung aus Neugierde und Aufregung. Ich wusste, dass ich außerehelich entstanden war. Eine Liebesaffäre, dachte ich. Leidenschaft, Romantik, Unglück, all das. Wenn ich mir Andrea vorzustellen versuchte, dann als entfernte Bekannte, nicht als Mutter. Ich hatte eine Mutter, ich wollte keine zweite.

In Deutschland ist es nicht schwer, die leibliche Mutter ausfindig zu machen. Das Jugendamt hilft dabei. Irgendwann, dachte ich, würde ich es tun. Um eine Klammer zu schließen, die bei meiner Geburt geöffnet wurde und nun wieder geschlossen werden sollte. „Bevor sie tot ist“, dachte ich. Viele sterben früh, warum sollte sie noch leben, ich war dreißig, sie musste fünfundfünfzig sein. Der Brief vom Jugendamt erreichte mich in Neuenburg: „Ihre leibliche Mutter hat in all den Jahren Kontakt zum Jugendamt gehalten. Sie würde Sie gerne kennenlernen. Sie ist Autorin, Fotografin und Schauspielerin. Jahrelang lebte sie in Los Angeles und nun in Australien; mehrmals im Jahr ist sie in Deutschland. Sie haben drei Halbgeschwister.“

Wenn ich sie treffen wolle, solle ich mich beim Jugendamt in Köln melden. Ich hatte soeben meine Doktorarbeit beendet und unterrichtete an der Universität, daneben schrieb ich an meinem ersten Roman. Die Frau vom Jugendamt sagte: „Da sind Sie ja beide Schriftsteller.“ Sie lachte und sprach von Genen, ich sagte: „Na ja.“ Doch, meinte sie, das solle man nicht unterschätzen. Dann telefonierte ich mit meinem Freund: „Die biologische Mutter hat sich gemeldet.“ „Und jetzt?“ - „Jetzt schreibe ich ihr.“

Einige Tage später sah ich sie zum ersten Mal

Andrea reagierte prompt, ihre Antwort kam aus Brisbane: „Liebe Annette, beinah hätte ich Aliana geschrieben, da ich dich immer so genannt habe, wenn ich an dich gedacht oder über dich gesprochen habe.“ Sie habe in Köln gelebt damals, sie sei ein Hippie gewesen, sei es eigentlich immer noch, sie habe diesen Amerikaner kennengelernt und sich stürmisch verliebt, er sei Musiker gewesen und sie Schauspielerin, sie hätten sich nach ein, zwei Wochen wieder aus den Augen verloren, er sei zurück nach Amerika gegangen - und sie habe gemerkt, dass sie schwanger war. „Das gefiel mir sehr; auch der Gedanke, ein Kind alleine großzuziehen“, in einer Kommune habe sie leben wollen, das Kind als gemeinsames Projekt. Und dann doch nicht.

Einige Tage später sah ich Andrea zum ersten Mal. Mein Freund hatte den Fellini-Film besorgt, in dem sie mitspielte. Im Film ist sie so alt wie ich. Das Haar, glatt und braun, reicht ihr bis auf die Schultern. Schmale Taille, starke Hüften. Sie geht langsam, fast schlendernd, manchmal gestikuliert sie energisch, dann lacht sie, sie spricht Italienisch, schreit. Nie wirkt sie, als vergesse sie die Kamera und sich selbst. „Meinst du, die ist es?“, fragte mein Freund und zeigte auf den Bildschirm. „Oder die da?“ Dann aß sie ein Stück Schokolade, und mein Freund lachte: „Jetzt sieht sie genau aus wie du.“ Ich betrachtete sie, wie sie kaute, schluckte, ihre Blicke, ich spulte zurück, betrachtete die Szene wieder und wieder. Es war, als ob man seine Stimme auf Tonband hört: seltsam vertraut und ein wenig peinlich. Ich sagte abwehrend: „Es könnte jede dieser Frauen sein.“ Mein Freund war sich sicher: „Schau sie dir doch an.“ Andrea war hübsch. Die andere Schauspielerin war hübscher.

Szenen aus dem Fernsehen

Im Buchladen fand ich eines ihrer Bücher. Es stand in der Esoterik-Ecke und handelte von indianischer Spiritualität. Nun habe ich kein Bedürfnis nach Esoterik: Tarotkarten, Schamanismus, Horoskope, alles nichts für mich. Ich blätterte in dem Buch, überflog die Seiten: Von einem „Seelenfreund“ war die Rede, von der „Mondin“, von Mythen, Mysterien. Ich stellte das Buch zurück ins Regal.

Bis wir uns das erste Mal trafen, vergingen noch einige Monate, in denen ich heiratete, nach Zürich zog, mein erstes Buch erschien und ich die Universität verließ, um eine Stelle anzunehmen, die ich gleich wieder kündigte. Dann rief Andrea an. Sie könne am Wochenende kommen, ihre Tochter werde ihr einen preiswerten Flug besorgen, sie sei Pilotin. „Wie siehst du aus?“, fragte sie. „Blond“, sagte ich, „glatte Haare. Einsfünfundsiebzig groß.“ „Blond?“, fragte sie. „Deine Schwester hat dunkle Locken“, sie lachte. „Und sie ist eher klein.“ Sie sagte: „Ich werde dich erkennen.“

Natürlich kenne ich diese Szenen aus dem Fernsehen: das Umklammern, die Tränen, die Fassungslosigkeit, die ganze Gefühlsseligkeit, die suggeriert, dass der Mensch, mag er auch noch so sehr sozial geprägt sein, doch vor allem instinktiv funktioniert. Als sei Mutterschaft nur etwas Biologisches - und wir nicht viel mehr als Hunde, die sich am Geruch wiedererkennen. Es erscheint mir wie eine törichte Lüge. Ich würde nie Mutter zu Andrea sagen. Alles, was ich mit diesem Begriff verband, war vergeben. Um halb sieben landete ihr Flugzeug, ich stand am Gate, ich war nervös und sah jeder Frau ins Gesicht.

Erfahrungen mit Heilern und Hippies

Sie war kleiner als erwartet; das Haar kurz, ihr Gesicht zart, mit einer langen, schmalen Nase. Ein wasserheller Zirkonia funkelte auf ihrer Stirn. Sie trug eine bunte Samtjacke und roch nach etwas Süßem. Wir gaben uns die Hand. „Ich habe dich sofort erkannt“, sagte sie. Im Auto betrachtete sie mich von der Seite. „Du erinnerst mich an Jeff.“ Sie lachte. „He was God for me. Zumindest zwei Wochen lang.“ Im Lokal erzählte sie von ihrem Leben in Amerika und Australien, von ihren Kindern, drei, von denen nur der jüngste Sohn bei ihr aufgewachsen ist, eine Tochter beim Vater, ein Sohn bei den Großeltern. Sie sagte: „Sie sind toll.“

Andrea flirtete mit dem Kellner, dem Mann am Nebentisch, vorbeigehenden Gästen, sie flirtete mit mir, den Töchtern des Kochs, sie erzählte von ihren Erfahrungen mit Heilern und Hippies, von den Männern in ihrem Leben, den Reisen, immer noch habe sie keinen festen Wohnsitz, halte es nirgends lange aus, oft sei sie in Indien, auf Gomera, in Amerika und immer wieder in Australien. Sie schilderte das Haus eines Freundes, in dem sie dort lebte, die Holzveranda, über die, handtellergroß, die Spinnen liefen. Sie beschrieb die indischen Frauen, ihre bunten Gewänder, sie fragte, „warum bist du schwarz angezogen? Schwarz ist keine Farbe“, manchmal hielt sie inne, betrachtete mich und trank einen Schluck Wein. Ständig habe sie Fernweh, gestand sie, und zuweilen diffuses Heimweh. Sie glaube an die große Liebe: Irgendwann, bald schon, werde sie ihr begegnen: „The best is yet to come.“

„Ich bin nicht deine Tochter“

Sie war rhetorisch gewandt, lobte, um selbst gelobt zu werden, war freundlich und exaltiert, in all dem sehr fremd. Gleichzeitig entdeckte ich Züge an ihr, die ich von mir kannte. Äußerlich - in ihrer Mimik, der Art zu sprechen und zu essen. Aber auch, und das war unangenehmer, in ihrem Charakter: diese Eitelkeit kannte ich, den unverhohlenen Egoismus, den ich, so hoffte ich, hinter mir gelassen hatte, im Kosmos meiner Kindheit, in dem sich alles auf wundersame Weise um mich zu drehen schien, jedes Ding ein Zeichen, jedes Zeichen ein Versprechen. Ich war inzwischen ruhig geworden: Was für ein Glück, dachte ich, dass sie mich weggegeben hat.

Als ich sie ins Hotel brachte, holte sie eines ihrer Bücher aus der Tasche. „Meiner lieben Tochter Annette Aliana“, schrieb sie auf die erste Seite, darunter setzte sie einen Kuss. „Ich bin nicht deine Tochter“, sagte ich. Sie schaute verblüfft auf, ein wenig beleidigt, dann sagte sie „okay“. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen.

Das Alter stimmte, die Beschreibung auch

Wir gingen frühstücken, mein Mann kam mit. „Ist der Orangensaft frisch gepresst?“, fragte Andrea. Die Kellnerin nickte. „Und könnte ich statt des Toastbrots Vollkornbrot haben?“ „Ja“, sagte die Kellnerin. „Und das Ei vier Minuten statt fünf.“ Andrea lachte der Kellnerin zu, die lächelte unsicher. „Und haben Sie Aprikosenmarmelade?“ Das Mädchen sagte ergeben: „Glaub' schon.“ Dann wandte sich Andrea meinem Mann zu. „So ein schöner Mann“, würde sie später sagen. „Oh je“, sagte er, als sie zur Toilette ging. Wir liefen durch Zürich. Ich lud Andrea zum Essen ein. Sie hatte es nicht gesagt, aber ich wusste, dass sie wenig Geld hatte.

Sie erzählte, wie sie mit einem Arzt den Preis für eine Behandlung ausgehandelt hatte. Kurz sah sie besorgt aus, dann lachte sie wieder. „Irgendetwas drängt mich, nach Südamerika zu gehen. Ich glaube, dort finde ich meine letzte große Liebe.“ Wir tranken Kaffee, und Andrea sprach den älteren Herrn am Nebentisch an. Als er ging, verbeugte er sich in ihre Richtung. Sie lächelte zufrieden. Über den leiblichen Vater konnte mir Andrea so gut wie nichts sagen. Erst meinte sie, er heiße Jack, dann nannte sie ihn Jeff. Er sei Gitarrist gewesen in einer Rockband, deren Namen sie vergessen hatte. Im Internet stieß ich auf das Bild eines Jeff Mayer: ein Gitarrist aus Kalifornien. Das Alter stimmte, die Beschreibung auch. Als ich sie danach frage, war sie sich nicht sicher.

Wieder vergingen Monate, dann meldete sich Andrea, weil sie in München ihren Agenten treffen und mir meine Brüder vorstellen wollte. Christoph* sei bei ihr aufgewachsen, in Amerika, Australien, Europa, er arbeite als Kellner, „aber eigentlich ist er Künstler“, sie musste Geld nachwerfen, sie rief aus Irland an. Sie versuchte, Basil* zu beschreiben. Er sei „attraktiv, sehr groß“. Manchmal sei er ihr fremd.

Ich konnte nicht aufhören, an Basil zu denken

Ich saß im Biergarten und wartete auf meinen Bruder. Ich schaute jeden jungen Mann an. Dann kam einer mit Jeans, Turnschuhen, schwarzen Haaren an meinen Tisch. Basil. Er hatte olivgrüne Augen, eine gerade Nase, helle Haut, schmale Lippen, ich wusste gleich, dass ich später versuchen würde, mir sein Gesicht vorzustellen und dass es mir nicht gelingen würde, gerade weil ich es wollte. Andrea kam mit Christoph, blond wie ich, sechs Jahre jünger. Während wir auf das Essen warteten, kritzelte er auf dem Papierset herum: einen Mann mit Hasenzähnen, über dem Kopf ein Ufo. Andrea erzählte von sich als Kind: wie sie zwischen Sonnenblumen stand, die größer waren als sie selbst, wie sie plötzlich ahnte, dass der kranke Großvater stürbe, und er tot war, als sie heimkam. Und später der Engel zu ihr sagte, alles sei gut, die Abtreibungen, die Kinder, die sie nicht behalten konnte, und wie sie das beruhigte.

Als Andrea und Christoph das Lokal verließen, sagte ich: „Er hätte ihr mal Verhütungsmittel empfehlen können, der Engel.“ Wir mussten lachen, „besser so“, sagte Basil, „sonst wären wir nicht hier“. Ich fuhr am selben Abend nach Hause, fünf Stunden lang, und keine Minute konnte ich aufhören, an Basil zu denken. Die Vorstellung, dass ich ihn vielleicht nicht wiedersehen würde, machte mich beinahe panisch. Die Zuneigung zu ihm traf mich völlig unerwaret. So entspannt die Begegnung mit Andrea verlaufen war, so harmlos erschien mir ein Treffen mit meinen Brüdern. Doch schon wenige Minuten nach unserem Kennenlernen hatte ich Lust, mit Basil wegzufahren, irgendwohin, für unbestimmte Zeit. Ich wollte mit ihm allein sein. Es war absurd.

„Wie kommst du dazu, dich mit uns zu brüsten?“

In der folgenden Woche kam ich einmal spät in der Nacht nach Hause und schaltete den Fernseher an. In einem Regionalprogramm lief ein Interview: Andrea erzählte von ihrem Leben, eloquent, charmant, ohne Angst vor der Kamera. Vom Moderator gefragt, sprach sie über ihre Kinder: Künstler, Mathematiker, Pilotin seien sie. „Und das vierte Kind?“, fragte der Moderator. Sie lächelte, warf sich den Samtschal über die Schulter, stützte ihr Kinn in die Hand. „Meine zweitälteste Tochter ist Dozentin für Germanistik an einer Schweizer Universität.“ Ich schrieb ihr: „Wie kommst du dazu, dich mit uns zu brüsten?“ Sie schrieb: „Ich bin mir keines Fehlers bewusst.“

All dies liegt Jahre zurück. Nach wie vor habe ich sporadisch Kontakt zu Andrea, manchmal ruft sie an, sie erzählt von einem Traum, in dem ich vorkam, oder von dem Mann, den sie gerade liebt: einen tibetischen Mönch, einen australischen Farmer, einen Schotten. Dem Südamerikaner, von dem sie ahnt, dass er kommen wird, ist sie noch nicht begegnet. Andrea ist mir fremd und wird es bleiben. Es gab Situationen, in denen ich sie nicht mochte. Und doch ist sie liebenswürdig, auf ihre Art. Hätte ich eine Erwartung gehabt, eine Vorstellung, wie sie sein würde - ich wäre wohl erfreut und enttäuscht gewesen.

Kleine Grausamkeiten und Glücksmomente

Heute weiß ich, dass sie bereits vor langer Zeit versuchte, Kontakt zu mir aufzunehmen, und dass meine Eltern das ablehnten. Man muss kein Psychologe sein, um zu ahnen, dass es mich verwirrt hätte, Andrea zu früh zu begegnen. Es gibt Experten, die anders darüber denken: Sie befürworten die offene Adoption, in der zwischen Kind, leiblichen und sozialen Eltern Kontakt besteht. Ich glaube nicht an dieses Konzept. Die Normalität, in der ich meine Kindheit verbrachte, empfinde ich als Kokon, in dem ich seelische Stabilität aufbauen, eine eigene Identität entwickeln konnte. Als ich Andrea dann traf, war ich selbstsicher genug, zu wissen: Was sie auch tut - es betrifft sie, nicht mich.

Jede Kindheit ist mit ganz eigenen, kleinen Grausamkeiten und Glücksmomenten bestückt. Es gibt Erfahrungen, die ich lieber nicht gemacht hätte: manche Demütigung in der Schule, mancher Streit, manche Gefühlsverwirrung. Was mich jedoch nie belastete, war der Umstand, adoptiert zu sein. Dass mich Andrea weggab, habe ich nie gegen sie oder mich bezogen, sondern immer den Umständen zugeschrieben. Wie diese Umstände auch ausgesehen haben - indem Andrea früh diese Entscheidung traf, hat sie mir eine Odyssee durch Heime und Pflegefamilien erspart. Und auch meine Eltern trafen eine Entscheidung: ein Kind, dessen genetische Disposition sie nicht kannten, bedingungslos als ihres anzunehmen.

Auf dem Fahrrad ging's nach Hause

Aus dieser Unvorhersehbarkeit sind mir auch Freiheiten erwachsen. „Wir mussten abwarten, in welche Richtung du dich entwickeln würdest“, sagt mein Vater, als ich ihn nach Erwartungen frage. „Wir konnten nicht vorhersagen, welche Talente du haben würdest; konnten nichts voraussetzen“, erklärt meine Mutter. Manchmal sei das schwierig gewesen: „Wir mussten einfach an dich glauben. Und an uns.“

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an eine Trennung. Es war mein erster Tag im Kindergarten, ein Junge zerrte mich in eine Holzhütte, ich schrie und weinte vor Angst, meine Eltern nie wieder zu sehen. Ich erinnere mich, wie erleichtert ich war, als mich meine Mutter mittags abholte. Auf ihrem Fahrrad fuhren wir nach Hause. Ich saß im Kindersitz, der am Lenker befestigt war, den Fahrtwind auf der Stirn, ihre Arme rechts und links meines Körpers, wie die Flügel einer Glucke. Das ist es, was zählt.



Text: F.A.Z., 01.12.2007, Nr. 280 / Seite Z1
Bildmaterial: F.A.Z. - Helmut Fricke

Zum Streit über Adoptionen

Über Wohl und Wehe von Adoptionen streiten die Fachleute. Nachdem es in den achtziger Jahren hieß „Adoption statt Abtreibung“, gibt es heute Zweifel an der sozialen Elternschaft: Bindungsforscher warnen, dass Adoptierte sich entwurzelt fühlten, weil ihre Grunderfahrung Verlust sei. Schon Säuglinge würden Lebensrhythmus und Geräusche im

Mutterleib verinnerlichen, weshalb sie die Trennung als Trauma erlebten. Vielerorts wird deshalb mittlerweile die offene Adoption befürwortet, bei der zwischen Kind, leiblichen und sozialen Eltern Kontakt besteht. Die 1971 in Köln geborene und wenige Wochen später adoptierte Schriftstellerin Annette Mingels glaubt nicht an dieses Konzept.

Ihre Adoptiveltern hatten während ihrer Kindheit den Kontakt zur biologischen Mutter untersagt. Die Normalität, die sie damals erlebte, so Mingels, empfinde sie rückblickend „als Kokon, in dem ich seelische Stabilität aufbauen, eine eigene Identität entwickeln konnte“. Erst als Erwachsene habe sie sich sicher genug gefühlt für eine Begegnung mit ihrer leiblichen Mutter.

http://www.faz.net/s/Rub4521147CD87A4D9390DA8578416FA2EC/Doc~EE66E76B029DD4E97A005EEC470CDBE03~ATpl~Ecommon~Scontent.html
nach oben
Sortierung ndern:  
Anfang   zurück   weiter   Ende
Seite 1 von 1
Gehe zu:   
Search

powered by carookee.com - eigenes profi-forum kostenlos

Design © trevorj