Frankfurter Rundschau
15. Oktober 2004
"Klein und kräftig" - aber fast verhungert ;
Weil das Jugendamt misshandelten Pflegekindern nicht beistand, stellt der Bundesgerichtshof die Schuldfrage
HIGHLIGHT: In einem drastischen Fall der Misshandlung eines Pflegekindes steht das Jugendamt vor Gericht: Der Rems-Murr-Kreis soll dem heute 15-jährigen Andreas H. 25 000 Euro Schmerzensgeld bezahlen. Die Behörde bestreitet eine Verletzung ihrer Amtspflicht.
VON URSULA KNAPP
Karlsruhe · 14. Oktober · Wenn der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe nächste Woche das Urteil verkündet, geht es um eine Weichenstellung: Wie genau muss ein Jugendamt die Entwicklung eines Pflegekindes beobachten? Die Frage stand im Zentrum der Verhandlung am Donnerstag. Für den Anwalt des misshandelten Pflegekindes steht fest, dass die Jugendämter zu lang wegsahen. Der Anwalt der Behörde warnte dagegen vor überwachungsähnlicher Kontrolle, die potenzielle Pflegeeltern abschrecke und die Entwicklung von Kindern störe.
Die jahrelange Misshandlung und Aushungerung von Andreas H. wurde den Behörden erst bekannt, als eines der drei Pflegekinder der Familie im November 1997 starb. Während die drei leiblichen Kinder normal entwickelt waren, zeigten alle drei Pflegekinder durch Nahrungsentzug Wachstumsstörungen und lebensgefährliche Abmagerung. Auch körperliche Misshandlungen waren üblich. Der damals achtjährige Andreas H. wog bei seiner Befreiung 11,8 Kilo und war nur 1,04 Meter groß. Er hatte das Gewicht eines eineinhalbjährigen Kindes.
Pflegeeltern sitzen im Gefängnis
Die Pflegeeltern wurden zwei Jahre später wegen Mordes zu jeweils lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. In dem jetzigen Verfahren geht es um die Haftung des Jugendamtes, weil es möglicherweise seine Überprüfungspflichten verletzte.
Andreas H. war 1990 als erstes Pflegekind in die Familie im bayerischen Hof gekommen. Zwei Jahre später zog die Familie in die Nähe von Stuttgart. Dort nahmen der Student und die Kinderpflegerin zwei weitere Pflegekinder an, darunter Alexander, der 1997 starb. Das Jugendamt im Rems-Murr-Kreis fühlte sich zunächst nur für die beiden neuen Pflegekinder zuständig. Als es nach Jahren des Kompetenzgerangels im Juni 1997 die Zuständigkeit für Andreas übernahm, gab es weiter keinen persönlichen Kontakt. Im letzten Bericht des Jugendamtes Hof im April 1997 hieß es, Andreas sei "klein und kräftig", er entwickle sich gut. Laut Pflegemutter lagen die Entwicklungsstörungen des Kindes an genetischen Ursachen und einer Lebensmittelallergie. Auch in der Schule wurde weggeschaut. Obwohl auffiel, dass das Kind Papierkörbe nach Essen durchstöberte, wurde nicht weiter nachgeforscht. Als das Kind Nachfragen nicht beantwortete, ließ man es dabei bewenden.
Der Rems-Murr-Kreis bestreitet eine Haftung; während des Streits um die Zuständigkeit sei das alte Jugendamt in Hof verantwortlich geblieben. Zudem seien bei Umzügen persönliche Antrittsbesuche nicht üblich. Schließlich habe das Jugendamt Hof einen positiven Bericht abgegeben. Rechtsanwalt Wendt Nasall betonte, auch Pflegeeltern gelte verfassungsrechtlicher Schutz. Der Gesetzgeber habe die frühere polizeirechtliche Aufsicht für Pflegekinder abgeschafft. Selbst im Falle eines Besuchs, so Nasall, wäre dem Jugendamt die Misshandlung verborgen geblieben. Auch der Schularzt habe bei der Einschulung den systematischen Nahrungsentzug nicht bemerkt.
"Alarmglocken müssen schrillen"
BGH-Anwalt Reiner Hall widersprach: Das Jugendamt habe sehen müssen, dass alle drei Pflegekinder die selben Störungen zeigten - "da müssen doch die Alarmglocken schrillen". Der Bericht des Jugendamts Hof zeige, dass auch diese Mitarbeiterin den Jungen nicht selbst gesehen haben könne. Er sei bereits zu schwach gewesen, um vom Hochbett zu klettern, als sie ihn als "klein und kräftig" beschrieb. Fünf Bundesrichter sollen nun die Grenze zwischen staatlicher Sorgfalt und Überwachung und ziehen.