DIE ZEIT
Ein Fall von Behördenroutine
Wie konnte mitten in Hamburg ein Mädchen verhungern?
Von Martin Klingst
Ein schreckliches Verbrechen: Eltern ließen ihre siebenjährige Tochter verhungern. Kein Außenstehender
bemerkte etwas, weder die Bekannten der Eltern noch ihre Verwandten, noch die Nachbarn in dem
siebenstöckigen Hochhaus, noch die Hamburger Schulbehörde, die sich von Gesetzes wegen eingeschaltet
hatte, nachdem das Mädchen nicht zum Einschulungstermin erschienen war. Die Eltern hielten Jessica in der
Wohnung gefangen und bauten um ihre Familie eine undurchdringliche Mauer.
Mit dem Tod des Mädchens tauchen die immer gleichen Fragen auf: Hätte sein Sterben verhindert werden
können? Wer hat versagt? Und mit diesen Fragen setzt sofort das öffentliche Ritual eilfertiger Deutungen und
gegenseitiger Schuldzuweisungen ein: Neben den Eltern ist die Gesellschaft schuld, das allgemeine Elend, der
Staat.
Doch Jessica war kein Opfer wachsender Armut und fehlender staatlicher Hilfe. Zwar lebten die Eltern von
Sozialhilfe und wohnten in einem von Arbeitslosigkeit und Gewalt besonders gebeutelten Stadtteil. »Hier in
Hamburg-Jenfeld«, sagte der Pastor am vergangenen Sonntag in einem evangelischen Gedenkgottesdienst,
»gehen die Menschen besonders oft zu Boden.« Doch die staatliche Stütze hätte gereicht, um Jessica
auskömmlich zu ernähren; der Vater verdiente als Maler nebenbei sogar schwarz dazu. Zudem sind der Staat,
die Kirche und private Organisationen in Jenfeld besonders aktiv. Jessicas Eltern mangelte es nicht an Geld
und nicht an Möglichkeiten, Hilfe zu erhalten. Ihnen fehlte jede Empathie, jedes Elterngefühl, jede
menschliche Wärme. Aus welchem Grund auch immer sie waren zu ihrem Kind kalt wie Eis.
Die Behörden haben auch nicht tatenlos zugeschaut. Sie hatten vielleicht einen Tunnelblick, zu routinemäßig
nach Schema F gearbeitet und nicht für möglich gehalten, was sich da zusammenbraute aber die Hände in
den Schoß gelegt haben sie nicht.
Als Jessicas Eltern im Januar 2004 nicht zur Schulanmeldung erschienen, reagierte der Schulleiter sofort.
Dreimal hat er ihnen geschrieben, neue Termine vereinbart und sogar einen Schüler gebeten, bei der Familie
vorbeizuschauen. Da niemand in der Nachbarschaft von dem Mädchen wusste, informierte der Direktor die
Schulbehörde. Auch sie wurde tätig und setzte ihre eigens für Schulschwänzer vorgesehene Hilfstruppe Rebus
in Bewegung. Dreimal klingelte ein Mitarbeiter vergeblich an Jessicas Wohnungstür und leitete schließlich
ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern ein: Sie hatten ihre gesetzliche Pflicht verletzt, Jessica einzuschulen.
Dann geschah fast ein Jahr lang nichts.
In der Nacht zum 1.März starb Jessica, sie wog nur neuneinhalb Kilo, so wenig wie ein zweijähriges Kind. Im
Magen fanden die Ärzte Teppichfasern und Haare, die das Mädchen in seiner Verzweiflung gegessen hatte.
Warum hatte niemand früher Verdacht geschöpft? Warum arbeitete jede Behörde stur wie nach einer
Checkliste? Warum hat der Schulleiter nicht selbst die Familie aufgesucht, zumal sie nur einen Sprung von
der Schule entfernt wohnte? Warum hat der Rebus-Mitarbeiter nicht zum Telefonhörer gegriffen und beim
Einwohnermeldeamt nachgefragt, ob Jessica offiziell noch bei ihren Eltern wohne? Warum hat er nicht das
Jugendamt benachrichtigt, denn schließlich gefährdet Schuleschwänzen das Kindeswohl? Unterblieb das
Naheliegende nur, weil es in den Regelbüchern der Ämter nicht vorgesehen ist?
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Fassungslos wie ratlos antworten alle, Schuleschwänzen sei ein Routineproblem; niemand hätte es je für
möglich gehalten, dass der Grund für das Fehlen der Schülerin Jessica im Unterricht ein grausames
Verbrechen war. Reflexartig wird jede Kritik abgewehrt: Wir haben uns nichts vorzuwerfen! Und im gleichen
Atemzug auch das gehört zu den deutschen Ritualen stimmen die Behörden ihr ewiges Lamento an: Zu
wenig Geld, zu wenig Personal.
Es stimmt ja, das Geld für Sozialarbeit wird derzeit überall gekürzt, während die Aufgaben ständig wachsen.
Manche Sozialpädagogen müssen Dutzende von schwierigen Fällen bearbeiten und sind froh, wenn sie neue
Akten schnell, und ohne groß nachzudenken, wieder schließen können. Zudem wandeln Sozialarbeiter stets
auf einem schmalen Grat: Greifen sie aus Sorge um das Kindeswohl in das Erziehungsrecht der Eltern ein,
kann es passieren, dass Medien den »Überwachungs- und Fürsorgestaat« anprangern. Halten sich die
Behörden hingegen zurück und läuft etwas schief, hagelt es ebenso Kritik.
Aber dieses Dilemma ist keine Rechtfertigung für Gedankenlosigkeit. Als Robert Steinhäuser vor Jahren in
Erfurt Lehrer und Mitschüler erschoss, behauptete die Schule, sie habe die Eltern eines volljährigen Schülers
nicht von dessen Auffälligkeiten unterrichten dürfen. Als eine minderjährige Kindergang im ostfriesischen
Wittmoor monatelang Mitschüler drangsalierte und die Eltern aus Verzweiflung vors Rathaus zogen, erklärten
sich Behörden und Gerichte mit Blick auf die Rechtslage für nicht zuständig und schoben den schwarzen
Peter hin und her.
Es scheint, dass Paragrafen und Richtlinien das Mitdenken verhindern und jede Spontaneität und jede Fantasie
zerstören. Die Konsequenz? Hamburg beschließt nach dem Fall Jessica ein neues Gesetz: Aus der
allgemeinen Schulpflicht wird künftig Schulzwang mit der Folge, dass sich die Schulbehörde gemeinsam
mit dem Jugendamt, der Polizei oder der Feuerwehr notfalls gewaltsam Zutritt zu Wohnungen verschaffen
kann. Schuleschwänzen, lautet die plötzliche Einsicht, gefährdet das Kindeswohl. Aber braucht es für diese
späte Erkenntnis partout eine neue Vorschrift?
(c) DIE ZEIT 10.03.2005 Nr.11
11/2005
Die Zeit - Politik : Ein Fall von Behördenroutine
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