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Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen
Staatsterror durch staatliche Eingriffe in das Familienleben
Verletzung von Menschenrechten, Kinderrechten, Bürgerrechten durch Entscheiden und Handeln staatlicher Behörden im familienrechtlichen Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Familienhilfe unter anderem mit den Spezialgebieten Jugendamtsversagen und Jugendamtsterror
Fokus auf die innerdeutsche Situation, sowie auf Erfahrungen und Beobachtungen in Fällen internationaler Kindesentführung und grenzüberschreitender Sorgerechts- und Umgangsrechtskonflikten
Fokus auf andere Länder, andere Sitten, andere Situtationen
Fokus auf internationale Vergleiche bei Kompetenzen und Funktionalitäten von juristischen, sozialen und administrativen Behörden

"Spurensuche nach Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen"
ist ein in assoziiertes Projekt zur
angewandten Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung
"Systemkritik: Deutsche Justizverbrechen"
http://www.systemkritik.de/

 
Julia Francks Mittagsfrau: Das kalte Herz

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Gast
New PostErstellt: 10.10.07, 00:13  Betreff: Julia Francks Mittagsfrau: Das kalte Herz  drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

Julia Francks „Mittagsfrau“

Das kalte Herz

Von Edo Reents


Borgte das Schicksal ihrer Romanfigur bei ihrem Vater: Julia Franck
09. Oktober 2007
Wenn wir über Familie sprechen, dann geht es meistens um zwei Fragen: Wo kann man tagsüber sein Kind abgeben? Und was ist, wenn sich die Eltern nicht mehr verstehen? Jetzt kommt eine Siebenunddreißigjährige aus Berlin daher und zeigt uns, was passiert, wenn mit den Banden zwischen Eltern und leiblichen Kindern, die wir für viel elementarer halten als die etabliertesten Patchwork-Strukturen, etwas nicht stimmt. Zwar wissen wir schon aus der Bibel, dass Kinder ausgesetzt werden, und aus den Kindsmördergeschichten des achtzehnten Jahrhunderts kennen wir noch Schlimmeres – aber wie es ist, wenn eine Mutter ihr Kind nun einmal nicht liebt, das wird in der Literatur selten verhandelt; das ist eher Stoff für die vermischten Meldungen in der Zeitung.

Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“ bringt die Begriffe, die wir uns unter dem Beschuss durch wohlmeinende politische Verlautbarungsprosa von „Familie“ mittlerweile gebildet haben, so gehörig durcheinander, dass wir am Ende nicht mehr wissen, was das überhaupt ist und ob es das noch gibt. Worum es hier geht, ist von dem kleinsten gemeinsamen politischen Nenner, auf den man sich unter dem Regiment einer Familienministerin vielleicht einigen könnte, genauso weit entfernt wie von den Ideen einer Eva Herman. Julia Francks Buch ist keine Lach- und Sachgeschichte zum Dauerthema der vergangenen Jahre; es zeigt vielmehr, dass Literatur etwas verhandeln kann, worauf sich die nichtbelletristische Befassung nur ungern einlässt: uns den Blick schärfen für Abgründe, für die weder das Fortschrittliche noch das Rückständige eine Kategorie ist und die von Erwägungen sozialer Wünschbarkeit nicht erreicht werden.

Wir halten solche Fälle auf Abstand

Man könnte das Buch deshalb auch als Anti-Familien-Roman bezeichnen, wenn man durch das lächerliche „Anti-“ nicht gleich jene Einstellung verriete, die auch beim „Antikriegsfilm“ immer gleich betonen will, man sei „dagegen“: dass Krieg geführt wird, wie man natürlich auch dagegen ist, dass Familien zerbrechen. Aber es passiert ja trotzdem. Noch weniger wird man es gutheißen, wenn eine Mutter ihren kleinen Sohn aussetzt wie einst Moses im Schilf. Auf dergleichen Monstrositäten stoßen wir zwar regelmäßig in Schreckensmeldungen, aber wir halten solche Fälle auf Abstand, indem wir die Protagonisten einfach für unzurechnungsfähig erklären.

Damit kommen wir hier nicht weit. Helene Würsich, die Heldin, schlägt sich mit enormer Leidensfähigkeit durch vier Jahrzehnte, aber unzurechnungsfähig ist sie nicht; sie hat nur ein kaltes beziehungsweise ein nach verschiedenen seelischen Verletzungen erkaltetes Herz. Der Roman, dessen Titel auf eine Sagengestalt in der Lausitz anspielt, hält solche Zumutungen bereit, dass von Rechts wegen das Jugendamt zum Einschreiten gezwungen wäre – wenn es Zugriff auf literarische Phantasien hätte. Er handelt, im Wesentlichen, davon, wie zwei Töchter ihre Mutter im Stich lassen und wie eine dieser Töchter dann später ihren eigenen Sohn im Stich lässt. Wenn der Fischer Verlag das Buch als „Familienroman“ bezeichnet, dann wird man bei der Formulierung des Klappentextes kaum die Definition im Ohr gehabt haben, welche die Christlich-Demokratische Union ausgegeben hat: „Familie ist dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung übernehmen.“

Was bedeutet „Verantwortung“?

Was ist nämlich, wenn diese Verantwortung gar nicht übernommen wird – gibt es dann auch keine Familie? Und was bedeutet überhaupt „Verantwortung“? In diesem Roman bedeutet sie, unter anderem, dass ein junges Mädchen dem Vater, der schwer verwundet aus dem Ersten Weltkrieg heimkommt, eine gute Wundärztin ist und den fauligen Stumpf, der vom abgeschossenen Bein noch übrig ist und in dem sich die Maden schon eingenistet haben, säubert, während der Gestank kaum auszuhalten ist.

Am Anfang der Erzählung, während der letzten Kriegswochen, schlägt Helene sich mit dem sechsjährigen Peter zu einem Bahnhof irgendwo in Nordostdeutschland durch. Der Bahnsteig ist voller Menschen, die auf der Flucht vor der Roten Armee sind. Peter sagt: „Ich hab’ Hunger.“ Und Helene sagt: „Ich bin gleich zurück, wart hier.“ Peter sagt: „Ich komm’ mit.“ Aber Helene will nicht: „Lass mich los, Peter.“ Sie drückt ihn auf die Bank zurück, geht weg und kommt nicht wieder.

Er wollte sie nicht mehr sehen

Was ist das? Einfach bloß Grausamkeit? Oder ist die Mutter verflucht wie Adrian Leverkühn und darf nicht lieben? Dann hätte sie ja richtig gehandelt, indem sie ihren Sohn ihrem Einfluss entzieht; der kleine Peter soll schließlich nicht enden wie Nepomuk Schneidewein. Aber diese Geschichte kommt ohne Hexerei aus. Am Ende, an einem Novembertag 1956 will Helene ihren Sohn, der auf dem Bauernhof von Onkel und Tante bei Rostock untergekommen ist, wo er in jeder Hinsicht und fast wie ein Hund an der kurzen Leine gehalten wird, wiedersehen; aber jetzt will Peter nicht mehr: „Er wollte sie sein Leben lang nicht mehr sehen.“

Ein fast eiserner Wille, nur ja keine Sentimentalität aufkommen zu lassen, der schon Julia Francks 2003 erschienenen Roman „Lagerfeuer“ zu einem Vergnügen machte, erlaubt es, dass man diesen Roman neben die Beispiele großer realistischer, unerbittlicher Prosa stellt. Man wird einschränken müssen, dass die vierhundert Seiten, die zwischen den beiden Ereignissen liegen, über eine geringere stilistische Sicherheit und Selbstverständlichkeit verfügen. Doch die klassische erzählerische Klammer aus Prolog und Epilog umfängt das, was den autobiographischen Kern dieses außergewöhnlichen Romans ausmacht: Das Schicksal des kleinen Peter hat Julia Franck bei ihrem eigenen Vater geborgt. Das und ihre schriftstellerische Einfühlung verschaffen dem Buch eine ganz und gar eigenständige Überzeugungskraft. Es führt uns in jene unheimlichen menschlichen Tiefenschichten, über die eine politisch-gesellschaftliche, also wertende Aussage nicht getroffen werden kann.

Innerlich längst verödet

Die Geschichte fängt so an: Ernst Ludwig, ein Druckereifabrikant in Bautzen kurz vor dem Ersten Weltkrieg, führt mit seiner Frau Selma und den Töchtern Martha und Helene ein Leben, dem es äußerlich an nichts mangelt, das innerlich aber längst verödet ist. Die jüdische Mutter gibt sich einem Außenseitertum von seidener Affektiertheit hin, wortlos, ichbezogen, verwöhnt, verhärmt; eine schauerromantische Dachkammerexistenz, auf deren Grund die Trauer um die bei der Geburt verstorbenen Söhne lagert, die sie so gerne gehabt hätte. Kein Wunder, dass es ihr die Töchter nicht recht machen können. Helene, der dies noch weniger gelingt als ihrer älteren Schwester, wird später ihren eigenen Sohn dafür büßen lassen.

Es gibt solche Fälle, in denen ein Muttertier ihr Junges verstößt, weil sie es buchstäblich nicht riechen kann und ihr jede Berührung unerträglich ist. Wahrscheinlich gibt es das auch unter Menschen. Julia Franck, die bekannt ist für ihren wirkungsvollen schriftstellerischen Umgang mit Gerüchen und Körperkontakten, legt diesen Schluss nahe und lässt Helenes Abwehrreflexe fast schon zu einer Form von Kindesmisshandlung werden: „Lass mich los, Peter!“ Dies muss auf eine lesende Öffentlichkeit, die sich über frühkindliche Erziehung vermutlich mehr Gedanken macht als irgendeine vor ihr, wie eine Provokation wirken.

Partys, Drogen und Kultur

Die Mittagsfrau schreitet auf dem Weg zur inneren Verhärtung und Verhärmung jedenfalls voran, durch die Jahrzehnte hindurch. Nach dem Tod des Vaters zieht Helene mit ihrer Schwester nach Berlin zu Tante Fanny, der Schwester der Mutter, die selbst in Bautzen zurückbleibt und den Nationalsozialismus am Ende nicht überlebt. Die Roaring Twenties halten auch für diese Lausitzer Mädchen nicht nur den Beruf als Krankenschwester, sondern auch die ganze Palette aus Partys, Drogen, zweifelhaften Bekanntschaften und natürlich deutlich mehr Kultur bereit, der sich indes nur Martha richtig hingibt, die hier ihrer Bautzener Freundin Leontine in jeder Hinsicht verfällt. Helene stellt sich linkischer an und schlüpft wie selbstverständlich in die Rolle der missachteten Nichte.

Vermutlich ist über Berlin schon zu viel gesagt und zusammenphantasiert worden; die Passagen, die hier spielen, gehören jedenfalls nicht zu den stärksten. Die Weltstadtatmosphäre wirkt in ihrer Schwülheit vorhersehbar und doch seltsam konstruiert; das gesellschaftliche Getriebe vermittelt eine Aufbruchsstimmung, von der freilich niemand zu sagen weiß, wohin sie führen soll. Helene tendiert Richtung Geist, der ihr in Gestalt des (jüdischen) Philosophiestudenten Carl Wertheimer begegnet; und wenn man die doch recht hölzernen Gespräche der Liebenden eine Weile mit angehört hat, dann muss man es aus Gründen des literarischen Geschmacks begrüßen, dass sie so abrupt abbrechen: Kurz nach der Verlobung verunglückt Wertheimer tödlich. Von nun an ist Helene innerlich versteinert. Und damit geht die Geschichte noch einmal so richtig los.

Sehr heutige Konstellation

Noch in Berlin lernt Helene Wilhelm kennen. Die beiden heiraten und bekommen 1939 ein Kind: Peter. Es ist eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten, aber diese Konstellation kommt einem sehr heutig vor: „Wilhelm und Helene sahen zum Kinderwagen. Wir finden eine Betreuung, sagte Wilhelm mit seinem strotzenden Lächeln. Die Personaldienstleitende nickte und schloss ihre Tür.“

Was sich wie ein Versatzstück aus einem Problemfilm unserer Gegenwart liest, ist in Wirklichkeit das nebensächliche Detail einer Ehe, in der ganz andere Kräfte wirksam sind als das Bedürfnis nach weiblicher Selbstverwirklichung. Helene und Wilhelm finden eine Betreuung, aber damit wird noch lange nicht alles gut. Genaugenommen wird hier gar nichts mehr gut, von Anfang an ist der Wurm drin, wie die Made in der Wunde von Vater Würsich. Wilhelm ist nämlich kein Softie, der hinterm Kinderwagen herläuft und sich pausenlos Gedanken über seine Frau macht; er ist als Ingenieur eine tragende Säule beim Reichsautobahnbau kurz vor den Olympischen Spielen und gegenüber Helene nicht zimperlich.

Bemerkenswerte Differenzierungskunst

Die nüchterne Härte, in der diese Ehe geschildert wird, gehört zu den Glanzstücken des Romans, der sich auch sonst jede Parteinahme in souveräner erzählerischer Distanz verkneift. Und es ist einer bemerkenswerten Differenzierungskunst geschuldet, dass Wilhelm, dieser im Ganzen doch recht überzeugte Nationalsozialist, den Begriff der Blutschande völlig überraschend und doch glaubwürdig versteht: Nicht weil seine Frau Halbjüdin ist, verstößt er sie – im Gegenteil, er hat ihr sogar noch falsche Papiere besorgt –, sondern, weil sich in der Hochzeitsnacht herausstellt, dass er nicht ihr erster Liebhaber ist.

Man könnte nun sagen: jüdische Identität, starke Frau, Berlin, Nachkriegsdeutschland – das ist etwas zu viel des Guten, so was wollen wir jetzt nicht mehr lesen. Aber der Stoff ist hier Nebensache. Julia Franck geht es, vermutlich, darum zu zeigen, wie banal auch das Ungeheuerliche ist: Gleichgültigkeit, physische Aversionen – daraus sind Familienschicksale im Grunde gemacht. Ideologien wirken da nur von ferne herein. Nicht zufällig wird hier das Kriegsgeschehen weitgehend ausgeblendet. Das Wesentliche, sagt ein Sprichwort, kann man nicht sehen, es ist unsichtbar und nur dem Herzen zugänglich. Bei Julia Franck kann man es mit Händen förmlich greifen, mit der Nase riechen. Aber es entzieht sich, anders als die wohlmeinendste Familienpolitik, jeder Diskussion.

Ein großer Roman über das Schweigen

„Die Mittagsfrau“ ist, trotz der stilistischen Mängel in der ersten Hälfte, ein großer Roman über das Schweigen, dessen zentraler Satz lautet: „Helene konnte gut schweigen, er würde schon sehen.“ Wilhelm muss die Zähigkeit seiner Frau schließlich auch anerkennen. Helene hatte aus der kurzen Glücksphase mit dem Philosophiestudenten Hofmannsthals Erkenntnis von der Hinfälligkeit der Wörter, die wie modrige Pilze im Mund zerfallen, herübergerettet in ihr weiteres karges Leben. Kurz vor dem Ende, in einer ungeheuerlichen Szene, sammelt sie mit Peter im Wald Pilze und will ihn hier eigentlich schon abschütteln.

In einer verzweifelten Übersprunghandlung beglaubigt sie dann aber sehr konkret die Sprachkritik des „Chandos“-Briefs: „Helene griff nach einem Pilz, brach ihn und steckte ihn ganz in den Mund, das mürbe, feste Fleisch zerfiel fast auf der Zunge, was für ein Genuss.“ Kurz zuvor haben Mutter und Sohn einen Viehwaggon auf dem Gleis stehen sehen: „Ein sinnesbetäubender Gestank wehte ihnen entgegen. Nach Aas stank es, nach Urin und Exkrementen.“ Es sind Menschen darin, über die Peter in kindlich-grausamer Ahnungslosigkeit ein Juden-Hetzlied gesungen hatte. Das Märchen vom kalten Herzen, das Helene ihm einst vorgelesen hat, ist damit noch lange nicht zu Ende. Wir wüssten gerne, was aus Peter wird.

Julia Franck: „Die Mittagsfrau“. Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2007. 430 S., geb., 19,90 €.


Buchtitel: Die Mittagsfrau
Buchautor: Franck, Julia
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: F.A.Z.-Helmut Fricke
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