Der ideologisch motivierte Entzug des elterlichen Sorgerechts in der Zeit des Nationalsozialismus
Miriam Liebler-Fechner
Reihe: Juristische Schriftenreihe
Bd. 159, 2001, 312 S., ISBN 3-8258-5366-7
V. AG Zehden/Oder, Beschluß vom 16. September 1935 und LG Landsberg, Beschluß vom 14. Oktober 1935 [FN 772]: Arische Mutter
ist mit Juden verheiratet und nimmt Kind aus Pflegestelle heraus
a) Die Gerichte hatten über folgenden Sachverhalt zu entscheiden: Die arische Mutter des unehelichen arischen Kindes heiratete 1930 einen russischen Juden, der 1933 mit der Kindesmutter nach Belgien auswanderte. Das minderjährige Kind, das zunächst in einer Pflegestelle bei den Eltern der Kindesmutter lebte, wurde von der Mutter 1934 ohne Zustimmung des Vormundes und des Vormundschaftsgerichtes nach Belgien geholt.
Das Amtsgericht entzog der Mutter das Personensorgerecht gem. § 1666 I BGB. Es war der Ansicht, die Mutter mißbrauche ihr Personensorgerecht gem. § 1707 BGB, das die Pflicht einschließe, den Belangen des deutschen Volkes zu entsprechen. Das Erziehungsrecht „sei eine im Auftrage des Volkes und unter Aufsicht des Staates übernommene Pflicht der Eltern, das heranwachsende Kind im Sinne der für richtig erkannten Weltanschauung zu einem vollwertigen Gliede der Volksgemeinschaft zu erziehen". Es bestünde die Gefahr, daß die Mutter der Aufgabe einer nationalsozialistischen Erziehung nicht nachkäme, die dem Kind arischer Abstammung und deutscher Volkszugehörigkeit zustehe. Ihre Heirat mit einem Nichtarier sei zur Zeit der Entscheidung nach allgemeiner Auffassung ein Verrat am deutschen Volkstum. Hierbei könne ihr nur zugute gehalten werden, daß zur Zeit, als sie diese Verbindung einging, diese Anschauungen keineswegs allgemein anerkannt waren.
Indem sie das Kind nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nach Belgien holte, habe sie es bewußt den Einwirkungen der Volksgemeinschaft entzogen. Da das Kind in einem jedem Erziehungseinfluß zugänglichen Alter stehe, sei die Gefahr für das Kindeswohl sehr groß, daß der Aufenthalt in der Familie des Volks- und artfremden Stiefvaters auf die Lösung aller Bande zum deutschen Volk hinauslaufe.
Zur Abwendung der Gefahr hielt das Amtsgericht den Entzug des Sorgerechts für erforderlich.
Den Ausführungen des Amtsgerichts ist das Landgericht [FN 773], nachdem Beschwerde eingelegt worden war, in vollem Umfang beigetreten.
b) In diesem Beschluß argumentierte erstmalig die Rechtsprechung mit dem von der Rechtslehre entwickelten Konstrukt der treuhänderischen Erziehungsfunktion der Eltern:
"Das Erziehungsrecht ist eine im Auftrage des Volkes und unter Auf sieht des Staates übernommene Pflicht der Eltern, das heranwachsende Kind im Sinne der für richtig erkannten Weltanschauung zu einem vollwertigen Gliede der Volksgemeinschaft zu erziehen."
Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Personensorgerechts erfolgte eindeutig zugunsten der nationalsozialistischen Erziehungsbewegung. Indem der nationalsozialistische Staat zum „Lehenherren [FN 774]" aller Eltern gemacht wurde, besaß er auch das Recht zu bestimmen, in welchem Sinne die Eltern ihre Kinder zu erziehen hatten. Dementsprechend stellte das Gericht bei der Überprüfung des Mißbrauchs des Erziehungsrechts allein auf das Handeln der Mutter vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Erziehungspflichten ab:
"Die Ausübung des Erziehungsrechtes schließt die Pflicht ein, den Belangen des deutschen Volkes zu entsprechen. "
Ob die Gerichte den Sorgerechtsentzug schließlich im Interesse des einzelnen Kindes entschieden, indem sie „die Lösung aller Bande zum deutschen Volk und zu einer Entfremdung" als für das Individuum nachteilig empfanden und sie dies für eine negative Entwicklung für das Kind selbst hielten oder ob die Gerichte letztlich staatliche Interessen verfolgten, indem ein Verlust des Kindes für die staatliche Gemeinschaft verhindert werden sollte, kann der neutralen Formulierung nicht entnommen werden. Auch wenn das Amtsgericht in seiner Begründung auf die Pflicht hinwies, die Kinder zu vollwertigen Gliedern der Volksgemeinschaft zu erziehen, könnte das Gericht letztlich die nachteiligen Folgen für das Kind im Auge gehabt haben, wenn es diesen Status nicht erreicht. Im Unterschied zu den bisher besprochenen Entscheidungen legten die beteiligten Spruchkörper jedoch nicht mehr ausdrücklich den Fokus auf das „eigene Wohl des Kindes".
FN 772 ZblJJ 27, 1936, 309 f.
FN 773 ZblJJ 27, 1936, 309 f.
FN 774 Vgl. Hirsch, Entzug und Beschränkung des elterlichen Sorgerechts, 59.