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Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen
Staatsterror durch staatliche Eingriffe in das Familienleben
Verletzung von Menschenrechten, Kinderrechten, Bürgerrechten durch Entscheiden und Handeln staatlicher Behörden im familienrechtlichen Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Familienhilfe unter anderem mit den Spezialgebieten Jugendamtsversagen und Jugendamtsterror
Fokus auf die innerdeutsche Situation, sowie auf Erfahrungen und Beobachtungen in Fällen internationaler Kindesentführung und grenzüberschreitender Sorgerechts- und Umgangsrechtskonflikten
Fokus auf andere Länder, andere Sitten, andere Situtationen
Fokus auf internationale Vergleiche bei Kompetenzen und Funktionalitäten von juristischen, sozialen und administrativen Behörden

"Spurensuche nach Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen"
ist ein in assoziiertes Projekt zur
angewandten Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung
"Systemkritik: Deutsche Justizverbrechen"
http://www.systemkritik.de/

 
Rassenhygienische Forschungsexperimente an Kindern

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Gast
New PostErstellt: 26.05.07, 10:20  Betreff: Rassenhygienische Forschungsexperimente an Kindern  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

© ZEIT online 25.5.2007 - 16:47 Uhr

NS-Vergangenheit holt Uni ein

Von Britta Schultejans

Am medizinischen Institut der Uni Münster wurden Tausende Kinder für die Rassenforschung der Nazis missbraucht. Ein Student deckte dies bereits vor sechs Jahren auf. Über die Aufarbeitung diskutiert wird erst jetzt.


Die Uni Münster will nun "schnell und rückhaltlos" aufklären

© Universität Münster

Der Jöttenweg ist eine nette kleine Straße mit schönen Bäumen. Ihm gegenüber liegt das Alexander-von-Humboldt-Haus, die Roland-Koch-Straße befindet sich in unmittelbarer Nähe. Karl Wilhelm Jötten befindet sich, rein städtebaulich, in guter Gesellschaft. Bis vor wenigen Tagen wies ein Schild unter dem Straßennamen darauf hin, dass Jötten von 1924 bis 1958 Direktor des Instituts für Hygiene in Münster war. Jetzt ist dieses Schild mit weiteren Informationen überklebt worden: „Prof. Dr. Karl Jötten, Mitglied der NSDAP, Rassenhygienische Forschung an 4300 Kindern 1924 – 1945, Befürworter des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 und der Zwangssterilisation von ‚Minderwertigen´.“

Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) brachte das neue Schild an, nachdem bekannt geworden war, dass an der Uni Münster zur Zeit des Nationalsozialismus Rassenforscher tätig waren, die auch nach Ende der NS-Herrschaft weiter arbeiteten und forschten.

Neu ist diese Information nicht: Bereits 2001 widmete Jan Nikolas Dicke diesem Thema seine Examensarbeit. Titel: „Eugenik und Rassenhygiene im wissenschaftlichen Diskurs der Universität und des Gesundheitswesens der Stadt Münster 1918–1939.“ Der Historiker fand heraus, dass Jötten gemeinsam mit seinem Assistenten Heinz Reploh erbhygienische Untersuchungen an 4300 Hilfsschülern zwischen sieben und fünfzehn Jahren, unter anderem aus der Taubstummenanstalt Langenhorst, durchgeführt hat. Jötten forschte aber auch nach dem Ende des Nazi-Regimes weiter: Bis zu seinem Tod im Jahr 1958 blieb er Direktor des Instituts für Hygiene. Für seine Forschungsarbeiten im Bereich der Arbeitshygiene erhielt er sogar das Bundesverdienstkreuz.

Dickes Arbeit ist eine der wenigen, die sich kritisch mit dem Thema Eugenik und Rassenhygiene in Münster auseinandersetzen. „Das hat möglicherweise auch etwas mit den Seilschaften an der Uni zu tun. Viele Mitarbeiter, die belastet waren, haben sich weit über 1945 hinaus hier gehalten“, sagte Dicke zu ZEIT online. „Außerdem ist die Quellenlage außerordentlich schlecht. Wesentliche Akten sind bei Bombenangriffen verbrannt.“

Notiz genommen hatte von Dickes Arbeit bisher kaum jemand. Erst ein freier Journalist der Münsterschen Zeitung machte die Universität auf die sechs Jahre alten Forschungsergebnisse aufmerksam. Jetzt ist die Arbeit, die seit drei Jahren in Buchform in der Universitätsbibliothek steht, dort vergriffen und für die nächsten drei Monate reserviert.

„In Fachkreisen ist die Arbeit schon länger bekannt, allerdings wurde sie in einem relativ kleinen Verlag publiziert, und auch von Seiten der Universität sah man nicht so die Notwendigkeit, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das ist sicherlich auch ein schmerzhafter Prozess für jede Institution, sich mit einer solchen Vergangenheit auseinanderzusetzen“, sagt Dicke.

Die Uni teilte mit, man werde sich jetzt um Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bemühen. Eine Untersuchungskommission, in der „renommierte Mediziner, Historiker und Juristen zusammenarbeiten“, soll sich mit dem Thema befassen. Auch Studierende sollten in dem Gremium mitwirken, hieß es von Seiten der Universität. „Die Hinweise, die bisher zur Biografie Jöttens vorliegen, werfen einen Schatten auf die Geschichte unserer Universität. Um Klarheit zu bekommen und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen zu können, gibt es nur einen angemessenen Umgang mit dem Thema: schnelle und rückhaltlose Aufklärung“, teilten Rektorin Ursula Nelles und Dekan Volker Arolt in einer gemeinsamen Stellungnahme mit.

Auch die Studierenden sorgen sich um den Umgang ihrer Universität mit der Vergangenheit. „Es geht nicht um einen dunklen Fleck, sondern um die Bedeutung der Uni Münster für die rassistische Medizinforschung im Nationalsozialismus und ihre Kontinuität danach“, sagt AStA-Referentin Annelie Kaufmann. Eine kritische Auseinandersetzung mit der „Rassenforschung“ habe es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben.

Dass der öffentliche Aufschrei so lange ausgeblieben ist, wundert Hans-Peter Körner nicht. Körner ist Professor für Medizingeschichte am Institut für Ethik der Medizin in Münster. „Was wissenschaftlich veröffentlicht wird, wird noch lange nicht politisch wahrgenommen“, sagte er zu ZEIT online. „Ich habe Forschungen über einen der führenden Rassenhygieniker, Ottmar von Verschuer, veröffentlicht – kaum eine Reaktion.“

Verschuer hatte schon vor der NS-Zeit im Jahr 1927 die Zwangssterilisierung der „geistig und moralisch Minderwertigen“ empfohlen. Er war Doktorvater des KZ-Arztes Joseph Mengele, der in Auschwitz Häftlinge im Namen der Wissenschaft quälte und für seine Forschungen missbrauchte. 1946 wurde Verschuer von den Alliierten inhaftiert, 1951 erhielt er einen Ruf an die Uni Münster, wo der bekannte Zwillingsforscher eine der größten Forschungsstellen für Humangenetik in Westdeutschland aufbaute. 1965 ging er in den Ruhestand, er starb 1969.

„Wie radikal Jötten war, muss wissenschaftlich geprüft werden“, sagt Körner. „Im Dritten Reich standen alle Mediziner unter dem Druck, sich als Rassenhygieniker auszuweisen. Über 50 Prozent waren Mitglied in der NSDAP. Soweit ich weiß, fing Jötten, im Gegensatz zu Verschuer, erst nach 1933 an, sich mit dem Thema zu befassen.“

Körner wünscht sich seit langem, dass die Universität endlich mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit beginnt. Er selbst hat dazu ein Forschungsprojekt entwickelt. Auch die Stadt Münster wünscht Aufklärung. „Wir haben der Universität mitgeteilt, dass wir an einer schnellen Aufarbeitung interessiert sind“, sagt Sprecher Joachim Schiek. An negative Folgen für den Hochschulstandort Münster glaubt er nicht: „Die Universität sagt, sie wolle gründliche Aufklärungsarbeit leisten und nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Das ehrt sie.“

Erst, wenn eine gründliche Aufarbeitung erfolgt sei, könne man über politische Konsequenzen wie die Umbenennung des Jöttenwegs nachdenken, sagt Schiek. Dabei sei allerdings auch zu bedenken, dass ein „ganzer Rattenschwanz an Formalien“ an einer solchen Entscheidung hänge. Stadtpläne und Telefonbücher müssten geändert werden, Anwohner müssten Bekannten mitteilen, dass sie eine neue Adresse haben. Eine Anliegerbefragung über eine Namensänderung in einem anderen Fall habe vor einigen Jahren ein klares „Nein“ ergeben. „Allerdings ging es dabei auch nicht um Nazigrößen“, räumt Schiek ein.

http://www.zeit.de/campus/online/2007/22/muenster-joetten?page=all
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Gast
New PostErstellt: 26.05.07, 10:25  Betreff: Die approbierten Mörder  drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

© DIE ZEIT 12.10.2006 Nr. 42

Die approbierten Mörder

Von Astrid Viciano

Im »Dritten Reich« wurden Hunderttausende behinderter und kranker Menschen getötet. Eine Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zeigt eindrücklich, wie Ärzte dabei halfen.

Das Kinderbett ist leer. Die graue Matratze trägt weder Kissen noch Decke, weißer Lack blättert von den Stäben des Bettgestells. Graublaue Kacheln dominieren die Wände des Raums. Ihre kühle, glatte Oberfläche bietet keinen Halt und strahlt keine Geborgenheit aus. Sicher nicht für die Kinder auf den acht Fotos, deren Schicksal hier gedacht wird, im eindrucksvollsten Bereich der Ausstellung Tödliche Medizin – Rassenwahn im Nationalsozialismus, die am 12. Oktober im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden eröffnet wird.

Der Raum mit den Kinderbildern ist der dunkelste der Schau. »Die düstere Inszenierung steht für einen Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen«, sagt Susan Bachrach, Kuratorin des United States Holocaust Memorial Museums in Washington D.C. Dort war die Tödliche Medizin im vergangenen Jahr erstmals zu sehen. Geht es in der Ausstellung zunächst um die Anfänge der Rassenideologie weltweit, berichten die Exponate ab hier von der Ermordung der Behinderten und Kranken, der Juden und anderen als minderwertig deklarierten Menschen in Deutschland. Auf insgesamt 900 Quadratmeter Fläche wird die Atmosphäre vor allem durch die Beleuchtung geprägt. Und von den Farben der Böden und Wände, die braun, blau, grau, schwarz oder weiß gestrichen wurden. »Die Ausstellung soll Emotionen wecken«, so Bachrach, die eigens zur Eröffnung angereist ist.

Zu Beginn trifft der Besucher auf eine Gestalt, die im Halbdunkel glänzt. Sie reckt beide Arme empor, wie berauscht vom eigenen Körper. Es ist der gläserne Mensch – eine Figur, die zur Zeit des »Dritten Reichs« im Deutschen Hygiene-Museum der Nazipropaganda diente. Gleich zu Anfang des Rundgangs erinnert die Gestalt daran, dass auch an diesem Ort die Ideologie der Nationalsozialisten vermittelt wurde. »Es war darum nicht leicht, die Ausstellungsmacher in Washington von einer Exposition bei uns zu überzeugen«, sagt Klaus Vogel, Leiter des Museums.

Auch das Hygiene-Museum verbreitete damals die Lehren der so genannten Rassenhygiene. Der Brite Francis Galton hatte 1883 den Begriff der Eugenik, der »guten Geburt« geprägt. Die Wissenschaft sollte die Menschheit von ihren Problemen befreien. Forscher wie der Berliner Arzt Otmar von Verschuer suchten bei Zwillingen nach Anzeichen erblich bedingter Kriminalität und geistiger Unterentwicklung.

Hell und steril erscheinen die Ausstellungsräume, die von den Anfängen der Rassenforschung berichten. Graue Kacheln liefern den Hintergrund für zwei Bilder von Verschuer. Auf dem einen bestimmt er die Augenfarbe zweier Jungen, auf dem anderen fotografiert er zwei Mädchen. «Forscher suchten zunächst nur nach Möglichkeiten, Erbkrankheiten zu vermeiden«, sagt Bachrach.

Das änderte sich bald. Nach der Machtergreifung 1933 bezeichnete Adolf Hitler sein Reich als biologischen Staat. Eine Zeichnung zeigt ihn als Arzt, der sich fürsorglich zu seinem Volk hinunterbeugt. In einem dunklen Raum umrahmen blaue Wände den »Führer« beim Hitlergruß; ein Exemplar der neuen Deutschen Ärzte-Zeitung mit Hakenkreuz unterstreicht den Eifer vieler Mediziner, der Doktrin der Nationalsozialisten zu folgen. Schon am 14. Juli 1933 trat das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in Kraft. Männer und Frauen, die an einer von neun vermeintlichen Erbkrankheiten litten, wurden fortan zwangssterilisiert. »Wir müssen ein gesundes Volk besitzen, um uns in dieser Welt durchsetzen zu können«, verkündete Propagandaminister Joseph Goebbels. Doch erst zu Kriegsbeginn wagten Hitler und seine Gefolgsleute, auch ihre Mordpläne umzusetzen – an Erwachsenen und Kindern.

Einer der Koordinatoren der Aktionen war Ernst Wentzler, einst angesehener Kinderarzt in Berlin. Reiche Familien und hochrangige NS-Funktionäre suchten mit ihren Kindern bei ihm Rat. Der Pädiater entwickelte einen Brutkasten zur Behandlung von Frühgeborenen, warnte in einem Aufklärungsfilm vor Rachitis als Folge eines Mangels an VitaminD. Wentzlers Porträt hängt in einem hell erleuchteten Raum, nur die schmutzig braune Farbe der Wände erinnert an die dunkle Seite des Mediziners. Während der Kinderarzt sich öffentlich für gesunden Nachwuchs einsetzte, schickte er mit seinen Gutachten heimlich Tausende Kinder in den Tod. Wie kann ein Arzt so etwas tun? »Darauf gibt es keine einfache Antwort«, sagt Bachrach. »Manche von ihnen witterten sicher eine Karrierechance.«

Ärzte und Hebammen erhielten vom Reichsinnenministerium den Auftrag, alle erbkranken oder behinderten Kinder zu registrieren. Von drei Gutachtern bewertet, wurden im Rahmen des »Kinder-Euthanasie-Programms« zwischen 1939 und 1945 rund 5000 dieser Jungen und Mädchen in 30 Kinderfachabteilungen ermordet. Eines von ihnen war Manfred K. Ein Bild zeigt ihn ausgestreckt auf einer Decke liegend, er ist nackt. Von weitem scheint der Kleine in die Kamera zu lachen. Dass er weint, erkennt der Besucher erst aus der Nähe.

Ein graues Kellergewölbe haben die Ausstellungsmacher nachgebaut, in einer Nische Bilder von feiernden Angestellten einer Pflegeanstalt angebracht. In dieser Einrichtung wurden keine Kinder, sondern behinderte oder psychisch kranke Erwachsene getötet. Fast zeitgleich mit den Kindern wurden diese ab Oktober 1939 heimlich erfasst und ihr Nutzen für das Volk berechnet: Die Arbeitsleistung betrage 40 Prozent, lautet der Eintrag auf einem Meldebogen. Wie der Gutachter zu dem Ergebnis kam, ist unklar. »Die Zahlen gaben dem Vorgehen einen wissenschaftlichen Anschein«, sagt Bachrach. In Wahrheit entschieden Ärzte über das Leben der Menschen, ohne sie je zu Gesicht zu bekommen. In den Gaskammern der sechs Euthanasie-Zentren in Deutschland und Österreich starben mehr als 70.000 Frauen und Männer.

Ihre Habseligkeiten wurden verscharrt, nur wenige blieben erhalten. Eine Brille ruht in einer Vitrine, mit blindem Glas und schmalen Bügeln, die verbogen und an einer Seite abgebrochen sind. Ein Kamm, ein Spiegel mit einer Zeichnung des Stephansdoms, ein Becher mit der Aufschrift »Marie«. Daneben ein Foto des Euthanasie-Zentrums Hartheim bei Linz, auf dessen Gelände die Gegenstände gefunden wurden. Auf dem Bild ist Rauch zu sehen; er steigt auf aus dem Krematorium der Anstalt. Ein Nachbar hatte den Moment festgehalten.

Die Aktionen blieben nicht unbemerkt. Manchen Familien wurde mitgeteilt, dass ihr Angehöriger an einer Blinddarmentzündung gestorben war, obwohl man ihm das Organ längst entfernt hatte. Andere begannen Fragen zu stellen, engagierten Rechtsanwälte, um ihre Verwandten zu schützen. Am 3. August 1941 protestierte Clemens August von Galen, katholischer Bischof von Münster, in einer Predigt gegen die Mordaktion. Derart bedrängt, ließ Hitler das Programm 1941 beenden.

Ab sofort wurden die Patienten unauffälliger, in unzähligen Pflegeanstalten des gesamten Reichs umgebracht. Davon erzählt ein Brief von Ernst P. aus der Provinzialheilanstalt Warstein, der sich am 3. September 1943 bei seiner Mutter für ein Paket bedankt: »Der Inhalt, 2 Pfund Äpfel und eine faule, matschige Masse von stinkendem Birnenmus, wurde mit Heißhunger überfallen.« Die Patienten seien hierher verlegt worden, »damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann«. Die Post wurde vom Anstaltspersonal abgefangen und liegt nun in einer Vitrine der Ausstellung neben einem Foto des Toten. Bis 1945 starben schätzungsweise 200.000 Menschen. Oft ließ man sie – wie Ernst P. – mit Hilfe ausgeklügelter Diätpläne langsam verhungern.

Gleich neben den Dokumenten liegt Millimeterpapier, auf dem Tabellen und Grafiken eingetragen sind. Mit Buntstiften rot, blau, grün ausgemalt, bilden sie die einzigen Farbtupfer im grauschwarzen Raum. Bis ins Detail erläutern die Daten, welche Menge Nahrungsmittel allein die Ermordung der 70.273 Menschen des Euthanasie-Programms eingespart hatte: Bei einer Lebenserwartung von zehn Jahren waren es 13.482.440 Kilogramm Fleisch und Würstchen und 4.216.440 Kilogramm Butter.

Doch nicht nur die Kostenersparnis verbuchten die Nationalsozialisten als Erfolg ihres entsetzlichen Programms. Das Personal, welches bis 1941 heimlich Patienten vergast hatte, setzte sein Wissen später in den KZs ein. Und Ärzte wie Josef Mengele beließen es nicht bei der Tötungsroutine und gingen so weit, mit Gefangenen zu experimentieren. Dem berüchtigten Mediziner ist ein eigener Raum gewidmet. Boden und Wände sind mit weißen Kacheln überzogen, die Lampen verbreiten ein grelles Licht. Hier fließt alles zusammen – die Rassenideologie, die Brutalität, die Tödliche Medizin.

http://www.zeit.de/2006/42/Dresdener-Hygiene-Museum?page=all
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Gast
New PostErstellt: 26.05.07, 11:16  Betreff: Re: Rassenhygienische Forschungsexperimente an Kindern  drucken  weiterempfehlen Antwort mit Zitat  

© DIE ZEIT, 27.07.2006

Verstoßen und vergessen
Von Thomas Röbke

Mehr als 2000 Akademikern wurde im Nationalsozialismus der Doktortitel aberkannt. Mit der Rehabilitierung haben sich manche Universitäten bis heute Zeit gelassen

Eigentlich klingt es wie eine Selbstverständlichkeit, wenn die Universität Gießen erklärt, dass die Entziehungen von Doktorgraden im Nationalsozialismus nichtig sind und dass damals vorenthaltene Verleihungen des Doktorgrades posthum vollzogen werden. Einzig der Zeitpunkt der öffentlichen Erklärung irritiert: Februar 2006.

Zwar hatte der Senat der Hochschule »schon« 1967 die Entziehung von akademischen Doktorgraden in der NS-Zeit wegen politischer, rassischer oder religiöser Gründe einstimmig als nichtig, also von Anfang an unwirksam bezeichnet. Nur hielt es damals niemand für nötig, diesen Beschluss öffentlich zu machen, geschweige denn die Betroffenen davon zu informieren – so sie denn noch am Leben waren.

Allein in Gießen sind 51 Verfahren zur Entziehung des Doktorgrades nachweisbar. Betroffen waren vor allem jüdische Promovierte. In 35 Fällen wurde die Entziehung wegen der Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit oder der Einleitung von Ausbürgerungsverfahren ausgesprochen. In 16 Fällen wurde der Doktorgrad unter Verweis auf andere Gründe der »Unwürdigkeit« entzogen. Einem Betroffenen wurde das Doktordiplom verweigert und bei einem weiteren das Promotionsverfahren eingestellt.

Insgesamt sollen über 2000 Akademiker von den Depromotionen betroffen gewesen sein. 1685 Namen wurden allein zwischen 1937 und 1943 im deutschen Reichs- und Preußischen Staatsanzeiger veröffentlicht. In 1151 Fällen wurde die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft als Grund angegeben (eine Übersicht über die im »Dritten Reich« vollzogenen Depromotionen findet sich im Internet unter der Adresse: www.archiv.uni-leipzig.de/reichsanzeiger).

Die Westdeutsche Rektorenkonferenz wandte sich bereits 1950 an die Universitäten mit der Bitte, Angaben zu 350 namentlich aufgeführten Professoren zu machen. Deren Wiedereinsetzung sei »eine solidarische Ehrenpflicht«. Die Umfrage blieb ohne Resonanz.

Weil eine gesetzliche Regelung für ein automatisches und umfassendes Revidieren der Depromotionen fehlte, wurde nur in Einzelfällen und auf Antrag rehabilitiert. Die wohl einzige Ausnahme: Thomas Mann. Die Bonner Philosophische Fakultät erklärte gleich nach Kriegsende die »von ihrem nationalsozialistischen Dekan und SS-Mann Obenauer 1936 völlig eigenmächtig verfügte Aberkennung« für gegenstandslos. Weihnachten 1946 erhielt Mann eine erneuerte Doktorurkunde.

Noch 1999 waren bei einer Umfrage der Kultusminister-Konferenz zur Aberkennung akademischer Grade die meisten Universitäten weder in der Lage, Antwort auf die gestellten Fragen zu geben, noch wurde an den dort vorhandenen Quellen in dieser Frage geforscht.

Immerhin: 1991 hatte Hamburg den Anfang gemacht und öffentlich alle Betroffenen rehabilitiert. Dann folgten 1995 Frankfurt am Main, 1998 die Universität Bonn und die Humboldt-Universität Berlin. 2000 kam Münster hinzu, 2002 auch Marburg. Dabei war hier 1965 erstmals in Deutschland der Beschluss gefasst worden, den jüdischen Doktoren die Titel wieder zuzuerkennen. Aberkennungen aus politischen Gründen oder wegen Homosexualität wurden damals allerdings nicht erwähnt. Und 2005 erstattete die Kölner Universität die zwischen 1933 und 1945 aberkannten Doktorgrade zurück – wenn auch nur symbolisch, denn von den 70 Betroffenen war niemand mehr am Leben.

Jens Blecher, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, hat über die Depromotionen promoviert. »Diese Methode diente nicht unbedingt als direkte Repressalie«, sagt er. »Sie war eher dazu gedacht, im Ausland Argwohn gegenüber diesen Menschen zu wecken. Sie setzte die Betroffenen in ein Zwielicht, das sie scheinbar auf eine Ebene mit Kriminellen stellte und ihnen die Fähigkeit zum gleichberechtigten sozialen Diskurs in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit absprach.« Eine wissenschaftliche Karriere sollte auch außerhalb Deutschlands zumindest erschwert werden. Blecher: »Als Mittel der Abschreckung diente die Depromotion aber auch dazu, den Druck auf die verbliebenen oder mit regimefeindlichen Ideen sympathisierenden Akademiker und Studenten zu erhöhen.«

Tatsächlich bekamen viele Emigranten im Ausland Schwierigkeiten, auch wenn sie sich rechtzeitig eine Kopie ihrer Doktorurkunde hatten anfertigen lassen. Denn das Wissen der Exilanten wurde zwar gerne genommen, die Menschen jedoch nicht – die Kollegen, beispielsweise in Großbritannien und den USA, fürchteten unliebsame Konkurrenz. Um wieder in ihrem Beruf arbeiten zu dürfen, mussten sie häufig noch einmal einige Semester studieren und sich der einheimischen Prüfungsordnung unterwerfen.

Die rechtliche Grundlage – leider muss man diesen Terminus in diesem Zusammenhang benutzen – bildete das Reichsgesetz über die Führung akademischer Grade von 1939. Als ihrer akademischen Titel unwürdig wurden all jene befunden, die aus Deutschland emigriert waren und denen der Staat daraufhin die Staatsangehörigkeit entzogen hatte. Das Gesetz ist nach wie vor gültig, sofern es nicht durch Landesgesetze abgeschafft oder geändert wurde. Eine 1986 entschärfte Version ist auf der Website des Landes Hessen zu lesen (www.hessenrecht.hessen.de).

Doch warum ließen sich die Hochschulen nicht schon viel früher zu einer öffentlichen Entschuldigung herab? »Durch die offenkundige Art des Unrechts erschien eine öffentliche Rehabilitierung respektive Entschuldigung der entziehenden Universität unnötig«, glaubt Blecher. »Der entzogene Doktortitel wird stillschweigend als nicht entzogen betrachtet, und die akademische Gemeinschaft hat ihren Common Sense wiedererlangt.«

Übrigens war es 1945 mit den Depromotionen aus ideologischen Gründen noch längst nicht vorbei: Die DDR erkannte republikflüchtigen Akademikern den Titel ab – den diese allerdings in aller Regel in der Bundesrepublik einfach weiterführten.


© DIE ZEIT, 27.07.2006


http://www.zeit.de/2006/31/C-Doktorgradentziehung?page=all
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