Tages-Anzeiger
S.14
6. April 2004
Wenn eine Mutter ihr Kind schaedigt
Von Thomas Hasler, Zuerich
Eine Mutter entfremdet ihr Kind dem Vater. Sie wird freigesprochen, weil sie nicht wusste, was sie tat. Trotzdem drohen der Mutter fatale Folgen.
Die Gerichte haben sich vermehrt mit einem Phaenomen zu befassen, das in der Wissenschaft bereits einen Namen hat: "Parental Alienation Syndrome (PAS)", das Eltern-Kind-Entfremdungs-Syndrom. Ein Elternteil oder dessen Umfeld wirkt dabei derart auf das Kind ein, dass sich dieses schliesslich vehement und kompromisslos vom anderen Elternteil abwendet.
Am Montag stand eine knapp 37-jaehrige Frau vor dem Zuercher Obergericht. Sie war nicht der Kindesentfremdung angeklagt. Denn dies ist kein Straftatbestand. Ihr wurde jedoch Ungehorsam gegen eine amtliche Verfuegung vorgeworfen: Ein Gericht hatte ihr "befohlen", ihre Tochter dem Vater "zur Ausuebung seines (im Scheidungsurteil) festgelegten Besuchsrechts zu uebergeben".
Uebergriffe eingebildet
Doch die damals achtjaehrige Tochter wehrte sich mit Haenden und Fuessen dagegen, ihren Vater zu sehen. Diese Ablehnung, so hiess es in der Anklage, sei der "massiven Beeinflussung" der Tochter durch die Mutter zuzuschreiben. Und zweifellos wirkten auch die Grosseltern muetterlicherseits kraeftig mit.
Was vom Vater und Ex-Mann zu halten war, aeusserten die Mutter und deren Eltern mehr als deutlich. Da war die Rede von einem "gefaehrlichen und verabscheuenswuerdigen Mann". Das Kind duerfe "diesem perversen Menschen nie mehr ausgesetzt" werden. Die Ehefrau bezichtigte ihren Mann bereits ein Jahr nach der Geburt der Tochter der sexuellen Uebergriffe. Zwei Jahre spaeter wiederholte sie die Vorwuerfe. Nur: Diverse Gutachten konnten die Vorwuerfe nicht erhaerten. Mehrere Gerichte weigerten sich denn auch, das Besuchsrechts des Vaters einzuschraenken.
Noch klarere Worte fand das Obergericht: Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs sei eine Einbildung der Mutter. Sie habe dies dem Kind so lange suggeriert, bis es die Ansicht ihrer Mutter uebernahm. Zuletzt musste die Mutter ihre Tochter gar nicht mehr beeinflussen. Bereits die Ankuendigung, das Besuchsrecht des Vaters stehe bevor, stiess beim Kind auf Ablehnung - laut Gericht "mit einer Heftigkeit, die erschreckt". Kommentar der Mutter: "Ich konnte meine Tochter doch nicht an den Haaren zum Besuchstermin zerren."
Zwischen den Eltern tobte seit ueber sieben Jahren ein erbitterter Kampf um das Sorge- und Besuchsrecht. Schliesslich musste das Besuchsrecht des Vaters tatsaechlich voellig ausgesetzt werden. Das Gutachten hatte gezeigt, dass die Tochter sich in einem schwer wiegenden Loyalitaetskonflikt befand, Diagnose: "Parental Alienation Syndrome."
Vermeintliches Kindeswohl
Das Maedchen erzaehlte inzwischen sogar von Uebergriffen, die zu einem Zeitpunkt stattgefunden haben sollen, an dem es zwischen Vater und Tochter nachweislich schon lange zu keinem Kontakt mehr gekommen war. In dieser Situation den Vater zu sehen, waere fuer das Kind wirklich schaedlich, hielt das gemaess Gericht "detailreiche, sorgfaeltige und nachvollziehbare Gutachten" fest.
Obwohl die Mutter ganz offensichtlich alles zur Entfremdung der Tochter vom Vater beigetragen hatte, wurde sie vom Obergericht dennoch freigesprochen, "auch wenn sich in mir alles straeubt", wie eine Richterin sagte. Warum? Es gibt im Strafrecht so genannte ausser- oder uebergesetzliche Rechtfertigungsgruende. Wer beispielsweise in der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine Straftat begeht, kann freigesprochen werden. Ein berechtigtes Interesse in diesem Zusammenhang kann das Wohl des Kindes sein. Ein Richter forderte trotzdem eine Verurteilung. Die Mutter habe ihre eigenen Interessen auf die Tochter projiziert und letztlich - weil die Gerichte kein Kontaktverbot aussprachen - eine "nicht akzeptable Selbstjustiz" geuebt. Dieser Ansicht wollten sich die beiden anderen Richter nicht anschliessen. Die Frau sei schlicht nicht zurechnungsfaehig. Sie habe gemeint, zum Wohle des Kindes zu handeln, und habe nicht erkannt, dass sie das Syndrom schuldhaft herbeigefuehrt habe - wer zur Einsicht nicht faehig ist, kann nicht schuldig sein und muss freigesprochen werden.
Mutter deutlich gewarnt
"Verstehen Sie den Freispruch nicht falsch", warnte die vorsitzende Richterin. "Sie haben noch nicht realisiert, dass Sie die Ursache der Probleme sind. Das alles hat gar nichts mit dem Verhalten des Vaters zu tun. Sie persoenlich haben es so weit gebracht, dass das Wohl des Kindes heute so gefaehrdet ist."
Die Richterin forderte die Frau eindringlich auf, "eine vernuenftige Sicht auf ihren Ex-Mann" zu entwickeln. Schafft sie das nicht, kann das fatale Konsequenzen haben: Der Frau koennte letztlich das Sorgerecht entzogen werden. Viel Zeit bleibt nicht mehr: Der naechste Besuchstermin des Vaters nach langer Pause ist am 1. Juli geplant.