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Hallo Alle,
ist mir so passiert. Fritzchen hat im Dunkeln was vom Nachttisch genommen und dabei unbemerkt die Brille auf den Boden befördert. Brille und großer Zeh von Ingrid waren dann auch nicht die ideale Kombination. Das Ding war total verbogen. Ich wollte die abstehenden Bügel vorsichtig zurück biegen. Krach machte es, und meine Brille hatte ab sofort eine entfernte Ähnlichkeit mit den altertümlichen Gläsern an einem Stab, wie wir sie aus den Filmen kennen. Sie war eindeutig nicht mehr funktionsfähig.
Also gekramt und erst mal meine alte Ersatzbrille hervorgeholt. Nur von dieser passen die Gläser nicht mehr besonders gut. Mit dieser Brille noch monatelang ausharren? Irgendwo muss doch auch die Servicekarte vom Optiker, mit den „Schliffkoordinaten“ drauf, sein. Frauenhandtaschen sind ja unerschöpfliche Schatzkisten. Bei einer Inventur kommt so einiges zu Tage, auch die Servicekarte.
Am Dienstag mache ich mich dann mit der kaputten Brille und der Servicekarte in der Handtasche und der Ersatzbrille auf der Nase auf den Weg in die Stadt. Bei unseren früheren Erkundigungen haben wir dort einige Optikergeschäfte gesehen. Eines ist mir besonders aufgefallen. Ganz neu, groß und modern. Schlechter kann eine etwas fehlerhaft geschliffene Brille auch nicht sein, als das alte nicht mehr passende Nasenfahrrad. Also will ich das Risiko wagen.
Ingrid rein in den Laden. Drinnen vier Verkäuferinnen. Eine Kundin verlässt gerade das Geschäft. Die Brillen sind nicht wie bei uns an den Wänden aufgereiht, sondern liegen hinter Glas in Schautischen. Ich werde sofort von allen Vieren umringt. Da wir hier nicht in einem Touristengebiet sind, kann man davon ausgehen, dass ich das erste Langnasenmodell war und bin, dass sie bis dato in Natura gesehen haben. Ist mir ja alles irgendwie peinlich, aber was hilft es. Sie verstehen sofort um was es geht, als das deutlich sichtbare Malheur begutachten dürfen: diese „Langnase“ (so nennen die Chinesen die weißen Menschen), benötigt eine Brille.
Schon laufen einige der Damen los und bringen mir Gestelle, die der alten Brille auf meiner Nase sehr ähnlich sind. Neee, so eine will ich nicht mehr. Also wieder aus der Handtasche die zerbrochene geholt und kräftig auf diese gezeigt. Jaja, so etwa soll sie aussehen.
Nach meinem Geschmack ist das Heranbringen von Brillengestellen auch nicht. Ich möchte lieber selber sehen, was es so gibt. Gefolgt von dem Schwarm der Verkäuferinnen begebe ich mich zu den Glastischen an den Wänden. Der Glastisch, vor dem ich bis dahin gestanden hatte, enthielt nur Sonnenbrillen.
Schon beim ersten Tisch sehe ich Brillen, die mir zusagen könnten. Die Markennamen der Brillen sagen mir auch etwas, sie sind international erhältlich. Trotzdem noch ein Blick auf die Nachbartische. Nein, der Inhalt vom ersten Tisch ist vom Aussehen her das, was ich möchte. Ein Blick auf die Preisschilder bringt mir im Vergleich der Tische einen alten Werbespruch in Erinnerung: es ist schon immer etwas teuerer, einen besonderen Geschmack zu haben. Trotzdem sind die Preise um ein vielfaches billiger als, das was ich sonst so beim Brillenkauf in Deutschland bezahlen muss.
Die Damen sind wieder sehr fleißig und reichen mir eine Brille nach der anderen aus meinem ausgewählten Tisch. Unter großem Geschnattere wird untereinander jede meiner Anproben kommentiert. Verstehe natürlich kein Wort. Zum Schluss habe ich zwei Modelle übrig, zwischen denen ich mich entscheiden will. Ach was soll’s, sollen doch die Damen entscheiden. Solche Aufgaben können Frauen auf der ganzen Welt gut erledigen, diese bestimmt auch. Alle nicken heftig bei dem silberfarbigen Modell. Gut, sie sollen ihren Willen haben.
Jetzt brauche ich noch Gläser. Wieder wollen sie sich an meinem Uraltmodell, dass dazu noch Gleitsichtgläser hat, die ich nicht mehr haben will, orientieren. Also wieder das zerbrochene Stück herausgeholt. Klopf, klopf auf die Gläser. Ich verstehe so was wie Polymer, übersetze für mich „Plastik“. Stimmt, die Brille hat Plastikgläser.
Nun kommt der allerschwierigste Teil des Geschäftes. Ich muss den Damen meine „Schliffkoordinaten“ verklickern. Keine kann ein Wort englisch, keine kann die lateinische Schrift lesen. Die Zahlen werden aber in China, von der eins abgesehen, genauso geschrieben. Also zeige ich auf die Zahlen auf der Karte die unter „R“ stehen und deute mit meinen Fingern auf das rechte Auge einer Verkäuferin. Genauso verfahre ich mit der zweiten Zahlenreihe.
Inzwischen hat sich zu meiner Verkäuferinnenarmada eine Dame im weißen Kittel aus dem Labor gesellt. Sie schnappt sich meine zerbrochene Brille und die Servicekarte, verschwindet in den hinteren Räumlichkeiten. Nach kurzer Zeit kommt sie mit den beiden Sachen und einem zusätzlichen Zettel wieder. Auf dem hat sie schöne chinesische Schriftzeichen und einige Zahlen stehen. Jetzt geht es mir wie den Verkäuferinnen vorher, ich kann alles sehen, aber weder lesen noch verstehen.
Wie immer in solchen und ähnlichen Situationen, bleibt mir nur eine Alternative: Augen zu und durch, also nicke ich, mehr als schief gehen kann es ja nicht. Allerdings einen Wunsch hätte ich noch, bitte etwas entspiegeln. Aber wie verklickere ich das. Ich habe ein kleines Taschenwörterbucher Deutsch – Chinesisch. Entspiegeln steht nicht drin – nur Spiegel.
Im Chinesischen kann es einen völlig anderen Begriff dafür geben. Also nehme ich die zerbrochene Brille und die alte Brille und bewege beide unter den Lichtstrahlern. Wenn es bei der alten Brille blinkt, sage ich „meo“. Meo heißt nein und ist so das einzige chinesische Wort das ich kenne. Einzige Reaktion: helle Begeisterung bei den Damen, die Langnase kann chinesisch. Also wieder die fatalistische Methode: abwarten was kommt, ändern kannst eh nichts dran.
Als ich meine Servicekarte einpacken will, haben sie was dagegen und es kommt diesmal ein chinesisch perfektes „meo“. Glücklich bin ich darüber nicht. Weil diese Karte gleichzeitig eine Brillenversicherung ist. Wenn ich sie nicht zurück bekomme, darf ich die Reparatur der kaputten Brille voll selber bezahlen. Es hilft nix, hier muss ich ja eh ständig irgendwelche Risiken eingehen.
Jetzt kommt der Taschenrechner zum Einsatz. Langsam, damit ich es auch mitbekomme, tippt man die Zahlen ein. Erst ziehen die Damen vom Etikettenpreis 15 % ab. Da habe ich natürlich nichts dagegen. Jetzt kommen wir zu den Gläsern. Sie tippt 100 Yuan dazu. Nicht erschrecken, das sind umgerechnet 10 Euro. Dafür bekommt man bei uns nicht einmal ein einziges Einfachstglas. Die 100 Yuan sollen aber für beide Polymere-Gläser sein.
Stellt sich mir wieder die Frage, ob ich auch das bekomme, was ich will. Hilft wieder nix: abwarten ist angesagt. Ach ja, wie lange? Wann kann ich die Brille abholen? Außer Claudia S. die Chinesisch studiert hat, kenne ich keinen Menschen der die Frage jetzt hätte stellen können. Claudia ist aber in Deutschland, ich bin hier und muss selber fragen. In schönen Zahlen male ich das aktuelle Datum (2006.02.14) auf einen Zettel und mache einen Pfeil. Die Damen verstehen und setzen 2006.02.19 dahinter. Gut, ich weiß Bescheid.
Jetzt kommt der Zettel bei den Damen im Einsatz. Eine malt, etwas unbeholfen wie ein fünfjähriges Kind: TEL. Verstehe, die Damen wollen meine Telefon-Nr. Ich zeige die Visitenkarte vom Hotel, schreibe die Telefonnummer auf den Zettel und natürlich die Zimmernummer. Frage mich aber im Stillen, wie das mit dem Telefonieren in sprachlicher Hinsicht funktionieren soll. Zahle und gehe. Alle winken und schnattern und der Einen ist doch noch was Englisches eingefallen: „Good bye“. Good bye und Ingrid steht innerlich lachend wieder in der Fußgängerzone und kann schon jetzt vor Spannung das Ergebnis kaum abwarten.
Nun heute ist Donnerstag etwa 11 Uhr am Vormittag, der zweite Tag nach meinem Brillenkauf. Das Telefon bimmelt. Wird wohl wieder jemand sein, der sich verwählt hat. Wegen der Zeitverschiebung kann es kein Anruf aus Deutschland sein, dort schläft man noch tief und fest. Kaum habe ich abgehoben, geht ein Schwall chinesischer Worte über mich nieder. Bei verwählten Anrufen, legen Alle kommentarlos auf, wenn sie merken, „was“ sie an der Leitung haben. Dieser Anrufer legt nicht auf, er redet und redet. Ich versuche ihm auf englisch und deutsch begreiflich zu machen, dass ich ihn nicht verstehe. Gut, endlich legt er auf.
Zehn Minuten später. Wieder klingelt das Telefon. In Englisch höre ich, dass die Operatorin dran ist. Gut, was will sie? Sie spricht schlecht englisch, ich spreche auch schlecht englisch, aber ich verstehe was von Eye Glases. Oh, schießt es mir durch den Kopf. Es gibt Rückfragen oder Probleme. Können wir so aber nicht klären.
Sandy, die chinesische Freundin eines Kollegen meines Mannes kann besser englisch. Sie soll mir bitte aus der Patsche helfen und direkt im Optikergeschäft anrufen. Ihr kann ich verständlich machen um was es geht und sie kann dann die chinesischen Fragen ins Englische zurückübersetzen. Also sage ich der Stimme am anderen Ende der Leitung, dass ich zurückrufen werde.
Nein, nicht zurückrufen, verstehe ich, „die Eye Glases wollen auf mein Room kommen“. Kann ja wohl nicht sein. Aber um die Prozedur abzukürzen, sage ich einfach o. k. Da sich zehn Minuten lang nichts tut, nehme ich mir vor mit Sandy heute Nachmittag oder morgen früh zum Optikergeschäft zu fahren. Kurz darauf klingelt es an der Zimmertür.
Ein Herr und eine Dame stehen davor. Die Dame hat ein Brillenetui in der Hand. Jetzt verstehe ich den Anruf. Die Brille wird mir auf meine Nase gesetzt, die im Übrigen wirklich nicht lang ist. Der Herr kontrolliert den Sitz hinter meinen Ohren. Nimmt die Brille und biegt noch etwas an den Bügeln rum. Wieder aufgesetzt.
Die Brille sitzt perfekt. Sie hat Plastikgläser, ist entspiegelt und ich kann fantastisch in die Ferne sehen. Einige kleinere Verbeugungen meinerseits und natürlich ein strahlendes Lächeln von mir, anders kann ich ja meine Zufriedenheit nicht ausdrücken. Trinkgeld könnte ja als Beleidigung empfunden werden. Das Etui wollen sie auch nicht zurückhaben. Die Servicekarte ist auch dabei. Ich habe eine Brille, die nicht einmal 90 Euro gekostet hat.
Die Geschichte soll Euch Anteil an meinen Erlebnissen geben und ein kleines Danke an die Damen und Herren von dem Optikergeschäft sein, dessen Namen ich nicht einmal kenne.
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Unser Kopf ist rund, damit unsere Gedanken die Richtung ändern können
Schumacher @ zweitfrauen.de