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BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 u.a.
Das Pflichtteilsrecht ist verfassungsgemäß
Das in § 2303 Abs.1 BGB geregelte Pflichtteilsrecht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist Ausdruck des Rechts der Kinder des Erblassers auf eine unentziehbare und bedarfsunabhängige Teilhabe am Nachlass. Auch die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr.1 und 2 BGB sind mit dem GG vereinbar. Die Vorschriften gewähren grundsätzlich den Kindern einen Anteil am Nachlass, lassen dem Erblasser aber gleichzeitig genügend Freiraum, sein Vermögen nach seinen Vorstellungen zu verteilen.
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist einer von zwei Söhnen der Erblasserin. Sie hatte ihn zu ihrem Alleinerben eingesetzt. In den letzten drei Jahren vor ihrem Tod wurde die Erblasserin wiederholt tätlich von ihrem anderen Sohn X. angegriffen, der mit ihr zusammen in einem Haus lebte. X. litt an einer schizophrenen Psychose. Einen Monat vor ihrem Tod entzog die Erblasserin dem X. wegen der von ihm begangenen Misshandlungen den Pflichtteil. Im Februar 1994 wurde sie von X. erschlagen, weil dieser Angst vor beziehungsweise Wut wegen seiner bevorstehenden Einweisung in ein Krankenhaus hatte. Da ein Gutachter feststellte, dass X. bei der Tötung schuldunfähig war, ordnete das LG seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Vertreten durch seinen Betreuer, machte X. gegen den Beschwerdeführer seinen Pflichtteilsanspruch geltend. LG und OLG gaben der hierauf gerichteten Klage statt, weil auf Grund der Schuldunfähigkeit des X. keine wirksame Pflichtteilsentziehung stattfinden konnte. Die gegen diese Entscheidungen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG hob das Urteil des OLG auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Das Urteil des OLG verletzt den Beschwerdeführer in seinem Erbrecht. Dieses Recht ist aber nicht bereits deswegen verletzt, weil § 2303 Abs.1 BGB ein Pflichtteilsrecht regelt. § 2303 Abs.1 BGB ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Zu den von der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs.1 S.1 GG geschützten Bereichen gehört das Recht der Kinder des Erblassers auf eine unentziehbare und bedarfsunabhängige Teilhabe am Nachlass. Das Pflichtteilsrecht ist Ausdruck einer umfassenden Familiensolidarität, innerhalb derer Eltern und Kinder füreinander die Verantwortung übernehmen. Diese Pflicht zur gegenseitigen Sorge rechtfertigt es, dem Kind mit dem Pflichtteilsrecht auch über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Versorgung zu sichern. Diese Rechte und Pflichten werden durch § 2303 Abs.1 BGB gesichert. Die Vorschrift gewährt den Kindern einen Anteil am Nachlass, lässt dem Erblasser aber gleichzeitig genügend Freiraum, sein Vermögen nach seinen Vorstellungen zu verteilen (Testierfreiheit).
Auch die Regelungen über die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr.1 und 2 BGB sind mit dem GG vereinbar. Hiernach ist nur bei einem außerordentlich schweren Fehlverhalten des Kindes die Versagung des Pflichtteilsanspruchs gerechtfertigt.
Nach diesen Grundsätzen ist die Entscheidung des OLG nicht tragbar. X. war laut Sachverständigem bei der Tötung der Erblasserin zwar schuldunfähig im strafrechtlichen Sinn, aber immerhin in der Lage, das Unrecht seiner Tat einzusehen. Damit könnte X. den Tatbestand des „nach dem Leben Trachtens“ gemäß § 2333 Nr.1 BGB erfüllt haben. Dies muss das OLG prüfen.
Der Hintergrund:
In einem anderen Verfahren mit dem Az.: 1 BvR 188/03 hatte der Erblasser seinem Sohn Y. das Pflichtteilsrecht entzogen, weil dieser ihm den Kontakt zu seinem Enkelkind verweigerte. Auch in diesem Fall machte Y. sein Pflichtteilsrecht gegenüber der Alleinerbin und Beschwerdeführerin geltend und auch hier hielten die Gerichte den Pflichtteilsentzug für unwirksam. Die Verfassungsbeschwerde der Alleinerbin hatte allerdings keinen Erfolg. Das BVerfG entschied, dass die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrecht aus Art. 14 Abs.1 GG verletzt werde. Der Pflichtteilsentziehung liege in diesem Fall eine familiäre Konfliktsituation zu Grunde, wie sie kennzeichnend für eine Enterbung sei und in der das Pflichtteilsrecht gerade seine Funktion erfülle.
L e i t s ä t z e
zum Beschluss des Ersten Senats vom 19. April 2005
- 1 BvR 1644/00 -
- 1 BvR 188/03 -
1. Die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass wird durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet.
2. Die Normen über das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers (§ 2303 Abs. 1 BGB), über die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB und über den Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund des § 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
3. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung des § 2333 Nr. 1 BGB.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT