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Entscheidung
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion
Nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin
11/12/06 ENTSCHEIDUNG über die ZULÄSSIGKEIT der Individualbeschwerde Nr. 41092/06 von S. M. gegen Deutschland
ENTSCHEIDUNG
ÜBER DIE ZULÄSSIGKEIT DER
Individualbeschwerde Nr. 41092/06
von S. M.
gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 11. Dezember 2006 als Kammer mit den Richtern
Herrn P. Lorenzen, Präsident,
Herrn K. Jungwiert,
Frau V. Butkevych,
Frau M. Tsatsa-Nikolovska,
Herrn J. Borrego Borrego,
Frau R. Jaeger,
Herrn M. Villiger,
und Frau C. Westerdiek, Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 6. Oktober 2006 eingereicht wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden
SACHVERHALT
Die 1968 geborene Beschwerdeführerin, Frau S. M., ist deutsche Staatsangehörige und wohnt in F.. Sie wurde vor dem Gerichtshof von Frau A. Wiese, einer in München niedergelassenen Anwältin, vertreten.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
2003 lebte die Beschwerdeführerin mit ihrem deutschen Ehemann, einem Piloten bei der Bundeswehr, in Neu Mexiko (Vereinigte Staaten von Amerika, im Folgenden „Vereinigte Staaten“). Nach einer Ehekrise kehrte der Ehemann im Dezember 2003 nach Deutschland zurück. Die Beschwerdeführerin blieb in den Vereinigten Staaten und hatte eine geschlechtliche Beziehung mit G., einem amerikanischen Staatsangehörigen, mit dem sie vorübergehend in einer Wohngemeinschaft lebte. Die geschlechtliche Beziehung zerbrach im Februar 2004. Im April 2004 brachte die Beschwerdeführerin ihre Tochter N. zur Welt. Anschließend wurde G. auf der Geburtsurkunde von N. als Kindesvater eingetragen. Später bestritt die Beschwerdeführerin die Vaterschaft von G. und behauptete, sie sei genötigt worden, dieser Eintragung zuzustimmen. Diese Behauptung nahm G. zum Anlass, sich selbst einem DNA-Test zu unterziehen. Der Test bestätigte seine Vaterschaft, wurde aber geheim gehalten. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist es jedoch möglich, dass nicht das DNA-Material von G. untersucht worden ist.
Im September 2004 kehrte die Beschwerdeführerin mit N. nach Deutschland zurück, weil ihr Vater schwer krank war. Beide leben jetzt mit dem Ehemann der Beschwerdeführerin zusammen, mit dem diese sich versöhnt hat. Laut Vorbringen der Beschwerdeführerin könnte auch ihr Ehemann und nicht G. der Vater von N. sein. Die deutschen Stellen stellten eine deutsche Geburtsurkunde für N. aus, in der der Ehemann der Beschwerdeführerin als Kindesvater eingetragen wurde.
I. Verfahren vor dem Bezirksgericht San Juan in Neu Mexiko
Vor der Abreise der Beschwerdeführerin mit N. nach Deutschland im September 2004 hatte G. vor dem Bezirksgericht San Juan ein zivilrechtliches Verfahren angestrengt, um feststellen zu lassen, dass er der Vater von N. ist, und das Sorge- und Umgangsrecht für N. zu erwirken. Die Beschwerdeführerin nahm an der mündlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht San Juan am 22. November 2004 per Telefonkonferenz teil. Einen vom Gericht angeordneten Termin für einen DNA-Test in Deutschland im Januar 2005 nahm die Beschwerdeführerin jedoch nicht wahr. Sie teilte mit, dass weder sie noch ihr Ehemann an einem derartigen Test teilnehmen würden. Unter dem 28. Januar 2005 erließ das Bezirksgericht San Juan einen Eilbeschluss, mit dem es die Vaterschaft von G. aufgrund des US-Geburtenregisters und einer von der Beschwerdeführerin unterschriebenen schriftlichen Anerkennung, dass G. der Vater von N. sei, bestätigte. Bis zum Ergehen neuer Anordnungen sprach das Bezirksgericht San Juan G. auch vorläufig das primäre Sorgerecht für N. zu und schloss Besuchsrechte der Beschwerdeführerin aus.
II. Verfahren vor den deutschen Gerichten
1. Verfahren vor dem Amtsgericht Celle
Im Januar 2005 strengte G. auch ein einstweiliges Anordnungsverfahren in Deutschland an, um die Rückführung von N. in die Vereinigten Staaten zu erwirken. Das Amtsgericht - Familiengericht - Celle forderte G. zur Vorlage einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Artikel 15 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden HKiEntÜ) auf, die am 22. April 2005 von dem Bezirksgericht San Juan ausgestellt wurde. Darin führte das Bezirksgericht San Juan aus, dass (…) dem Antragsteller [G.] nach dem Recht des Staates Neu Mexiko das Sorgerecht einschließlich des Rechts, alle Entscheidungen im Hinblick auf die die Sorge für das Kind sowie dessen Betreuung und Beaufsichtigung zu treffen, gemeinsam mit der Beklagten gleichberechtigt zustehe. (…) Der Antragsteller habe diese Rechte zu dem Zeitpunkt ausgeübt, zu dem die Beklagte das Kind nach Deutschland verbracht habe. Deshalb erkenne dieses Gericht, dass die Beklagte das Sorgerecht des Antragstellers verletzt habe, als sie das Kind nach Deutschland verbracht, es dort behalten und sich geweigert habe, dem Antragsteller Umgang zu gewähren, und das Verbringen des Kindes durch die Beklagte nach Artikel 3 HKiEntÜ „widerrechtlich“ gewesen sei. (...)
Das Amtsgericht Celle wies den Antrag von G. am 3. Juni 2005 zurück und führte aus, dass es die in vorbezeichneter Bescheinigung geäußerte Auffassung des Bezirksgerichts San Juan nicht teilen könne. Nach Artikel 12 in Verbindung mit Artikel 3 HKiEntÜ müsse die sofortige Rückgabe eines Kindes nur angeordnet werden, wenn das Sorgerecht eines Elternteils durch das Verbringen des Kindes verletzt worden sei. Das Amtsgericht Celle hielt es nicht für entscheidend, ob die Entscheidung des Bezirksgerichts San Juan vom 22. April 2005, mit der G. das vorläufige Sorgerecht zugesprochen worden sei, rückwirkend ab dem Geburtstag von N. gegolten habe. Es sei auch nicht erheblich, ob der Feststellungsbeschluss des Bezirksgerichts San Juan vom Januar 2005, mit dem festgestellt worden war, dass G. der leibliche Vater war, rückwirkend ab dem Geburtstag von N. Anwendung gefunden habe. Selbst wenn zu diesem Tag ein Sorgerecht von G. unterstellt werde, habe er es gleichwohl nicht ausgeübt. Das Amtsgericht Celle kam zu diesem Schluss, weil G. bei der Geburt von N. mit der Beschwerdeführerin nicht mehr in einer gemeinsamen Wohnung gelebt habe und auch nicht ihr Partner gewesen sei. Überdies habe er N. nur gelegentlich gesehen, habe keinen Unterhalt gezahlt und sei wegen seines Berufs als Pilot nie anwesend gewesen. Das Amtsgericht Celle berücksichtigte eine von G. beigebrachte Zeugenaussage eines Dritten, der zufolge er N. in fünf Monaten nur zweimal gesehen habe. Das Amtsgericht Celle führte darüber hinaus aus, dass die Beschwerdeführerin N. betreut habe. Sie habe auch Unterhalt gezahlt und sei ansonsten auf Sozialhilfe angewiesen gewesen.
2. Verfahren vor dem Oberlandesgericht Celle
Auf Beschwerde von G. gab das Oberlandesgericht Celle der Beschwerdeführerin am 27. Februar 2006 auf, N. nach Neu-Mexiko zurückzuführen, oder sie andernfalls herauszugeben, um ihre sofortige Rückgabe sicherzustellen Das Oberlandesgericht Celle befand auch, dass die Anordnung erst dann vollstreckt werden solle, wenn G. eine unwiderrufliche Anweisung hinterlegt habe, der Beschwerdeführerin für einen Zeitraum von vier Monaten einen monatlichen Unterhalt in Höhe von 600 US $ zu zahlen. Der Unterhalt für die ersten beiden Monate sei zu hinterlegen und bei der Ankunft der Beschwerdeführerin in den Vereinigten Staaten an sie auszukehren. Das Oberlandesgericht Celle wies G. darüber hinaus an, für die Beschwerdeführerin und N. in den Vereinigten Staaten eine Wohnung für die Dauer von zwei Monaten anzumieten. Das Oberlandesgericht ermächtigte den Gerichtsvollzieher, das Kind in die Vereinigten Staaten zurückzuführen, wenn die Beschwerdeführerin der Anordnung, N. herauszugeben, nicht nachkomme. Der Gerichtsvollzieher wurde ermächtigt, Zwang anzuwenden, sofern dies erforderlich sei, um Widerstand der Beschwerdeführerin zu überwinden, ihre Wohnung zu durchsuchen und die Wegnahme des Kindes sicherzustellen.
Das Oberlandesgericht Celle war der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin das bestehende Mitsorgerecht von G. mit der Rückkehr nach Deutschland verletzt habe. Nach dem HKiEntÜ müsse N. an den Ort zurückgebracht werden, an dem sie vor dem widerrechtlichen Verbringen ihren Aufenthalt hatte. Das Oberlandesgericht Celle hatte keinerlei Zweifel daran, dass G. der Kindesvater ist, weil die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann andernfalls den Termin für einen DNA-Test in Deutschland wahrgenommen hätten, um das Vorbringen von G. in dem Verfahren vor dem Bezirksgericht San Juan zu widerlegen. Für die Frage, ob die Beschwerdeführerin N. 2004 widerrechtlich verbracht habe, sei die Rechtslage in Neu Mexiko maßgeblich; dabei komme es auf den Umstand, dass der Beschwerdeführerin nach deutschem Recht das alleinige Sorgerecht zustehen würde, nicht an. Ausweislich der Widerrechtlichkeitsbescheinigung des Bezirksgerichts San Juan vom 22. April 2005 stelle das Verbringen eine Verletzung des Sorgerechts von G. dar. Dem stehe entgegen der Entscheidung des Amtsgerichts Celle eine derzeit fehlende Ausübung des Sorgerechts nicht entgegen, weil das Oberlandesgericht Celle der Ansicht war, dass nach dem HKiEntÜ eine Rechtsvermutung für dessen Ausübung spreche. Diese Vermutung habe die Beschwerdeführerin nicht widerlegt. Das Oberlandesgericht führte aus, dass es nach der Systematik des HKiEntÜ ausreichend sei, wenn G. in der Vergangenheit sein Sorgerecht dadurch wahrgenommen habe, dass er gelegentlich Umgang mit N. gehabt habe. Das Gericht stellte fest, dass G. Umgang gehabt habe, obwohl der Umfang des Umgangs zwischen den Beteiligten im Einzelnen streitig sei. Das Oberlandesgericht Celle entschied, Artikel 13 Abs. 1 Buchst. b HKiEntÜ nicht anzuwenden, nach dem die Gerichte von der Wegnahmeanordnung absehen können, wenn die begründete Gefahr besteht, dass das Kind einen körperlichen und seelischen Schaden erleidet. Diese Bestimmung sei aufgrund der Widerrechtlichkeit des Verbringens von N. restriktiv auszulegen. Die Gefahr eines körperlichen und seelischen Schadens für N. könne jedenfalls dadurch vermieden werden, dass die Beschwerdeführerin mit dem Kind in die Vereinigten Staaten zurückkehre. Das Oberlandesgericht Celle hatte G. daher angewiesen, für die Dauer des anhängigen Sorgerechtsverfahrens vier Monate Unterhalt und für zwei Monate die Miete einer Wohnung für die Beschwerdeführerin und N. zu zahlen. Soweit die Beschwerdeführerin befürchte, bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten wegen Kindesentführung festgenommen zu werden, reichten diese Befürchtungen allein für die Anwendung von Artikel 13 Abs. 1 Buchst. b HKiEntÜ nicht aus, es sei denn N. würde für die Dauer der Haft der Beschwerdeführerin allein gelassen. Obwohl das Oberlandesgericht Celle im Nachgang zu der von G. gegen die Beschwerdeführerin erstatteten Strafanzeige zunächst auf diese Gefahr hingewiesen hatte, bestehe diese Gefahr nicht mehr. Das Oberlandesgericht Celle stellte fest, dass verschiedene staatliche Stellen in den Vereinigten Staaten zugesichert hatten, dass die Beschwerdeführerin nicht von Strafverfolgung bedroht sei. Das Oberlandesgericht Celle merkte darüber hinaus an, dass G. seine Strafanzeige gegen die Beschwerdeführerin inzwischen zurückgezogen habe. Schließlich sah das Oberlandesgericht Celle keine Anhaltspunkte dafür, dass das Bezirksgericht San Juan bei der Entscheidung über das Sorgerecht im Hauptverfahren das Wohl von N. nicht berücksichtigen würde.
3. Weitere Verfahren
Am 10. August 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin sowie die von der Verfahrenspflegerin des Kindes in dessen Namen erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Am 22. September 2006 wies das Oberlandesgericht Celle einen Antrag des
Ehemanns der Beschwerdeführerin zurück und ordnete an, N. bis zum 31. Oktober 2006 in die Vereinigten Staaten zurückzuführen.
B. Einschlägige Bestimmungen des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung
Artikel 1
„Ziel dieses Übereinkommens ist es,
a) die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und
b) zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird.“
Artikel 2
„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um in ihrem Hoheitsgebiet die Ziele des Übereinkommens zu verwirklichen. Zu diesem Zweck wenden sie ihre schnellstmöglichen Verfahren an.“
Artikel 3
„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn
a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“
Artikel 5
„Im Sinn dieses Übereinkommens umfasst
a) das ‚Sorgerecht’ die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen;
b) das ‚Recht zum persönlichen Umgang’ das Recht, das Kind für eine begrenzte Zeit an einen anderen Ort als seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu bringen.“
Artikel 12
„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.
Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.
Hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates Grund zu der Annahme, dass das Kind in einen anderen Staat verbracht worden ist, so kann das Verfahren ausgesetzt oder der Antrag auf Rückgabe des Kindes abgelehnt werden.“
Artikel 13
„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
a) dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder
b) dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.
Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.“
Artikel 15
„Bevor die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines Vertragsstaats die Rückgabe des Kindes anordnen, können sie vom Antragsteller die Vorlage einer Entscheidung oder sonstigen Bescheinigung der Behörden des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes verlangen, aus der hervorgeht, dass das Verbringen oder Zurückhalten widerrechtlich im Sinn des Artikels 3 war, sofern in dem betreffenden Staat eine derartige Entscheidung oder Bescheinigung erwirkt werden kann. ...”
Artikel 20
„Die Rückgabe des Kindes nach Artikel 12 kann abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist.“
RÜGE
Die Beschwerdeführerin rügte nach Artikel 8 der Konvention die Anordnung des Oberlandesgerichts Celle vom 27. Januar 2006, N. nach Neu-Mexiko zurückzuführen, oder sie andernfalls herauszugeben, um ihre sofortige Rückgabe sicherzustellen.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Anordnung des Oberlandesgerichts Celle vom 27. Februar 2006, N. nach Neu-Mexiko zurückzuführen, sie in ihrem Recht auf Achtung ihres Familienlebens verletzt habe. Artikel 8, soweit maßgeblich, lautet:
“1. „(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres ... Familienlebens...
2. (2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist ... zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
Die Beschwerdeführerin trug vor, dass die Befolgung der Anordnung ihr unwiderruflich die Möglichkeit verwehren würde, das Kind zu behalten und das Sorgerecht zu erlangen. Da die US-Gerichte sie nunmehr als „Entführerin” ansehen würden, dürfte ihr das Sorgerecht im Hauptverfahren nicht zugesprochen werden. Sie trug überdies vor, dass das HKiEntÜ von dem Oberlandesgericht Celle falsch angewandt worden sei. Die Anordnung sei rechtswidrig, weil G. nie das Sorgerecht gehabt habe. Deshalb sei das HKÜ nicht anwendbar und durch die Rückführung von N. in die Vereinigten Staaten kein „Status quo“ wieder herzustellen. Jedenfalls habe sie nie die Absicht gehabt, N. rechtswidrig aus den Vereinigten Staaten zu verbringen, sondern habe irrtümlicherweise auf eine wie in Deutschland bestehende Rechtslage vertraut. Die Beschwerdeführerin trug überdies vor, dass das Oberlandesgericht Celle das Wohl von N. nicht hinreichend berücksichtigt habe. Die Herausnahme eines zweieinhalbjährigen Kindes aus seiner Familie sei jedenfalls unverhältnismäßig, zumal N. mit ihr und ihrem Ehemann, der möglicherweise der Kindesvater sein könnte, zwei Jahre als Familie zusammengelebt habe. Die Rückgabeanordnung sei auch unverhältnismäßig, weil G. nicht bereit gewesen sei, einen Vergleich zu schließen, mit dem ihm das Umgangsrecht für N. eingeräumt worden wäre. Die Beschwerdeführerin befürchtet, nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten wegen Kindesentführung festgenommen zu werden. Sie hält die entsprechenden Zusicherungen der US-Behörden für zu vage, weil sie nur allgemeine Rechtsauskünfte enthielten und auf ihren Fall nicht konkret Bezug nähmen. Da ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung geltend gemacht werden könnte, sei es unerheblich, ob G. die Strafanzeige gegen sie zurückgenommen hatte. Die Beschwerdeführerin befürchtet, in den Vereinigten Staaten für ihren und den Lebensunteralt von N. nicht aufkommen zu können, weil sie keine Arbeitserlaubnis mehr habe.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt und innerstaatliche Maßnahmen, die die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht bedeuten (siehe u. a. Rechtssachen McMichael ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 24. Februar 1995, Serie A, Bd. 307-B, S. 55, Rdnr. 86; Johansen ./. Norwegen, Urteil vom 7. August 1996, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-III, S. 1001, Rdnr. 52; und Bronda ./. Italien, Urteil vom 9. Juni 1998, Berichte 1998-IV, Rdnr. 51). Der Gerichtshof stellt fest, dass die Entscheidungen über die Rückführung von N. in die Vereinigten Staaten nicht zwangsläufig mit einer Trennung des Kindes von der Beschwerdeführerin verbunden wären, wenn diese mit N. in die Vereinigten Staaten zurückkehren würde. In diesem Fall müsste die Beschwerdeführerin Deutschland und ihren Ehemann jedoch zumindest vorübergehend verlassen. Die Anordnung der Rückgabe von N. greift deshalb in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Familienlebens im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention ein.
Ein derartiger Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Artikel 8 Absatz 2 legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden (siehe Rechtssache Bronda, a. a. O., Rdnr. 52).
Im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des Eingriffs erinnert der Gerichtshof daran, dass die angegriffene Maßnahme auf dem HKiEntÜ gründete. Dieses Übereinkommen, das als Bundesgesetz verabschiedet wurde, ist in Deutschland auf innerstaatlicher Ebene rechtlich anwendbar. Im Hinblick auf das Ziel des HKiEntÜ merkt der Gerichtshof an, dass die Unterzeichnerstaaten in der Präambel ihrer festen Überzeugung Ausdruck verleihen, „dass das Wohl des Kindes in allen Angelegenheiten des Sorgerechts von vorrangiger Bedeutung ist“. Sie bringen auch ihren Wunsch zum Ausdruck, „das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und den Schutz des Rechts zum persönlichen Umgang mit dem Kind zu gewährleisten“. Durch Anwendung der Regelungen des HKiEntÜ entschied das Oberlandesgericht Celle demnach im Interesse des seines Erachtens bestehenden Kindeswohls. Mit dem Eingriff wurde ein rechtmäßiges Ziel nach Artikel 8 Abs. 2 verfolgt, nämlich der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (siehe entsprechend Rechtssache Paradis ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 4783/03), der grundsätzlich „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ und angemessen ist.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen der Eltern herbeigeführt werden muss (siehe z. B. Rechtssachen Olsson ./. Schweden (Nr. 2), Urteil vom 27. November 1992, Serie A, Bd. 250, S. 35-36, Rdnr. 90, and E.P. ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 31127/96, 16. November 1999, Rdnr. 62) und insoweit dem Wohl des Kindes, das je nach seiner Art und Bedeutung den Interessen eines Elternteils vorgehen kann, besonderes Gewicht beizumessen ist. Insbesondere dürfen keine Maßnahmen getroffen werden, die der Gesundheit und Entwicklung des Kindes schaden würden (siehe Rechtssache Johansen, a. a. O., S. 1008, Rdnr. 78, siehe auch Rechtssachen Ignaccolo-Zenide, a. a. O., Rdnr. 94; Nuutinen ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 32842/96, Rdnr. 128, EuGHMR 2000-II).
Der Gerichtshof weist auch darauf hin, dass er die maßgeblichen Normen des Volkerrechts berücksichtigen muss, die insbesondere den internationalen Menschenrechtsschutz betreffen (siehe Rechtssachen Iglesias Gil ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 56673/00, Rdnr. 51, 29. April 2003; sinngemäß Streletz, Kessler and Krenz ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerden Nrn. 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Rdnr. 90, EuGHMR 2001-II ; Al-Adsani ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 35763/97, Rdnr. 55, EuGHMR 2001-XI). Bei der Zusammenführung eines Elternteils mit seinen Kindern ist Artikel 8 im Lichte des HKiEntÜ auszulegen, und dies um so mehr, wenn der beklagte Staat dieser Übereinkunft beigetreten ist (siehe Rechtssachen Iglesias Gil, a. a. O., Rdnr. 51, Ignaccolo-Zenide ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 31679/96, Rdnr. 95, EuGHMR 2000-I).
Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass die deutschen Gerichte zu der Frage, ob das Verbringen von N. aus dem US-Hoheitsgebiet durch die Beschwerdeführerin im September 2004 nach dem HKiEntÜ widerrechtlich war, unterschiedliche Auffassungen vertraten.
Das Amtsgericht Celle befand im ersten Rechtszug, dass das Sorgerecht von G. ungeachtet der von dem Bezirksgericht San Juan im April 2005 ausgestellten Widerrechtlichkeitsbescheinigung nicht verletzt worden sei; denn selbst wenn ein Sorgerecht unterstellt werde, habe er es gleichwohl nicht ausgeübt.
Auf Berufung ordnete das Oberlandesgericht Celle jedoch die Rückgabe von N. an, weil es der Auffassung war, dass die Beschwerdeführerin bei ihrer Rückkehr nach Deutschland das Sorgerecht von G. verletzt habe, da das Bezirksgericht San Juan die Widerrechtlichkeitsbescheinigung am 22. April 2005 ausgestellt hatte. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieses Verbringen das Sorgerecht von G. verletzt habe. Das Oberlandesgericht Celle führte aus, dass es im Sinne des HKiEntÜ ausreichend sei, wenn G. gelegentlich Umgang mit N. gehabt hat, weil es der Auffassung war, dass nach dem HKiEntÜ eine Rechtsvermutung für die Ausübung des Sorgerechts spreche und die Beschwerdeführerin diese Vermutung nicht widerlegt habe. Das Oberlandesgericht Celle war der Auffassung, dass die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen und seelischen Schadens für das Kind nicht bestehe, weil diese abgewendet werden könne, wenn die Beschwerdeführerin mit N. in die Vereinigten Staaten zurückkehre. Das Oberlandesgericht Celle hatte G. angewiesen, für die Dauer des anhängigen Sorgerechtsverfahrens vier Monate Unterhalt und für zwei Monate die Miete einer Wohnung für die Beschwerdeführerin und N. zu zahlen. Soweit die Beschwerdeführerin befürchtete, bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten wegen Kindesentführung festgenommen zu werden, wurden derartige Befürchtungen mit Blick auf die Zusicherungen der US-Behörden und die Rücknahme der Strafanzeige von G. als unbegründet angesehen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht Celle ermächtigt war, sich auf die Widerrechtlichkeitsbescheinigung des Bezirksgerichts San Juan zu stützen, weil Gerichte sich nach dem HKiEntÜ auf ausländische Entscheidungen berufen dürfen (siehe entsprechend Rechtssachen Eskinazi und Chellouche./. Turkei, (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 14600/05, und Paradis, a. a. O.). Im Hinblick auf die Rügen der Beschwerdeführerin, dass die Rückgabe zur einer Trennung von Mutter und Kind führen könnte, teilt der Gerichtshof die Auffassung, dass bei der Rückführung von N. in die Vereinigten Staaten eine gewisse Trennungsgefahr besteht (siehe entsprechend Rechtssache Paradis, a. a. O.). Unter Berücksichtigung des Ziels des HKiEntÜ, das Kind vor widerrechtlichem Verbringen aus dem Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts zu schützen, stellt der Gerichtshof gleichwohl fest, dass die Verwirklichung des Ziels des Übereinkommens für den Elternteil und das Kind naturgemäß Härten mit sich bringt. Das Oberlandesgericht Celle hat jedoch mögliche Härten berücksichtigt, als es entschied, dass G. Unterhalt zu zahlen und eine Wohnung für die Beschwerdeführerin und N. zu mieten habe. Der Gerichtshof ist auch der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin in Neu Mexiko Rechtsmittel ergreifen kann, um die Verteidigung ihrer Interessen und die ihres Kindes zu gewährleisten. Er stellt fest, dass die Entscheidung, N. aufgrund des HKiEntÜ in die Vereinigten Staaten zurückzuführen, der Entscheidung über die Übertragung des alleinigen Sorgerechts nicht vorgreift und diese auch nicht berührt. Das Argument, es bestehe die Gefahr, dass die US-Gerichte in dem anhängigen Sorgerechtsverfahren gegen die Beschwerdeführerin entscheiden, kann nicht dazu verwendet werden, den grundlegenden Ansatz des HKiEntÜ zu untergraben.
Dem Oberlandesgericht Celle war bewusst, dass die Beschwerdeführerin sich mit ihrem Ehemann versöhnt hatte und wieder mit ihm zusammenlebte und ihr nach deutschem Recht das alleinige Sorgerecht für N. zugesprochen worden wäre, und es berücksichtigte dies auch. Der Gerichtshof stellt jedoch insoweit fest, dass die Rechtslage in Deutschland für die Beurteilung der Frage, ob N. widerrechtlich aus dem Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten verbracht worden war, nicht entscheidend ist. Überdies merkt der Gerichtshof an, dass das HKiEntÜ zwischen fahrlässigem und vorsätzlichem Verbringen eines Kindes nicht unterscheidet.
Im Hinblick auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle, den zuständigen Gerichtsvollzieher zu ermächtigen, gegen das Kind Zwang anzuwenden, um die Durchführung seines Beschlusses vom 27. Februar 2006 zu gewährleisten, merkt der Gerichtshof an, dass Zwangsmaßnahmen gegen das Kind in derart kritischen Fällen zwar nicht wünschenswert sind, die Verhängung von Sanktionen bei rechtswidrigem Verhalten des Elternteils, mit dem das Kind zusammenlebt, aber nicht ausgeschlossen werden darf (siehe Rechtssache Ignaccolo-Zenide, a. a. O., Rdnr. 106.).
Unter Berücksichtigung aller Umstände kann der Gerichtshof nicht feststellen, dass die Würdigung des Oberlandesgerichts Celle willkürlich war oder das Gericht das Kindeswohl nicht angemessen berücksichtigte. Die Begründung des Oberlandesgerichts Celle war im Sinne des Artikels 8 Abs. 2 nicht nur zutreffend, sondern auch hinreichend. Im Hinblick auf den Ermessensspielraum der nationalen Gerichte in dieser Angelegenheit war der gerügte Eingriff in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel insbesondere nicht unverhältnismäßig. Die im gesamten Verfahren vor den deutschen Gerichten anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin war in den Entscheidungsfindungsprozess hinreichend eingebunden. Im Ergebnis ist festzustellen, dass sich aus der Anordnung des Oberlandesgerichts, die Tochter der Beschwerdeführerin ggf. unter Anwendung von Zwang in die Vereinigten Staaten zurückzuführen, keine Verletzung des Artikels 8 der Konvention ergibt.
Daraus folgt, dass die Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 der Konvention offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Mit Stimmenmehrheit erklärt der Gerichtshof daher
die Beschwerde für unzulässig.
Claudia Westerdiek
Peer Lorenzen
Kanzlerin
Präsident
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[editiert: 22.05.10, 11:24 von Ingrid]