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Übersetzung aus einer Österreichischen HP - die Österreichischen Begriffe wurden von mir (evtl. noch nicht vollständig) in BRD-Deutsch übersetzt:
NL 2007, S. 188 (NL 07/4/05)
Nanning gg. Deutschland
Urteil vom 12.7.2007
Kammer V
Bsw. Nr. 39.741/02
Unverhältnismäßige Dauer eines Sorgerechtsverfahrens
Art. 6 EMRK
Art. 8 EMRK
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist die Mutter von E., die am 16.7.1984 geboren wurde. Der mit der Beschwerdeführerin verheiratete Vater von E. verstarb 1986. Im Jahr 1987 schloss die Beschwerdeführerin Bekanntschaft mit R., seiner Frau G. und deren vier Kindern. Die Beschwerdeführerin begann daraufhin eine Liebesbeziehung mit R., welche von seiner Frau geduldet wurde. In dieser Zeit kümmerten sich R. und G. regelmäßig um E.
Im November 1989 zog die Beschwerdeführerin mit R. nach Duisburg, während ihre Tochter E. bei G. und deren Kindern in Dresden blieb. Zwei Jahre später zogen R. und G. mit ihren Kindern und E. in ein Haus in Ratingen, die Beschwerdeführerin blieb in Duisburg. 1991 traf die Beschwerdeführerin mit R. und G. eine Vereinbarung das Sorgerecht von E. betreffend. Gemäß der Vereinbarung sollte E., wie schon in den letzten drei Jahren, weiterhin bei R. und G. leben. Da sich in weiterer Folge die Beziehung zwischen der Beschwerdeführerin auf der einen und R. und G. auf der anderen Seite verschlechterte, führten die Besuche der Beschwerdeführerin bei ihrer Tochter zu Konflikten.
Im November 1991 begehrte die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Ratingen die Anordnung der Rückgabe ihrer Tochter durch R. und G.
Am 11.5.1994 traf das Amtsgericht Ratingen gemäß § 1632 Abs. 4 BGB eine Verbleibensanordnung, der zufolge E. in der Pflegefamilie verbleiben und zusätzlich eine psychologische Behandlung in Anspruch nehmen sollte.
Am 22.8.1994 wies das Landgericht Düsseldorf die Berufung der Beschwerdeführerin ab, weil das Gericht eine Gefährdung sah, sollte E. ihre Pflegefamilie verlassen müssen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte diese Entscheidung. Eine dagegen erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin wurde vom BVerfG am 2.6.1999 nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Sache inzwischen wieder vor dem Amtsgericht anhängig war.
Die Beschwerdeführerin hatte nämlich im Mai 1997 beim Amtsgericht Ratingen abermals die Anordnung der Rückgabe ihrer Tochter durch R. und G. beantragt. Das Gericht wies den Antrag zurück und übertrug darüber hinaus gemäß § 1666 BGB das Sorgerecht teilweise an das Jugendamt Ratingen.
Das Landgericht Düsseldorf bestätigte diese Entscheidung am 19.5.2001. Auch ein weiteres Rechtsmittel an das Oberlandesgericht Düsseldorf blieb erfolglos. Das Oberlandesgericht stellte in seiner Rechtsmittelentscheidung vom 12.2.2002 fest, dass das Verfahren vor dem Landgericht unverhältnismäßig lange gedauert hätte, was insbesondere in Verfahren über das Wohl eines Kindes inakzeptabel sei.
Die Verfahrensdauer sei jedoch auf zahlreiche Anträge und Eingaben der Parteien zurückzuführen. In der Sache erachtete das Oberlandesgericht die Entscheidung, dass E. bei ihren Pflegeeltern bleiben solle, als rechtmäßig nach § 1632 Abs. 4 BGB, da eine Entfernung aus der gewohnten Umgebung das Kindeswohl gefährden würde.
Dabei berücksichtigte das Gericht die seit der Entscheidung des Amtsgerichts verstrichene Zeit und die Tatsache, dass E. in fünf Monaten die Volljährigkeit erreichen würde. Angesichts ihres Alters und ihrer beharrlichen Weigerung, ihre leibliche Mutter zu treffen, bestand nach Ansicht des Oberlandesgerichts kein Anlass für eine Regelung des Besuchsrechts.
Das BVerfG nahm die gegen diese Entscheidung erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin am 9.7.2002 nicht zur Entscheidung an.
Am 30.10.2002 stimmte das Amtsgericht Ratingen der Adoption von E. durch R. und G. zu.
Rechtsausführungen:
Die Beschwerdeführerin behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer), Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Die Beschwerdeführerin behauptet, das zweite Verfahren, insbesondere vor dem Landgericht Düsseldorf, habe unverhältnismäßig lange gedauert und sei außerdem nicht fair gewesen.
1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Was die Beschwerde über die Verfahrensdauer betrifft, wendet die Regierung ein, die Beschwerdeführerin habe keine einstweilige Anordnung beantragt und daher nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft. Nach Ansicht des Gerichtshof betrifft die Frage, ob die Beschwerdeführerin das Verfahren hätte beschleunigen können, nicht die Erschöpfung der Rechtsbehelfe, sondern die Frage, ob sie zur Verfahrensdauer beigetragen hat. Der Gerichtshof ist jedenfalls nicht überzeugt, dass die Beantragung einer einstweiligen Anordnung zur Beschleunigung des Hauptverfahrens geeignet gewesen wäre.
Da die Beschwerde, soweit sie sich auf die Verfahrensdauer bezieht, weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Was das übrige Vorbringen der Beschwerdeführerin betrifft, das Verfahren sei unfair gewesen, stellt der Gerichtshof fest, dass angesichts seiner Feststellungen unter Art. 8 EMRK eine gesonderte Erörterung nicht erforderlich ist. Die Beschwerde wird daher nach Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen (einstimmig).
2. Zur Entscheidung in der Sache:
Der Zeitraum, den der Gerichtshof bei seiner Beurteilung berücksichtigen muss, erstreckt sich von 24.5.1997 bis 20.7.2002, wobei insbesondere das Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf bis zur Abweisung der Berufung vier Jahre dauerte.
Der Gerichtshof hält fest, dass bei der Beurteilung der Dauer des Verfahrens folgende Kriterien einfließen müssen: die Komplexität des Falles, das Verhalten der Beschwerdeführerin und der Behörden sowie die Bedeutung des Gegenstands des Verfahrens für die Beschwerdeführerin Vor allem bei familienrechtlichen Streitigkeiten spricht sich der Gerichtshof in Anbetracht der Konsequenzen, die eine unverhältnismäßige Verfahrensdauer für das Familienleben haben kann, für größte Sorgfaltnahme aus.
Im vorliegenden Fall misst der Gerichtshof dem Gegenstand des Verfahrens besondere Bedeutung zu. Die Beschwerdeführerin beantragte die Rückgabe ihrer Tochter bzw. die Einräumung eines Besuchsrechts. In Situationen, in denen ein Elternteil von seinem jungen Kind getrennt ist, wird die Möglichkeit ihrer neuerlichen Vereinigung gemindert und schließlich zerstört, wenn es ihnen nicht erlaubt wird, sich zu treffen.
In solchen Fällen sind die Behörden zu besonderer Sorgfalt verpflichtet, weil stets die Gefahr besteht, dass Verfahrensverzögerungen de facto zu einer Entscheidung der Sache führen. Dies scheint im vorliegenden Fall besonders zutreffend zu sein, da das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 12.2.2002 die während des Verfahrens verstrichene Zeit ausdrücklich berücksichtigte.
Der Fall muss angesichts der durch die früheren persönlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten geschaffenenen Situation, die zu einer angespannten Stimmung zwischen den Parteien führte, als besonders komplex betrachtet werden. Das Landgericht Düsseldorf hatte jedoch wegen des ebenfalls vor diesem Gericht geführten ersten Verfahren bereits gewisse Kenntnisse über die faktische Lage. Das Verfahren wurde außerdem durch zahlreiche Anträge und Beschwerden der Parteien sowie die ablehnende Haltung der Pflegeeltern gegenüber dem Gericht und dem Gutachter verkompliziert.
Was das Verhalten der Beschwerdeführerin betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass dieses keinen besonderen Einfluss auf die Dauer des Verfahrens hatte.
Vor dem Amtsgericht Ratingen, dem Oberlandesgericht Düsseldorf und dem BVerfG wurde das Verfahren zügig geführt. Vor dem Landgericht Düsseldorf war der Fall vier Jahre lang anhängig. Dem Landgericht, das bereits 1994 an dem ersten Verfahren beteiligt war, muss von Anfang an bewusst gewesen sein, dass die Sache komplex war und aufgrund der Feindseligkeit zwischen den Parteien Probleme wahrscheinlich waren. Dieses Wissen und die besondere Bedeutung des Faktors Zeit im Sorgerechtsverfahren hätten das Landgericht Düsseldorf dazu veranlassen müssen, besondere Maßnahmen zu treffen, um unnötige Verzögerungen zu vermeiden. Aus diesen Gründen liegt eine Verletzung von Art. 6 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Entscheidung der Gerichte im zweiten Verfahren ihr Recht auf Achtung des Familienlebens beeinträchtigte.
1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Die Regierung wendet ein, dass die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft habe, da sie nicht um eine einstweilige Anordnung angesucht habe, um eine Entfremdung von ihrer Tochter zu verhindern.
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin hätte ein solches Ansuchen jedoch wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, da die nationalen Gerichte ihre Bemühungen diesbezüglich zu verhindern versuchten.
Der Gerichtshof führt aus, dass Rechtsmittel erschöpft werden müssen, die zugänglich und ausreichend sind, um die behaupteten Verletzungen effektiv zu beseitigen.
In Anbetracht des Verfahrens zweifelt der Gerichtshof allerdings daran, dass eine einstweilige Anordnung, wie sie etwa von der Beschwerdeführerin beantragt hätte werden können, durch die Gerichte erlassen worden wäre. Da ein Antrag auf eine einstweilige Anordnung daher im vorliegenden Fall nicht als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden kann, hat die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Instanzenzug erschöpft. Da die Beschwerde auch weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2. Zur Entscheidung in der Sache:
Es ist unbestritten, dass die Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie, die Einschränkung des Sorgerechts der Beschwerdeführerin und der Ausschluss eines Besuchsrechts einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Familienlebens darstellt.
Jeder solcher Eingriff begründet eine Verletzung von Art. 8 EMRK, es sei denn er ist gesetzlich vorgesehen, verfolgt ein legitimes Ziel und kann als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft erachtet werden.
Die umstrittenen Entscheidungen beruhten auf einer gesetzlichen Grundlage und zielten auf den Schutz des Kindeswohls, das eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten legitimen Ziele darstellt. Es bleibt daher zu prüfen, ob die Entscheidungen als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden können.
Was die Übertragung des Sorgerechtes und den Verbleib von E. in der Pflegefamilie betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass es eine Vereinbarung zwischen der Beschwerdeführerin und der Pflegefamilie gab. Als 1997 das Gericht abermals von der Beschwerdeführerin angerufen wurde, lebte ihre Tochter bereits seit acht Jahren in der Pflegefamilie. Die Entscheidungen der nationalen Gerichte wurden deshalb von der Idee getragen, dass das Ausscheiden des Kindes aus der Pflegefamilie angesichts der langen Zeit, die es dort verlebt hatte und des wiederholt geäußerten Wunsches, bei den Pflegeeltern zu bleiben, das Kindeswohl gefährden würde. Diese Einschätzung der Gerichte entsprach auch der Aussage des psychologischen Sachverständigen.
Aus diesen Gründen erachtet der Gerichtshof die Entscheidungen der nationalen Gerichte als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft und stellt keine Verletzung von Art. 8 EMRK fest (einstimmig).
Was die Verweigerung des Besuchsrechts der Beschwerdeführerin betrifft, hält der Gerichtshof fest, dass das Landgericht Düsseldorf von der Annahme ausging, dass E. die Besuche der Mutter irritieren würden. Da der psychologische Sachverständige dagegen Kontakt mit der Mutter empfahl, ist es für den Gerichtshof nicht nachvollziehbar, wieso der Beschwerdeführerin für die bis zur Volljährigkeit ihrer Tochter verbleibenden 14 Monate der Zugang zu dieser verweigert wurde. Durch die Verfahrensführung der Gerichte wurde die Situation, die schließlich zur Adoption des Kindes durch die Pflegeeltern führte, weiter verfestigt. Es liegt deshalb eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK:
Da der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt hat, erachtet er eine gesonderte Prüfung von Art. 2 1. Prot. EMRK als nicht erforderlich und weist diesen Teil der Beschwerde gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurück (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK:
Die Beschwerdeführerin führt aus, dass das Verfahren vor den nationalen Gerichten willkürlich war und die Pflegefamilie bevorzugt behandelt worden wäre.
Der Gerichtshof teilt die Meinung der Beschwerdeführerin, vor den nationalen Gerichten gegenüber der Pflegefamilie diskriminiert worden zu sein, nicht. Da dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist, wird er gemäß Art. 35 Abs. 3 iVm. Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 8.000,– für immateriellen Schaden, € 397,35 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom Gerichtshof zitierte Judikatur:
Dalia/F v. 19.2.1998, NL 1998, 57; ÖJZ 1998, 937.
Elsholz/D v. 13.7.2000, NL 2000, 143; EuGRZ 2001, 595; ÖJZ 2002, 71.
Sommerfeld/D v. 8.7.2003 (GK), NL 2003, 196; EuGRZ 2004, 711.
Haase/D v. 8.4.2004, NL 2004, 82; EuGRZ 2004, 715.
Pohn
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format).
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