Beitrag 19 von 28 (68%) | Anfang zurück weiter Ende |
|
NL 03/2/08
36812/97 und 40104/98
SYLVESTER gegen Österreich
Urteil vom 24. April 2003, Kammer I
Fehlende Vollstreckung der angeordneten Rückgabe
eines von seiner Mutter entführten Kindes
§ 19 AußStrG
Art. 6 EMRK
Art. 8 EMRK
Sachverhalt:
Der ErstBf., ein Staatangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika, heiratete 1994 eine Österreicherin in den Vereinigten Staaten, wo am 11.9.1994 die ZweitBf. als gemeinsame Tochter geboren wurde. Nach dem Recht des Staates Michigan, wo die Familie ihren letzten gemeinsamen Wohnsitz hatte, kam beiden Elternteilen die gemeinsame Obsorge zu.
Am 30.10.1995 verließ die Mutter der ZweitBf. die USA und brachte ihre Tochter ohne Zustimmung des ErstBf. nach Österreich. Am folgenden Tag beantragte der ErstBf. bei den österreichischen Gerichten, die Rückgabe seiner Tochter anzuordnen. Mit Beschluss vom 20.12.1995 trug das BG für Zivilrechtssachen Graz der Mutter auf, das Kind unverzüglich dem Vater zu übergeben. Das BG begründete seine Entscheidung damit, dass die ZweitBf. von ihrer Mutter widerrechtlich iSv. Art. 3 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung [1] (BGBl. 1988/512) nach Österreich gebracht worden wäre. Der Umstand, dass die Mutter bisher die Hauptbezugsperson des Kindes war und eine Trennung von dieser massive traumatische Folgen für die gesunde Entwicklung des Kindes bedeuten könnte, stehe der Rückgabe nicht entgegen, weil sonst entgegen dem Sinn des Übereinkommens die meisten Mütter mit Kleinkindern unter Berufung auf das Kindeswohl das Land des gewöhnlichen Aufenthaltes der Familie verlassen könnten, ohne dass der Vater eine Rückführung erreichen könnte. Was den von der Mutter erhobenen Vorwurf der zwanghaften Onanie des Vaters auch in Gegenwart des Kindes und die Behauptung eines dadurch drohenden psychischen Schadens für das Kind angehe, so sei einem Gutachten zufolge in Anbetracht des Alters des Kindes ein Schaden für dieses nicht zu befürchten.
Das von der Mutter der ZweitBf. angerufene Rekursgericht bestätigte die Entscheidung mit Beschluss vom 19.1.1996. Der Revisionsrekurs wurde am 27.2.1996 vom OGH mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückgewiesen.
Am 8.5.1996 ordnete das BG für Zivilrechtssachen Graz gemäß § 19 (1) AußStrG die zwangsweise Durchsetzung seines Beschlusses vom 20.12.1995 an. Der am 10.5.1996 erfolgte Vollstreckungsversuch blieb erfolglos. Am 15.5.1996 erhob die Mutter der ZweitBf. Rekurs gegen die Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung und beantragte die Zuerkennung der alleinigen Obsorge. Am 29.8.1996 wurde dem Rekurs vom LG für Zivilrechtssachen Graz stattgegeben und die Sache an das BG für Zivilrechtssachen Graz zurückverwiesen. Bei Vollzugsmaßnahmen gemäß § 19 AußStrG müsse auf das Kindeswohl Bedacht genommen werden, wenn seit der Anordnung der Rückführung eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. Die Mutter habe insb. darauf hingewiesen, dass sie die Hauptbezugsperson ihrer Tochter wäre. Aufgrund der inzwischen verstrichenen Zeit würde diese ihren Vater auf einem Foto nicht mehr erkennen. Durch eine Trennung von ihrer Mutter würde sie nicht wieder gutzumachende Schäden erleiden. Das Rekursgericht trug dem BG für Zivilrechtssachen Graz daher auf, es möge überprüfen, inwieweit sich die Situation seit der Verfügung vom 20.12.1995 geändert habe.
Am 15.10.1996 wies der OGH den Rekurs des ErstBf. ab und hob die Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung vom 8.5.1996 auf. Der OGH begründete seine Entscheidung damit, dass das Kindeswohl im gesamten Verfahren von zentraler Bedeutung wäre. Daher müssten auch bei der Anordnung von Zwangsmaßnahmen gemäß § 19 AußStrG die Interessen des Kindeswohls berücksichtigt werden. Besondere Schwierigkeiten würden sich in Fällen ergeben, in denen der Entführer des Kindes eine Situation herbeigeführt hat, in denen eine Rückkehr des Kindes dessen Wohlergehen gefährden würde. Art. 13 (b) des Haager Übereinkommens zeige jedoch, dass das Wohlergehen des Kindes vor dem generellen Ziel des Übereinkommens, Entführungen zu verhindern, Vorrang habe. Im vorliegenden Fall wurde eine Gefährdung des Kindes durch das sexuelle Verhalten des Vaters ausschließlich aufgrund seines geringen Alters verneint. Unter diesen Umständen könne nicht ausgeschlossen werden, dass das inzwischen über zwei Jahre alte, seit mehr als einem Jahr bei der Mutter lebende Kind im Falle einer Rückkehr zu seinem Vater einer schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens ausgesetzt wäre. Die Frage, ob die Anordnung der Rückgabe zwangsweise durchgesetzt werden könnte, bedürfe daher einer weiteren Klärung. Die Sache wurde daher an das BG für Zivilrechtssachen Graz zurückverwiesen.
Ein neuerlicher Antrag des ErstBf. auf Durchsetzung der Anordnung der Rückgabe der ZweitBf. wurde vom BG für Zivilrechtssachen Graz am 29.4.1997 abgewiesen. Aufgrund der langen Zeitspanne, die seit diesem Beschluss vergangen war, und der völligen Entfremdung des Kindes von seinem Vater würde es im Falle einer Trennung von der Mutter schwere psychische Nachteile erleiden. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel des ErstBf. blieben erfolglos. Am 29.12.1997 übertrug das BG für Zivilrechtssachen Graz der Mutter die alleinige Obsorge.
Rechtsausführungen:
q Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).
q Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Die Bf. bringen vor, der OGH habe in seiner Entscheidung vom 15.10.1996 im Vollstreckungsverfahren eine Neubewertung von Fragen angeordnet, die bereits Gegenstand der rechtskräftigen Anordnung der Rückgabe der ZweitBf. an ihren Vater, den ErstBf., gewesen waren. Diese Neubewertung habe schließlich die Vollstreckung der Rückgabeanordnung verhindert.
Der vorliegende Fall betrifft die fehlende Vollstreckung einer rechtskräftigen Anordnung der Rückgabe eines Kindes iSd. Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung. Die aus Art. 8 EMRK erwachsenden positiven Verpflichtungen des Staates, einen Elternteil mit seinem Kind zusammen zu führen, müssen im Lichte dieses Übereinkommens interpretiert werden.
Art. 8 EMRK umfasst ein Recht eines Elternteils darauf, dass Maßnahmen zum Zweck seiner Wiedervereinigung mit seinem Kind ergriffen werden und eine Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden, diese Maßnahmen zu setzen. Der GH hat in Fällen, die die Durchsetzung von gerichtlichen Entscheidungen auf dem Gebiet des Familienrechts betrafen, wiederholt festgestellt, dass entscheidend ist, ob die Behörden alle notwendigen Schritte zur Erleichterung der Vollstreckung gesetzt haben, die unter den besonderen Umständen des Falles erwartet werden können. Die Beurteilung der Frage, ob die fehlende Vollstreckung einer gerichtlichen Anordnung eine Verletzung von Art. 8 EMRK begründet, erfordert eine faire Abwägung der Interessen aller betroffenen Personen und des allgemeinen Interesses an der Sicherung der Beachtung der Gesetze.
In Fällen wie dem vorliegenden muss die Zulänglichkeit einer Maßnahme anhand der Raschheit ihrer Umsetzung beurteilt werden, da das Verstreichen einer längeren Zeitspanne unheilbare Auswirkungen auf die Beziehung zwischen dem Elternteil und seinem getrennt von ihm lebenden Kind haben kann.
Der GH anerkennt, dass eine Änderung der ausschlaggebenden Umstände ausnahmsweise das Absehen von der Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeanordnung rechtfertigen kann. Diese Änderung der Umstände darf jedoch nicht durch das Versäumnis der innerstaatlichen Behörden, alle vernünftigerweise zu erwartenden Maßnahmen zur Erleichterung der Vollstreckung zu ergreifen, bewirkt worden sein.
Die Entscheidungen vom 29.8. und 15.10.1996 beruhten in erster Linie auf der inzwischen verstrichenen Zeit und der daraus resultierenden Entfremdung zwischen dem ErstBf. und der ZweitBf. Der GH hat daher zu prüfen, ob diese Verzögerung auf ein Versäumnis der Gerichte zurückzuführen ist, wirksame Maßnahmen zur Durchsetzung der Rückgabeanordnung zu ergreifen.
Das Verfahren zur Erlassung der Rückgabeanordnung wurde sehr zügig geführt. Es gibt aber keine Erklärung dafür, warum die Akten vom OGH erst nach über zwei Monaten an das BG für Zivilrechtssachen Graz retourniert wurden. Dieses ordnete zwar umgehend die Vollstreckung der Rückgabeanordnung an, unternahm nach einem erfolglosen Versuch jedoch keine weiteren Schritte zu ihrer Durchsetzung. Das LG für Zivilrechtssachen Graz benötigte dreieinhalb Monate für seine Entscheidung vom 29.8.1996, mit der die Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung aufgehoben und die Sache an das BG für Zivilrechtssachen Graz zurückverwiesen wurde.
Nach der Entscheidung des OGH vom 15.10.1996, mit der die Aufhebung der Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung bestätigt wurde, benötigte das BG für Zivilrechtssachen Graz über fünf Monate, um ein Gutachten eines Kinderpsychiaters einzuholen, obwohl dieser bereits mit dem Fall vertraut war. Die Entscheidung des BG für Zivilrechtssachen Graz, die vom LG für Zivilrechtssachen Graz und schließlich vom OGH bestätigt wurde, zeigt, dass die Sache letztendlich durch die inzwischen verstrichene Zeit entschieden wurde. Ohne die Schwierigkeiten zu übersehen, die durch den Widerstand der Mutter der ZweitBf. hervorgerufen wurden, ist der GH doch der Ansicht, dass die lange Verfahrensdauer zu einem großen Teil durch die Handhabung des Falles durch die innerstaatlichen Gerichte begründet wurde. Eine wirksame Beachtung des Rechts auf Familienleben erfordert, dass zukünftige Beziehungen zwischen Eltern und Kind nicht durch das bloße Verstreichen der Zeit bestimmt werden dürfen.
Der GH bemerkt auch, dass die Gerichte während der Anhängigkeit des Vollstreckungsverfahrens keine Maßnahmen ergriffen haben, um die nötigen Voraussetzungen für eine Durchsetzung der Anordnung zu schaffen.
Zusammenfassend stellt der GH fest, dass die österreichischen Behörden es verabsäumt haben, ohne Verzögerung die vernünftigerweise zu erwartenden Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückgabeanordnung zu ergreifen. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
q Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).
q Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
EUR 20.000,-- für immateriellen Schaden für den ErstBf., EUR 22.682,61 für Kosten und Auslagen (einstimmig). Was den Zuspruch von immateriellem Schaden an die ZweitBf. betrifft, stellt das Urteil selbst eine ausreichende gerechte Entschädigung dar (4:3 Stimmen, Sondervotum von Richter Bonello und den Richterinnen Tulkens und Vajić).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Urteile W./GB v. 8.7.1987, A/121 (= EuGRZ 1990, 533); Olsson/S (Nr. 2) v. 27.11.1992, A/250 (= NL 1993/2, 15 = ÖJZ 1993, 353); Hokkanen/FIN v. 23.9.1994, A/299 (= NL 1994, 333 = ÖJZ 1995, 271); Ignaccolo-Zenide/ROM v. 25.1.2000; Nuutinen/FIN v. 27.6.2000 (= NL 2000, 138).
--------------------------------------------------------------------------------
[1] Art. 3 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung lautet:
„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn
a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
b) dieses Recht im Zeitpunkt das Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.“
-----------------------
Aus einer anderen veröffentlichten Übersetzung gibt es folgendes, was in der obigen Übersetzung nicht aufgeführt ist:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).
Zur Prozessfähigkeit der ZweitBf. nach Art. 34 EMRK:
Die Bsw. der ZweitBf. wurde vom ErstBf. erhoben. Die Reg. bringt vor, dass der ErstBf. nicht dazu ermächtigt wäre, eine Bsw. im Namen seiner Tochter einzubringen.
Der GH ruft in Erinnerung, dass grundsätzlich auch eine Person, die nach innerstaatlichem Recht nicht zur Vertretung eines Dritten ermächtigt ist, unter bestimmten Voraussetzungen vor dem GH im Namen dieser Person handeln kann. So können insb. Minderjährige eine Bsw. beim GH durch einen Elternteil erheben, wenn diesem die Erziehungsberechtigung entzogen wurde. Die natürliche Elternschaft reicht in diesen Fällen aus, um den betroffenen Elternteil zur Beschwerdeerhebung zur Sicherung des Kindeswohls zu ermächtigen. Im vorliegenden Fall ist der ErstBf. ermächtigt, auch im Namen seiner Tochter eine Bsw. zu erheben.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 8 EMRK:
Die Bf. bringen vor, die Entscheidung des OGH vom 15.10.1996, mit der dieser im Vollstreckungsverfahren eine neuerliche Überprüfung von Fragen anordnete, die bereits Gegenstand der rechtskräftigen Anordnung der Rückgabe der ZweitBf. waren, begründe eine Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 8 EMRK. Der Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens wäre nicht gerechtfertigt iSv. Art. 8 (2) EMRK. Die Entscheidung des OGH beruhe auf einer Fehlinterpretation des Haager Übereinkommens und verfolge keinen legitimen Zweck. Erst die lange Verfahrensdauer habe die Rückgabe der ZweitBf. an ihren Vater unmöglich gemacht. Überdies hätten keine weiteren Vollstreckungsmaßnahmen gesetzt werden können, nachdem die Mutter der ZweitBf. einen Rekurs gegen die Anordnung der zwangsweisen Durchsetzung eingebracht hatte.
Die Reg. räumt ein, dass durch die Entscheidung des OGH ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens vorliegt. Dieser beruhe jedoch auf der gesetzlichen Grundlage von § 19 (1) AußStrG und Art. 13 (1) (b) des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und verfolge einen legitimen Zweck iSv. Art. 8 (2) EMRK, nämlich die Sicherstellung des Kindeswohles. Ein Staat könne verpflichtet sein, im Stadium der Durchsetzung einer Entscheidung zu überprüfen, ob diese noch immer im Interesse des Kindeswohles geboten sei. Die Entscheidung beruhte auf einem gerichtlichen Verfahren, an dem auch der ErstBf. beteiligt war und das ohne Verzögerungen geführt wurde.
Der GH stellt fest, dass der Fall komplexe Sach- und Rechtsfragen aufwirft und erklärt die Bsw. gemäß Art. 35 (3) EMRK für zulässig (einstimmig).
Anm.: Vgl. das vom GH zitierte Urteil Scozzari & Giunta/I v. 13.7.2000 (= ÖJZ 2002, 74).
P.C.
Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format).
[editiert: 11.07.04, 00:31 von Ingrid]