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Recht auf eine mündliche Verhandlung im Zusammenhang mit behördlichen Sorgerechtsmaßnahmen
Art. 6 (1) EMRK
Art. 8 EMRK
Art. 13 EMRK
Sachverhalt:
Der ErstBf. ist Vater von zwei minderjährigen Töchtern, P. und S., der ZweitBf. ist ihr Großvater väterlicherseits. Nach der Geburt der jüngeren Tochter S. musste sich die Gattin des ErstBf. mehrere Male zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik begeben. 1992 wurden die Kinder vorläufig in behördliche Sorge genommen, da der Verdacht bestand, die ältere Tochter P. wäre von beiden Bf. sexuell missbraucht worden und bei S. bestehe diese Gefahr ebenfalls. P. wurde zur Beobachtung in eine Klinik für Kinderpsychiatrie eingewiesen, während S. bei einer Pflegefamilie untergebracht wurde. Das zuständige Jugendamt schränkte den elterlichen Kontakt mit P. auf zwei wöchentliche Besuche in der Klinik ein, der Aufenthaltsort von S. wurde nicht bekannt gegeben. Ein dagegen eingelegtes Rechtsmittel der Eltern blieb erfolglos. Die psychiatrische Untersuchung von P. ergab keinerlei Hinweis darauf, dass sie tatsächlich sexuell missbraucht worden wäre. Das Jugendamt entschied dennoch, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen: Die Mutter leide an einer psychischen Krankheit und das Verhältnis der Ehegatten zueinander sei angespannt. Beide Elternteile wären außerstande, ihre Kinder mit der ihrem Alter und Entwicklung entsprechenden Pflege und Erziehung zu versorgen. P. wurde hierauf bei derselben Pflegefamilie wie ihre Schwester untergebracht. Das dagegen erhobene Rechtsmittel der Eltern wurde gemeinsam mit dem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom Verwaltungsgericht abgewiesen, ein an das Oberste Verwaltungsgericht gerichtetes Rechtsmittel blieb erfolglos.
In der Folge wurde die Sorgerechtsregelung vom Jugendamt regelmäßig verlängert, während den Großeltern väterlicherseits jeglicher Kontakt zu den Kindern untersagt wurde, dies mit der Begründung, ihr Verhalten habe sich nachteilig auf die Kinder ausgewirkt und ein weiterer Kontakt würde ihre positive Entwicklung gefährden. Dagegen legten beide Bf. Rechtsmittel ein und beantragten neben der Aufhebung der Sorgerechtsregelung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Einholung der Meinung von P. und eine Überprüfung der Situation vor Ort. Beide Anträge wurden vom Verwaltungsgericht abgelehnt: Es bestehe kein Grund für eine mündliche Verhandlung oder eine Untersuchung vor Ort. Die Meinung von P. sei bereits eingeholt worden, außerdem hätten sich beide Bf. wiederholt abschätzig über die Übernahme des Sorgerechts durch das Jugendamt und die Unterbringung der Kinder bei Pflegeeltern geäußert. Die nachfolgenden Anträge auf Aufhebung der Sorgerechtsregelung und auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurden abgelehnt. 1996 wurde P. neuerlich psychiatrisch untersucht. Es bestätigte sich der Verdacht, dass sie tatsächlich sexuell missbraucht worden war. Im Verlauf der Untersuchung erklärte P., ihren Vater nicht mehr so oft wie bisher sehen zu wollen, mit ihren Großeltern wolle sie grundsätzlich keinen Kontakt mehr haben. Dem ErstBf. wurde gestattet, seine Tochter viermal im Jahr bei ihrer Pflegefamilie zu besuchen, während den Großeltern vorläufig jeglicher Kontakt mit P. untersagt wurde. Dagegen brachten beide Bf. ein Rechtsmittel an das Verwaltungsgericht ein und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der Antrag wurde mit Urteil vom 17.3.1997 abgelehnt. 1998 wurde die Sorgerechtsregelung u.a. mit der Begründung verlängert, es sei erwiesen, dass P. von Vater und Großvater sexuell missbraucht worden war. Beide Bf. verzichteten auf die Einlegung eines Rechtsmittels.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), weil die behördlichen Sorgerechtsmaßnahmen nicht die Wiedervereinigung der Familie zum Ziel gehabt hätten. In diesem Zusammenhang rügen sie auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz). Sie behaupten ferner eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren) aufgrund der Weigerung der Gerichte, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 EMRK:
Der wechselseitige Umgang zwischen Eltern und Kindern bzw. Großeltern und Enkelkindern ist wesentlicher Bestandteil eines Familienlebens. Behördliche Maßnahmen, die dieses Recht unterbinden, stellen einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK dar. Ein solcher Eingriff ist nur dann zulässig iSv. Art. 8 (2) EMRK, wenn er gesetzlich vorgesehen war, ein legitimes Ziel verfolgte und sich als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig erwies. Die behördlichen Sorgerechtsmaßnahmen waren gesetzlich vorgesehen und verfolgten ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Gesundheit und der Moral sowie der Rechte und Freiheiten der Kinder. Die Gründe für die Übernahme der Kinder in behördliche Sorge waren nicht nur ausreichend, sondern – bei Berücksichtigung des den Staaten bei solchen Maßnahmen eingeräumten Ermessensspielraums - in einer demokratischen Gesellschaft notwendig.
Die Übernahme der Sorge durch den Staat darf im Regelfall nur eine vorübergehende Maßnahme sein, sie ist zu beenden, sobald die Umstände es erlauben – mit dem endgültigen Ziel, Eltern und Kinder wieder zu vereinen. Die Frage, ob die Aufrechterhaltung der behördlichen Sorge im vorliegenden Fall gerechtfertigt war, ist im Lichte der näheren Umstände und ihrer Entwicklung seit dem Jahr 1992 zu beurteilen. In dieser Hinsicht ist anzumerken, dass der ErstBf. und seine Gattin sich bereits vor den eingebrachten Anträgen auf Aufhebung der behördlichen Sorge getrennt hatten, so dass es sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um eine Familie handelte. Da auch die Rechte und Interessen der Kindesmutter zu berücksichtigen waren, konnten die Behörden unter diesen Umständen und unter Wahrnehmung des ihnen dabei eingeräumten Ermessensspielraums davon ausgehen, dass dem Kindeswohl durch die Beibehaltung der Sorgeregelung bestmöglichst Rechnung getragen würde. Was das Recht des ErstBf. auf persönlichen Verkehr mit seinen Kindern betrifft, ist einzuräumen, dass der Zugang zu diesen zwar erheblich eingeschränkt wurde, das Jugendamt ihm aber andererseits Besuche in regelmäßigen Abständen gestattete. 1996 wurde sein Besuchsrecht erneut eingeschränkt, nachdem die neuerliche psychiatrische Untersuchung von P. den Verdacht des sexuellen Missbrauchs bestätigt hatte. Wenn auch kein Strafverfahren eingeleitet wurde, ist diese Maßnahme aus Sicht der Behörden vertretbar.
Der ZweitBf. ist ebenfalls des sexuellen Missbrauchs von P. verdächtig. Es wurde ihm jeglicher Verkehr mit seinen Enkelkindern verwehrt, nachdem sich beide ausdrücklich gegen Besuche ausgesprochen hatten. Auch unter der Voraussetzung, dass diese Maßnahme als rigoros zu werten ist, kann sie aus Sicht der nationalen Behörden als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden. Was den Beschwerdepunkt nach Art. 13 EMRK angeht, ist festzustellen, dass alle von den Bf. in Anspruch genommenen Rechtsmittel wirksame Rechtsbehelfe darstellten. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:
Die finnische Reg. gab anlässlich der Ratifikation der Konvention am 10.5.1990 zu Art. 6 (1) EMRK einen Vorbehalt dahingehend ab, sie könne das Recht auf eine mündliche Verhandlung in Verfahren u. a. vor den Verwaltungsgerichten nicht gewährleisten. Dieser Vorbehalt wurde allerdings mit Wirkung vom 1.12.1996 zurückgenommen, somit zeitlich vor Einleitung des Verfahrens, das mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts vom 17.3.1997 endete. Zwar ist der GH lediglich zur Prüfung der fehlenden mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren zuständig, es bleibt ihm aber unbenommen, auch die vorausgehenden Gerichtsurteile in seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen. Dazu ist festzuhalten, dass eine mündliche Verhandlung in keinem einzigen Verfahren abgehalten wurde. Angesichts des Gegenstands des Streites und der für die Bf. auf dem Spiel stehenden Interessen liegen keine außergewöhnlichen Umstände vor, welche das Verwaltungsgericht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung entbunden hätten. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Das Urteil stellt angesichts der festgestellten Konventionsverletzung bereits eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. FIM 35.000,-- für Kosten und Auslagen abzüglich der den Bf. gewährten Verfahrenskostenhilfe (einstimmig).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Olsson/S (Nr. 1), Urteil v. 24.3.1988, A/130 (= EuGRZ 1988, 591); Margareta & Roger Andersson/S, Urteil v. 25.2.1992, A/226-A (= NL 92/2/8 = ÖJZ 1992, 552); Hokkannen/FIN, Urteil v. 23.9.1994, A/299-A (= NL 94/6/9 = ÖJZ 1995,271); Johansen/N, Urteil v. 7.8.1996 (= NL 96/5/7 = ÖJZ 1997, 75) und Kopp/CH, Urteil v. 25.3.1998 (= NL 98/2/11).
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