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Erklärung: Obsorge ist die Österreichische Bezeichnung für Sorgerecht.
NL 2006, S.226 (NL 06/5/02)
Moser gg. Österreich
Urteil vom 21.9.2006
Kammer I
Bsw. Nr. 12.643/02
Übertragung der Obsorge nach unfairem Verfahren
Art. 6 Abs. 1 EMRK
Art. 8 EMRK
Sachverhalt:
Die ErstBf. ist die Mutter des ZweitBf. Beide sind Staatsangehörige Serbiens. Die ErstBf. lebt seit 1991 in Österreich. Im August 1999 verhängte die Bundespolizeidirektion Wien ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot gegen sie. Am 20.12.1999 heiratete die ErstBf. einen österreichischen Staatsbürger.
Am 8.6.2000 wurde der ZweitBf. in einem Wiener Krankenhaus geboren. Am folgenden Tag ordnete das Wiener Amt für Jugend und Familie an, dass der ZweitBf. das Spital nicht gemeinsam mit seiner Mutter verlassen dürfe, weil seine Existenzgrundlage aufgrund der unklaren persönlichen und finanziellen Situation seiner Mutter gefährdet sei.
Am 16.6.2000 beantragte das Jugendamt beim Jugendgerichtshof Wien die Übertragung der Obsorge an das Jugendamt. Am gleichen Tag verließ die ErstBf. das Krankenhaus. Ihr Sohn wurde bei Pflegeeltern untergebracht.
Der Ehemann der ErstBf. brachte am 11.8.2000 eine Ehelichkeitsbestreitungsklage hinsichtlich des ZweitBf. ein, der am 30.5.2001 stattgegeben wurde.
Der Jugendgerichtshof gab dem Antrag des Jugendamts am 3.12.2000 statt und übertrug ihm die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung. In seiner Begründung stellte das Gericht fest, die ErstBf. sei am 2.8.2000 aus eigenem Antrieb vor dem Gericht erschienen und habe unter Hinweis auf ihre verbesserte Situation die Rückgabe ihres Kindes verlangt. Der Jugendgerichtshof gelangte jedoch aufgrund zweier Stellungnahmen des Jugendamts und der Jugendgerichtshilfe zu dem Schluss, die ErstBf. sei nicht in der Lage, für ihren Sohn zu sorgen. Sie befinde sich in einer sehr instabilen und unklaren Situation, halte sich unrechtmäßig in Österreich auf und habe keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Auch sei es nicht möglich, mit ihr zu kooperieren, da sie zum Teil Termine nicht einhalte und jede Bereitschaft zur aktiven Zusammenarbeit vermissen lasse. Um die gedeihliche Entwicklung des ZweitBf. zu gewährleisten sei es daher notwendig, die Obsorge dem Jugendamt zu übertragen und ihn in die Obhut von Pflegeeltern zu geben.
Der von der ErstBf. gegen diese Entscheidung erhobene Rekurs wurde vom Jugendgerichtshof als Rekursgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zurückgewiesen. Das Gericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs unzulässig sei. Ein Antrag der ErstBf. auf nachträgliche Zulassung des ordentlichen Revisionsrekurses wurde vom Jugendgerichtshof am 20.9.2001 zurückgewiesen.
Nachdem der VfGH die Vorentscheidungen der Sicherheitsbehörden am 24.3.2003 aufgehoben hatte, wurde das über die ErstBf. verhängte Aufenthaltsverbot am 22.4.2003 aufgehoben und ihr am 12.11.2004 eine befristete Niederlassungsbewilligung erteilt.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Die Bf. bringen vor, die Übertragung der Obsorge für den ZweitBf. an das Jugendamt verletze ihr Recht auf Achtung des Familienlebens. Das Jugendamt habe nie eine Alternative zur Übertragung der Obsorge in Erwägung gezogen. Die ErstBf. habe keine Gelegenheit bekommen, sich zu den Stellungnahmen des Jugendamts und der Jugendgerichtshilfe zu äußern, auf die sich die Entscheidung des Gerichts stützte.
Vorab stellt der GH fest, dass sich die Beschwerde, die von der ErstBf. auch im Namen ihres Sohnes erhoben wurde, nicht auf das unmittelbar nach der Geburt verhängte Ausfolgeverbot bezieht, sondern nur auf die danach verfügte Übertragung der Obsorge.
Es ist unbestritten, dass die Übertragung der Obsorge einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung des Familienlebens begründete. Der Eingriff hatte mit § 176 und § 176a ABGB eine Grundlage im innerstaatlichen Recht und diente einem legitimen Ziel, da er die Gesundheit und Moral sowie die Rechte und Freiheiten des ZweitBf. schützen sollte.
Nach der ständigen Rechtsprechung des GH enthält Art. 8 EMRK implizite verfahrensrechtliche Garantien. Dabei ist zu prüfen, ob die Eltern unter den besonderen Umständen des Einzelfalls und angesichts der Bedeutung der zu treffenden Entscheidung insgesamt betrachtet in einem Maße in das Verfahren eingebunden waren, das ausreichend war, um ihnen den nötigen Schutz ihrer Interessen zu gewähren.
Anders als in den meisten Sorgerechtsfällen lag der Grund für die Übertragung der Obsorge nicht in einer durch eine körperliche oder psychische Krankheit bedingten Unfähigkeit der ErstBf., für den ZweitBf. zu sorgen oder in irgendeinem gewalttätigen oder missbräuchlichen Verhalten. Sie beruhte ausschließlich auf dem Mangel einer angemessenen Unterkunft und finanzieller Mittel sowie ihrem unklaren Aufenthaltsstatus, also auf ihrer prekären Situation, die es für sie schwer gemacht hätte, für ein sehr junges Kind zu sorgen.
Nach Ansicht des GH verlangt ein Fall wie der vorliegende eine besonders genaue Prüfung möglicher Alternativen zur Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger.
Der GH teilt die Ansicht der Bf. nicht, die Behörden hätten überhaupt keine Alternativen in Betracht gezogen. Die Gerichte stellten fest, es gebe keine Möglichkeit einer Unterbringung des ZweitBf. bei Verwandten und auch der Vorschlag der ErstBf., mit ihrem Sohn bei einer Freundin einzuziehen, wurde geprüft und verworfen. Allerdings wurden keine aktiven Schritte unternommen, um Möglichkeiten zu erwägen, die es den Bf. ermöglicht hätten zusammen zu bleiben, wie etwa die Unterbringung in einem Mutter-Kind-Zentrum.
Dieses Versäumnis einer Prüfung aller möglichen Alternativen wird erschwert durch die Tatsache, dass keine Maßnahmen gesetzt wurden, um den Kontakt zwischen den Bf. während des Verfahrens herzustellen und aufrecht zu erhalten. Dies ist insofern besonders schwerwiegend, als die Bf. durch die sofortige Trennung nach der Geburt keine Gelegenheit hatten, eine Bindung zu entwickeln. In den sechs Monaten zwischen der Geburt des ZweitBf. und der Entscheidung über die Übertragung der Obsorge wurde der ErstBf. nur zweimal die Gelegenheit eingeräumt, ihren Sohn zu sehen. Zwar stellte der Jugendgerichtshof aufgrund der Berichte des Jugendamts und der Jugendgerichtshilfe fest, die ErstBf. habe ihr Besuchsrecht nicht wahrgenommen, doch behauptet die Bf., sie habe keine Möglichkeit gehabt, zu diesen Berichten Stellung zu nehmen.
Der GH wird sich daher an dieser Stelle der Frage der Befolgung der aus Art. 8 EMRK erwachsenden Verfahrensgarantien widmen. Der GH stellt erstens fest, dass die ErstBf nur einmal vom Jugendgerichtshof angehört wurde, nämlich am 2.8.2000, als sie aus eigenem Antrieb vor Gericht erschien. Zweitens stützte sich der Jugendgerichtshof auf Berichte des Jugendamts und der Jugendgerichtshilfe, die der ErstBf. nicht zugestellt wurden und zu denen sie nicht Stellung nehmen konnte. Drittens stellt der GH fest, dass die ErstBf. im Verfahren vor dem Jugendgerichtshof nicht von einem Anwalt unterstützt wurde. Das Rekursverfahren, in dem sie anwaltlich vertreten war, wurde ohne Verhandlung durchgeführt und es kann nicht behauptet werden, dass die Defizite des erstinstanzlichen Verfahrens durch die Möglichkeit der Stellungnahme zu den Berichten im Rekurs geheilt worden wären. Nach Ansicht des GH war die ErstBf. daher nicht in dem für den Schutz ihrer Interessen erforderlichen Maße in den Entscheidungsprozess eingebunden.
Angesichts dieser Versäumnisse war der Eingriff in das Familienleben der Bf. nicht verhältnismäßig zu den verfolgten legitimen Zielen. Die Übertragung der Obsorge für den ZweitBf. an das Jugendamt begründete daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK:
Die Bf. behaupten eine Diskriminierung aufgrund ihrer Nationalität, da sie in ein Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen worden wären, wenn sie die österreichische Staatsbürgerschaft besessen hätten.
Der GH stellt fest, dass weder für Österreicher noch für Fremde ein Anspruch auf Unterbringung in einem Mutter-Kind-Zentrum besteht. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen unterscheiden dabei nicht nach der Nationalität und nichts deutet darauf hin, dass das Versäumnis, eine solche Unterbringung in Erwägung zu ziehen, auf dem Status der Bf. als Fremde beruhte. Daher liegt keine Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:
Die ErstBf. bringt vor, es sei ihr keine Möglichkeit eingeräumt worden, zu den Berichten Stellung zu nehmen, auf die sich der Jugendgerichtshof in seiner Entscheidung stützte. Außerdem sei keine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt und die Entscheidungen nicht öffentlich verkündet worden.
a) Fehlende Möglichkeit zur Stellungnahme:
Angesichts der unterschiedlichen Schutzzwecke von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 8 EMRK erachtet es der GH im vorliegenden Fall als notwendig, die Beschwerde auch unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfen, und zwar unter dem Prinzip der Waffengleichheit, da das Jugendamt der ErstBf. in dem Verfahren als Partei gegenüberstand.
Der Grundsatz der Waffengleichheit verlangt, dass jede Partei Gelegenheit bekommen muss, die Vorbringen der anderen Partei zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern.
Es ist unbestritten, dass sich die Gerichte auf Berichte des Jugendamts und der Jugendgerichtshilfe stützten und der ErstBf. keine Gelegenheit eingeräumt wurde, dazu Stellung zu nehmen. Das Argument der Regierung, die ErstBf. hätte Zugang zu den Akten gehabt, vermag nicht zu überzeugen. Es war nicht Sache der ErstBf., die überdies in dem erstinstanzlichen Verfahren nicht anwaltlich vertreten war, Akteneinsicht zu nehmen, um Kenntnis über Stellungnahmen der gegnerischen Partei zu erlangen, sondern Sache der Gerichte, sie darüber zu informieren und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.
Der GH stellt daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, da das Verfahren gegen den Grundsatz der Waffengleichheit verstieß (einstimmig).
b) Fehlen einer öffentlichen Verhandlung:
Im vorliegenden Fall lagen keine außergewöhnlichen Umstände vor, die das Absehen von einer mündlichen Verhandlung gerechtfertigt hätten. Das Verfahren betraf weder hoch technische noch rein rechtliche Fragen. Die ErstBf. hatte daher ein Recht auf eine Verhandlung. Die Ansicht der Regierung, die Befragung der ErstBf. am 2.8.2000 wäre als Verhandlung zu qualifizieren, kann der GH nicht teilen.
Es bleibt zu prüfen, ob die ErstBf. ein Recht auf eine öffentliche Verhandlung hatte. Auch das Erfordernis der Öffentlichkeit unterliegt Ausnahmen, wie schon aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK hervorgeht. Demnach kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Parteien es verlangen. In seinem Urteil B. und P./GB hat der GH festgestellt, dass es nicht inkonsistent mit Art. 6 Abs. 1 EMRK ist, wenn ein Staat eine ganze Kategorie von Fällen als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Durchführung öffentlicher Verhandlungen vorsieht, weil er dies im Interesse von Jugendlichen oder dem Schutz des Privatlebens als notwendig erachtet. Der vorliegende Fall unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten von B. und P./GB. So hat der GH in jenem Fall der Tatsache Bedeutung beigemessen, dass es im Ermessen der Gerichte lag, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, wenn es die besonderen Umstände eines Falles verlangten, und dass die Parteien eine Verhandlung beantragen konnten.
Das seit 1.1.2005 geltende neue Außerstreitgesetz (AußStrG) räumt dem Richter ein Ermessen ein, in familienrechtlichen Verfahren eine öffentliche Verhandlung durchzuführen und legt Kriterien für die Ausübung dieses Ermessens fest. Das AußStrG 1854 enthielt jedoch noch keine solchen Sicherungen. Da das innerstaatliche Recht eine mündliche Verhandlung nicht vorsah und es die Praxis der Gerichte war, nicht öffentlich zu verhandeln, spielt es keine Rolle, dass die ErstBf. eine öffentliche Verhandlung nicht beantragt hat.
Außerdem betrifft der vorliegende Fall – anders als der Fall B. und P./GB – keinen Streit zwischen Familienmitgliedern untereinander, sondern die Übertragung der Obsorge für den Sohn der ErstBf. an das Jugendamt und somit eine Auseinandersetzung zwischen einem Einzelnen und dem Staat. In dieser Sphäre müssen die Gründe für den Ausschluss der Öffentlichkeit genau geprüft werden. Dies war nicht der Fall, da das Gesetz zu dieser Frage schwieg und die Gerichte einfach ohne Erwägung der besonderen Umstände des Falles der langjährigen Praxis folgten, Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen. Das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung begründete daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
c) Fehlen einer öffentlichen Verkündung:
Es ist unbestritten, dass keine der Entscheidungen der Gerichte öffentlich verkündet wurde. Daher ist zu prüfen, ob der Öffentlichkeit auf anderem Wege Genüge getan wurde.
Der GH stellt fest, dass im vorliegenden Fall, in dem das Absehen von einer öffentlichen Verhandlung nicht gerechtfertigt war, die von der Regierung vorgebrachten Maßnahmen – nämlich Personen, die ein rechtliches Interesse an dem Fall nachweisen, den Zugang zu den Akten zu gewähren und ausgewählte Fälle im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramts zu veröffentlichen – den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht gerecht wurden.
Daher hat hinsichtlich des Fehlens einer öffentlichen Verkündung der Entscheidungen der Gerichte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 8.000,– für immateriellen Schaden, € 6.694,74 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Olsson/S (Nr. 1) v. 24.3.1988, A/130, EuGRZ 1988, 591.
Elsholz/D v. 13.7.2000, NL 2000, 143; EuGRZ 2001, 595; ÖJZ 2002, 71.
B. und P./GB v. 24.4.2001, ÖJZ 2002, 571.
K. und T./FIN v. 12.7.2001, NL 2001, 153.
Buchberger/A v. 20.12.2001, ÖJZ 2002, 395.
Kutzner/D v. 26.2.2002, EuGRZ 2002, 244.
P., C. und S./GB v. 16.7.2002, NL 2002, 153.
Venema/NL v. 17.12.2002, NL 2003, 14; ÖJZ 2004, 275.
Osinger/A v. 24.3.2005, NL 2005, 76; ÖJZ 2006, 255.
Czech
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format).
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[editiert: 19.04.07, 21:08 von Ingrid]