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eine neue familie

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sheena
Tunnelexperte


Beiträge: 925
Ort: berlin


New PostErstellt: 05.12.09, 18:43  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

11. Kapitel – Die erste Begegnung

 

Nachdem die Leute der Tunnelgemeinde die Mahlzeit beendeten hatten und gegangen waren, half Stella beim Abräumen und Abwaschen. Sie hatte ja sonst nicht weiter zu tun. Außerdem war sie ein bisschen nervös, weil sie noch auf das Ergebnis der Ratssitzung warten musste. Hier zu helfen hatte sie ein wenig von ihren Gedanken abgelenkt. Aber nun war die Arbeit erledigt, doch sich irgendwo still hinsetzen und abwarten konnte sie einfach nicht. Stella entschloss sich, einen kleinen Spaziergang zur Flüstergalerie zu machen. Auf dem Weg durch die Tunnel überlegte sie, wie sich die Gemeinde wohl entscheiden würde. Sie hatte ja Vater gegenüber schon betont, dass sie gar nicht erwartete, hier in diesem Teil der Tunnel leben zu dürfen. Aber wenigstens ihre Abstellkammer sollten sie ihr lassen. Und vielleicht durfte sie auch ab und zu als Besucher hierher kommen und ein wenig Zeit mit Jacob verbringen. Dieser kleine, süße Junge war ihr in der kurzen Zeit so sehr ans Herz gewachsen. Sie fühlte sich mit diesem Kind mehr verbunden als mit ihrem eigenen Sohn. Wenn man beschloss, dass sie wieder gehen sollte, würde der Junge ihr am meisten fehlen.

Ein Geräusch riss Stella aus ihren Gedanken. Was sie hörte, waren schwere Schritte, die auf sie zukamen. Im nächsten Moment füllte eine riesige Silhouette den vor ihr liegenden Durchgang aus. Stella war zu Tode erschrocken. Sie blieb, wie zur Salzsäule erstarrt, stehen und meinte, ihr Herz würde augenblicklich aufhören, zu schlagen. Sie sah nur diese mächtige Gestalt, die der ihres Ex-Mannes so ähnlich war und ihre Beine fingen an zu zittern. Sie fühlte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten und ihr die Luft wegblieb. Panik machte sich in Bruchteilen von Sekunden in ihr breit. „David!“ keuchte sie tonlos. „Geh weg!“ Sie kam gar nicht auf die Idee, dass es nahezu unmöglich war, dass er und seine Männer sie hier unten suchten, geschweige denn, fanden. Sie sah nur die große Gestalt und war überzeugt, dass es David war. Flashbacks schossen durch ihren Kopf. Sie sah sich wieder am Boden liegen und David mit erhobenen Fäusten über sich. Sie spürte wieder die Schläge in ihrem Gesicht und die Tritte auf ihrem Körper. Mit angstgeweiteten Augen starrte sie auf den Schatten in dem Durchgang. Die Gestalt löste sich von der Tunnelwand und machte einen Schritt auf sie zu. „Geh weg!“ kreischte Stella mit einer angsterfüllten Stimme, die nicht mehr die ihre zu sein schien. Sie ging zwei, drei Schritte rückwärts, nicht in der Lage, die Augen von der vermeintlichen Gefahr, die da auf sie zukam, zu nehmen. Dann drehte sie sich blitzschnell um und rannte, ohne darauf zu achten, wohin ihre Flucht sie führte.

Vincent stand erschrocken im Tunnel und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Er hatte nicht damit gerechnet, einer Fremden hier zu begegnen. Das konnte nur diese Stella gewesen sein. Und bevor er etwas hatte sagen können, war sie auch schon panisch davon gerannt. Wenn er gewusst hätte, dass sie hier allein durch die Tunnel streifte, wäre er vorsichtiger gewesen. Hatte sie denn niemand vorbereitet? Sie war doch nach Jacobs Erzählungen so oft mit dem Jungen zusammen gewesen. Warum hatte sie dann keiner vorgewarnt? Es musste doch jedem klar gewesen sein, dass sie beide unweigerlich irgendwann aufeinander treffen würden! Er entschied, der Frau nachzulaufen. Sie kannte sich hier unten nicht aus und es gab eine Menge Gefahrenstellen, in die sie zu geraten drohte. Er übermittelte eine schnelle Nachricht über die Rohre und nahm dann die Verfolgung auf. Die Richtung, die diese fremde Frau eingeschlagen hatte, führte genau zu den Wasserfällen.

Die Ratsmitglieder hatten sich bereits in Vaters Raum versammelt und warteten auf Vincent, dessen Rückkehr sich schon durch die Kinder herumgesprochen hatte. Ho und Jamie hockten auf den Stufen der Wendeltreppe und unterhielten sich flüsternd über Frauenangelegenheiten. Cullen hatte sich als Sitzplatz eine freie Ecke des großen Schreibtisches gesucht und schnitzte an einem Stück Holz herum. Pascal saß entspannt zurückgelehnt in einem der Armsessel und lauschte mit geschlossenen Augen dem Stakkato der Klopfzeichenmelodien in den Rohren. William trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum und brummte unverständliches Zeug in sich hinein. Mary saß mit ihrem Strickzeug auf den Knien neben Vater, der missbilligend auf Cullens Hände starrte. Zu dessen Füßen hatte sich bereits ein kleiner Spanhaufen gebildet. Mouse rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin- und her. Auch er gehörte inzwischen zum Rat, da er sozusagen der technische Leiter der Gemeinde war. Doch er hatte weitaus Wichtigeres zu tun, als darüber zu beraten, wer hier wohnen durfte und wer nicht. Ihm waren alle Leute recht, solange sie ihn nicht bei seinen Projekten behinderten oder ihm Vorschriften machten. Das taten Vater, Cullen und Jamie schon zur Genüge. Plötzlich setzte sich Pascal kerzengerade auf und verlangte mit einem kurzen, aber bestimmten „Pssst!“ absolute Ruhe von den Anwesenden. Als diese sein konzentriertes Gesicht bemerkten, horchten auch sie genauer auf die Signale in den Leitungen. Vater bemerkte leise: „Das ist Vincent!“ Pascal nickte und ergänzte: „Es ist was passiert. Er ist auf dem Weg zum Wasserfall und kommt später!“ Jamie fragte: „Ob er Hilfe braucht? Vielleicht sollte jemand von uns nachschauen gehen?“ Mouse war das nur zu recht und rief aufgeregt: „Ja, Vincent hilft Mouse auch immer, also wird Mouse auch für Vincent da sein. Ich gehe und helfe!“ Schon sprang er auf und lief in Richtung Ausgang. Jamie rief ihm nach: „Du mit deinen kaputten Händen kannst ihm doch gar nicht helfen! Warte, ich komme mit!“ Damit war auch sie im Tunnel verschwunden. Vater schüttelte resigniert den Kopf und seufzte. Ob es mal einen Tag gab, an dem sie nicht irgendeine mittlere Katastrophe heimsuchte? „Na gut“ meinte er dann, „solange wir auf Vincent warten, kann ich euch ja schon mal berichten, worum es hier heute gehen soll.“ Er begann, Genaueres von Stella zu erzählen, damit nachher entschieden werden konnte, ob man sie in die Gemeinde aufnehmen sollte oder nicht.

Stella war am ganzen Körper vor Angst bebend und völlig atemlos erst an der Hängebrücke wieder stehen geblieben. Ihre Beine waren kurz davor, ihr den Dienst zu versagen. Sie war durch die Krankheit für solche Anstrengungen noch viel zu schwach, aber die entsetzliche Furcht vor David und seinen Schlägern hatte sie sämtliche Kräfte mobilisieren lassen. Doch jetzt musste sie erst einmal kurz verschnaufen. Sie fiel auf die Knie und legte den Kopf in den Nacken, um tief durchzuatmen. Doch kaum war sie ein wenig zu Atem gekommen, hörte sie erneut Schritte hinter sich. Da war er wieder, dieser riesige Mann. Sie rappelte sich auf und wollte über die schwankende Hängebrücke hetzen. „Bleib stehen! Das ist gefährlich!“ hörte sie eine tiefe, heisere Stimme rufen! Sie klang beinahe ängstlich und besorgt, doch das nahm sie in ihrer Hysterie gar nicht wahr. Erneut schoss Stella die grenzenlose Angst in die Glieder und gab ihr die Kraft, trotz der Warnung über die Brücke flüchten. Sie schaffte einen oder vielleicht auch zwei Meter, dann glitt sie auf den nassen Planken aus und stürzte. Sie schrie auf und versuchte, sich festzukrallen, doch ihre Hände fanden nirgends einen Halt. Wie in Zeitlupe rutschte sie von der Brücke. Stella keuchte vor Angst und Panik. „Das war’s!“ dachte sie. „Ein zweites Mal werde ich kein Glück haben und hier heile rauskommen!“ Ihre Füße berührten beinahe schon die Wasseroberfläche, da fühlte sie, wie etwas derb ihren rechten Unterarm umfasste und sie in emporzog. Im nächsten Moment lag sie bäuchlings auf festem Untergrund. Ihr Atem raste, das Herz überschlug sich beinahe und ihr war übel vor Angst. Stella lies die Stirn auf die nassen Brückenplanken fallen und schloss erschöpft die Augen. Sie fühlte, wie eine warme Hand sanft ihren Rücken rieb. „Ist alles in Ordnung mir dir?“ fragte eine leise, besorgte Männerstimme. Sie nickte, ohne aufzublicken. Inzwischen war ihr klar geworden, dass derjenige, der sie aus dieser Notlage befreit hatte, nicht David oder einer seiner Kraftprotze gewesen sein konnte. Die hätten seelenruhig daneben gestanden und zugeschaut, wie sie ertrank. „Komm, du kannst hier nicht liegen bleiben! Du wirst wieder krank!“ versuchte die Stimme, sie zum Aufstehen zu bewegen. Er hatte Recht. Stella versuchte, sich zu erheben, doch die Beine gehorchten ihr nicht. Zwei kräftige Arme umfassten ihre Taille und halfen ihr, sich aufzurichten. „Ich danke dir! Du hast mir das Leben gerettet!“ keuchte Stella tonlos und krallte sich an der Hand fest, die ihr aufhelfen wollte. Sie fühlte Haar, viel Haar und meinte, es wären Handschuhe. Doch dann sah sie derbe Finger, deren Enden mit langen, spitzen Krallen ausgestattet waren. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie zog erschrocken ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Stella wandte den Kopf und sah in das Gesicht des Mannes, dem die Hand gehörte, in das Gesicht ihres Retters. Sie war zu Tode erschrocken über das, was sie sah. Das konnte doch nur ein Alptraum sein. Sie fing an, wie wild um sich zu schlagen und Vincent abzuwehren. Ihre Arme flogen ihm wie Windmühlenflügel entgegen, so dass er Mühe hatte, auszuweichen. In einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit traf sie ihn im Gesicht. Ihre Fingernägel hinterließen auf seiner linken Wange kleine rote Streifen. Vincent brüllte kurz auf und ließ ungewollt reflexartig seine Fänge aufblitzen. Dieser Anblick war zu viel für Stella. In ihrer Panik schrie sie mit aller Kraft um Hilfe, bis ihr die Luft wegblieb. Sie hörte nur noch ein flehendes „Bitte hab doch nicht solche Angst! Ich tue dir nichts!“, dann umfing sie die barmherzige Dunkelheit und Stille der Bewusstlosigkeit.

Vincent kniete ratlos vor der besinnungslosen Frau. Er hätte sie sicher aus der Ohnmacht holen können, aber war es ratsam, sie zu wecken, so, wie sie auf ihn reagiert hatte? Einen Moment lang betrachtete er sie. Die Flechten des langen, blonden Zopfes hatten sich gelöst und das Haar lag wirr über ihrem Gesicht. Vorsichtig strich Vincent die Strähnen beiseite. Er sah nun in ein blasses, aber wunderschönes, zartes Gesicht mit einem Teint wie Alabaster. Über hohen Wangenknochen schwangen sich zwei dunklen Bögen aus langen Wimpern. Er vermutete unter den geschlossenen Lidern blaue Augen. Die schmale, gerade Nase war eigentlich ein wenig zu klein und stupsig, so dass die Frau etwas Kindchenhaftes an sich hatte. Damit ähnelte sie tatsächlich Cathy’s Püppchen, das Jacob immer mit sich herumgeschleppt hatte. Zuletzt blieb sein Blick an ihren vollen, leicht geöffneten Lippen hängen, die in diesem Moment fast weiß waren. Sie musste sich zu Tode erschrocken haben! Es tat Vincent unendlich leid. Er war verärgert, dass man eine Fremde hier unten ohne Begleitung herumlaufen ließ. Was sollte er jetzt nur tun? Er konnte sie unmöglich hier allein lassen, um Hilfe zu holen. Aber sie zu Vater zu tragen, war auch problematisch. Was, wenn sie auf dem Weg dorthin wieder zu sich kam? Doch sie konnte auf keinen Fall hier so liegen bleiben. Vincent musste es riskieren. Er bedauerte, seinen Umhang mit der großen Kapuze nicht dabei zu haben für den Fall, dass die Frau wieder zu sich kam. Damit hätte er sein Gesicht vor ihr ein wenig verbergen können, um sie nicht erneut zu erschrecken. Vincent nahm Stella auf die Arme und stellte fest, dass sie federleicht war. Er beeilte sich, mit ihr auf dem schnellsten Wege zur Krankenkammer zu kommen. Gerade hatte er die nächste Wegbiegung erreicht, da kam ihm Jacob entgegen. Der Junge blieb erschrocken vor seinem Vater stehen und sah auf die bewusstlose Stella. „Daddy, was ist mit ihr? Warum schläft Stella und warum trägst du sie wie ein Baby?“ Vincent ignorierte die Frage und befahl dem Kleinen: „Jacob, lauf und hol Vater in die Krankenkammer! Beeil dich!“ Der Junge sah in das besorgte Gesicht seines Dad’s und schoss ohne eine weitere Frage los.

Vincent hatte kurz darauf mit Stella auf den Armen die Krankenkammer erreicht. Sanft legte er sie auf eines der Betten, deckte sie vorsichtig zu und setzte sich dann in eine dunkle Ecke des Raumes.  Von dort konnte er die junge Frau im Auge behalten, ohne dass sie ihn gleich bemerkte, sollte sie wieder zu sich kommen. Keine zwei Minuten später erschien Jacob mit Vater und Mary im Gefolge. Der Arzt begab sich sofort zu Stella und prüfte ihren Zustand. Vincent raunte leise aus seiner dunklen Ecke: „Sie ist nur ohnmächtig.“ Vater drehte sich in die Richtung, aus der die wohlbekannte, ruhige Stimme kam und fragte: „Was ist denn bloß  passiert?“ Sein Adoptivsohn erhob sich langsam und erklärte mit verlegenem Blick, wieso Stella bewusstlos war. Mary legt mitfühlend die Hand auf Vincents Arm, um ihn zu trösten. „Es ist doch nicht deine Schuld.“ meinte sie leise. Er zuckte mit den Schultern und verließ die wortlos die Kammer.

„Mary, bitte gib mir das Riechsalz.“ bat Vater seine Freundin. Die wühlte bereits in dem Arztkoffer und fand dann auch, wonach der alte Mann verlangt hatte. Er hielt Stella das Röhrchen unter die Nase. Augenblicklich verzog sie angewidert das Gesicht und drehte den Kopf zu Seite. Langsam öffnete sie die Augen und sah verschwommene Umrisse vor sich stehen. Die letzten Sekundenbruchteile vor der Ohnmacht schossen ihr durch den Kopf und sie schlug abermals schreiend um sich. Vater trat erschrocken ein Schritt zurück und machte für Mary Platz, die beruhigend auf Stella einredete. Jacob stand mit offenem Mund daneben und beobachtete die Szene. Als Stella erkannte, wen sie vor sich hatte, beruhigte sie sich langsam und schaute sich, ängstlich an Mary geklammert, im Zimmer um. „Wo bin ich?“ flüsterte sie verschreckt. „Was ist eigentlich passiert?“ Vater setzte sich zu ihr auf die Bettkante und erklärte: „Nun, wir, ich meine, die Ratsmitglieder, haben zusammengesessen und auf Vincent gewartet. Ich hatte dir ja versprochen, dass wir nach dem Mittagessen darüber beraten werden, ob wir dich in unsere Gemeinschaft aufnehmen. Da hörten wir plötzlich….“ weiter kam er nicht. Stella schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab: „Ihr braucht gar nicht weiter darüber nachdenken! Ich bleibe nicht hier, auf keinen Fall! Ich werde noch heute meine Sachen packen und aus den Tunneln verschwinden! Und ihr solltet das auch tun!“ Mary fragte erstaunt: „Aber warum denn? Wo willst du denn hin mitten in diesem eisigen Winter, kurz vor Weihnachten, ohne Unterkunft und Nahrung? Was ist denn auf einmal so schrecklich, dass du uns verlassen willst? Und warum, in Gottes Namen, sollen auch wir von hier verschwinden?““ Stella setzte sich auf und sah ungläubig von Vater zu Mary und wieder zurück. „Wisst ihr eigentlich, dass ihr hier unten nicht allein lebt?“ Vater nickte: „Ja, natürlich wissen wir das. Es sind viele Familien und Personen hier unten heimisch geworden.“ Stella schüttelte unwillig den Kopf und unterstrich die Geste mit aufgeregten Handbewegungen: „Nein, nein, nein! Ich meine, wisst ihr, dass hier unten auch etwas lebt, das irgendwie kein Mensch ist? Es ist riesig, geht auf zwei Beinen und hat langes Haar, sieht aber aus wie ein Tier! Mit riesigen Klauen und Reißzähnen! Es hat mich verfolgt“ Vater wusste sofort, wen Stella meinte. Bevor er zu einer Erklärung ansetzen konnte, prustete Jacob los: „Aber das ist doch nur mein Daddy!“ Stella schüttelte wieder den Kopf: „Nein, mein Kleiner, das war sicher nicht dein Dad!“ Vater fragte als nächstes: „Was wollte er denn von dir? Hat er etwas gesagt oder getan?“ Die junge Frau überlegte und nickte dann langsam: „Er hat mir eine Warnung hinterher gerufen, als ich über die Hängebrücke wollte. Ich bin ausgerutscht und wäre fast in den Fluss gestürzt, aber er hat mich festgehalten.“ Ihre Stimme wurde immer kleinlauter, als sie ihr Erlebnis Revue passieren ließ. „Er hat mich gerettet!“ flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Sag ich doch, das war Daddy!“ beharrte Jacob. „Ich hab ja gesehen, wie er dich hierher getragen hat!“ Stella konnte die Worte des Jungen nicht glauben und schüttelte immer noch den Kopf. „Warte!“ sagte er kurz und war dann auch schon verschwunden. Vater saß immer noch dicht neben ihr und sah etwas verlegen auf seine Hände: „Ich glaube, wir haben versäumt, dich in ein sehr wichtiges Geheimnis einzuweihen. Eigentlich wollte ich dir davon erst erzählen, wenn ganz sicher ist, dass du bei uns bleiben wirst. Damit zu warten, war aber offensichtlich ein Fehler. Weißt du – der Mann, den du getroffen hast, der dich so sehr erschreckt hat, ist einer von uns. Auch wenn er anders ist als wir, so ist er doch ein von uns allen sehr geliebtes Familienmitglied. Er ist einfach etwas ganz besonderes.  Und - er ist tatsächlich Jacobs Vater. Du brauchst dich wirklich nicht vor ihm zu fürchten!“

Jacob hatte seinen Vater gesucht und in dessen Kammer auch gefunden. Er saß dort in der für ihn üblichen Haltung, wenn er nachdachte – die Ellenbogen auf die Armlehnen des großen Sessels gestützt und den Blick über die in Kinnhöhe verschränkten Hände hinweg starr auf eine Kerzenflamme gerichtet. „Daddy, du musst mitkommen. Stella glaubt nicht, dass du mein Daddy bist!“ Er hob den großen Umhang auf, der immer noch auf dem Boden lag und reichte ihn wie selbstverständlich seinem Vater. „Nein!“ sagte Vincent leise, aber bestimmt und unterstrich diese Ablehnung mit einem Kopfschütteln. „Sie hat Angst vor mir.“ Jacob bettelte: „Bitte komm doch! Vater und Mary sind doch bei ihr. Das mit dem Umfallen passiert ganz bestimmt nicht noch mal! Ich muss ihr doch zeigen, dass sie sich gar nicht fürchten muss. Bitte, Daddy!“ Als Antwort kam nur ein gequältes „Ach, Jacob!“ Vincent war es immer noch sehr unangenehm, dass er die Frau mit seinem Aussehen so erschreckt hatte. Das war ihm ja schon einige Male passiert, aber noch nie war jemand deswegen in Ohnmacht gefallen. Es hatte aber auch Personen gegeben, die neugierig auf ihn gewesen waren und überhaupt keine Hemmungen gehabt hatten, ihn anzusehen, ihn zu berühren, ihn sogar schön zu finden. Doch er erinnerte sich, dass auch seine Cathy bei der ersten Berührung seiner Hand zurückgezuckt war und beim ersten Blick in sein Gesicht erschrocken aufgeschrieen und mit einem Gegenstand nach ihm geworfen hatte. Damals hatte er genauso empfunden wie heute – er hatte sich geschämt. Nun wollte Jacob unbedingt, dass er sich Stella vorstellte. Die Aussicht darauf, noch einmal in das entsetzte Gesicht dieser schönen, jungen Frau sehen zu müssen, bereitete ihm Unbehagen. Doch irgendwie hatte der Kleine ja Recht. Man würde es auf die Dauer nicht vermeiden können, sich ab und an zu begegnen. Jacob hing an seiner Hand und zerrte ihn in Richtung Ausgang. Widerwillig stand Vincent auf, legte seinen Umhang über die Schultern und ging mit dem Jungen mit.  Doch im Korridor vor der Krankenkammer blieb er unschlüssig stehen und überlegt, ob er nicht doch lieber wieder gehen sollte. Jacob hing immer noch an seiner Hand und wollte ihn wie einen störrischen Maulesel hinter sich herziehen. Doch der große Mann stand wie festgewachsen im Gang. Der Junge ging um seinen Vater herum und verlegte sich aufs Schieben, was ebenso erfolglos war wie das Ziehen. „Los, Daddy! Du bist doch sonst immer so mutig! Hast du etwa Angst?“ Vincent seufzte und nickte kaum merklich. Ja, der kleine Bengel hatte es erfasst – er hatte tatsächlich Angst. Aber es musste wahrscheinlich sein. Also zog er die Kapuze seines großen Umhanges über den Kopf und betrat leise die Krankenkammer.

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schneeeule
Tunnelexperte


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New PostErstellt: 05.12.09, 19:01  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Der arme Vincent.
Hat er wieder jemanden erschreckt und kann nix dafür.

Du hast wieder so realistisch geschrieben. Mir haben von ihren Schreien auch die Ohren geschlackert.




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Anja
Tunnelstammgast


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New PostErstellt: 05.12.09, 19:41  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Toll es geht mit Stella und Vincent weiter.
Wau was für ein toller Teil wieder von dir.

Was wird er zu ihr sagen wenn er drinnen ist.
Hallo ich bin Vincent oder ?

Wird Stella Vincent dann sagen warum sie davon gelaufen ist von ihm? Das sie gedacht hätte er wäre ihr EX-Mann und der hinter ihr her ist.
Der Arme macht sich sonst noch weitere vorwürfe das er sie so erschreckt hat.

Vincent braucht keine Angst haben wenn er zu Stella in die Krankenkammer hinein geht es ist ja noch Vater , Mary und auch Jackob ist da.
Er wird das schon schaffen. Und wer weiss vieleich entwickelt sich dann bei den beiden eine tolle Freundschaft. Und dann wird aus Freundschaft Liebe.

Lg Anja






Märchen schreibt die Zeit, immer wieder wahr, eben kaum gekannt dann doch zugewandt unerwartet klar, märchen schreibt die zeit es ist ein altes lied, bittersüß verwirrt, einsehn das man irrt und auch mal vergiebt....

die Schöne und das Biest
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schneeeule
Tunnelexperte


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New PostErstellt: 05.12.09, 19:52  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Sie wird ihm schon erklären müssen, warum sie so sehr erschrocken ist. Dann wird er es verstehen. Wenn sie ihn erst besser kennt, wird sie merken wie sanft Vincent ist.

Du hast das so schön realistisch geschreiben. Ich glaube, wenn ich ihn das erste Mal gesehen hätte, hätt ich mich auch erschreckt. Auf den ersten Blick sieht man ja nicht, dass er kein Bösewicht ist.

Hoffentlich weißt Du schon, wie die Geschichte weiter geht.






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Anja
Tunnelstammgast


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New PostErstellt: 05.12.09, 20:07  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Ist besser wenn sie ihm alles sagt. Vincent wird das alles verstehen.
Und wenn sie doch einmal auf kreuzen dann kann er Stella auch Helfen.

Du hast das so toll  realistisch geschreiben das ganze.

Wie schneeeule schon sagt
Ich glaube, wenn ich ihn das erste Mal gesehen
hätte, hätt ich mich auch erschreckt. Auf den ersten Blick sieht man ja
nicht, dass er kein Bösewicht ist.






Märchen schreibt die Zeit, immer wieder wahr, eben kaum gekannt dann doch zugewandt unerwartet klar, märchen schreibt die zeit es ist ein altes lied, bittersüß verwirrt, einsehn das man irrt und auch mal vergiebt....

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sheena
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New PostErstellt: 10.01.10, 13:29  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

12. Kapitel - 

Mary drückte Stella in die Kissen und redete sanft auf sie ein: „War wohl alles ein bisschen viel für dich! Ruh dich aus und versuch, ein wenig zu schlafen.“ Vater nickte beipflichtend und nahm noch einmal ihr Handgelenk, um den Puls zu fühlen, der mit einem Male zu rasen begann. Erschrocken schaute er seiner Patientin ins Gesicht und bemerkte ihre angstgeweiteten Augen, die zum Eingang starrten. Er folgte ihrem Blick und seufzte, als er seinen Sohn dort stehen sah. Wie es dessen Art war, hatte er beinahe lautlos den Raum betreten und stand nun dort, bewegungslos abwartend. Vater taten die beiden jungen Leute leid – Stella, weil sie sich vor Vincents Erscheinung so fürchtete und Vincent, weil er ihn lange genug kannte, um zu wissen, wie elend dieser sich in dem Moment fühlte. Er hielt immer noch Stellas Hand und umfasste sie nun etwas fester, um ihr Sicherheit zu vermitteln. Mit einer bittenden Geste forderte er Vincent auf, näher zu treten. Dieser machte zögernd einen Schritt auf ihn zu und blieb dann wieder stehen, den Kopf tief gesenkt. Mary zog sich das Herz im Leib zusammen, als sie den sonst so majestätisch wirkenden, stattlichen Mann so verschüchtert im Raum stehen sah, der es nicht wagte, die Kapuze vom Kopf zu nehmen und sein Gesicht zu zeigen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Stella in ihren Kissen immer kleiner wurde. Sie setzte sich zu ihr aufs Bett und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Du brauchst dich nicht fürchten, wirklich nicht!“ flüsterte sie Stella zu. „Niemand wird dir etwas tun!“ Aber die junge Frau schien sie gar nicht zu hören. 

Vater räusperte sich und sagte mit leiser Stimme: „Stella, ich möchte nun endlich nachholen, was schon längst hätte geschehen sollen: ich möchte dir Vincent vorstellen – Jacobs Vater, meinen Sohn und unser aller Freund und Beschützer.“ Die letzten Worte betonte er besonders. Er wandte sich an Vincent: „Bitte, komm doch näher!“ Dieser hatte jedoch währenddessen Stella unter der Mähne hervor aufmerksam beobachtet. Er bemerkte, wie sie sich versteifte, sah ihre Lippen zittern und die weit aufgerissenen Angstaugen. Diese offensichtliche Abscheu hielt ihn davon ab, auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn, einen Schritt auf sie zuzugehen. Auch Stella hatte den großen Mann die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, aus Furcht, dieser könne jeden Moment über sie herfallen.  

Jacob verfolgte die Szene vom Eingang aus. Als er merkte, dass sein Daddy keine Anstalten machte, sich Stella zu nähern und Stella wiederum ihre ablehnende Haltung beibehielt, traten ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen. Er stürzte in den Raum und blieb zwischen den beiden, sich gegenseitig belauernden Erwachsenen stehen. Unschlüssig, wen er zuerst anflehen sollte, schnappte er schluchzend nach Luft, um dann mit beiden Händen den Arm seines Vaters zu greifen und, so derb er konnte, zu schütteln, als wolle er ihn wecken. „Daddy! Bitte!!!“ Doch der senkte seinen Kopf noch tiefer. Als der Junge merkte, dass er keinen Erfolg haben würde, wandte er sich an Stella und bettelte die junge Frau förmlich an: „Stella, bitte, das ist doch mein Daddy! Er ist der liebste Mensch auf der Welt! Bitte, hab doch nicht solche Angst! Ich hab doch auch keine!“ Vincent tat es in der Seele weh, seinen Kleinen für ihn so um Stellas Gunst betteln zu sehen, doch er wartete geduldig, was geschehen würde. Jacobs verzweifeltes Flehen schien die Frau aber nicht zu erreichen. Sie schüttelte ununterbrochen den Kopf und schob den Jungen sanft von sich. „Ich kann nicht, Jacob, bitte hör auf!“  

Vincent hatte genug. Was sollte das? Es hatte keinen Sinn, dieser Frau seine Bekanntschaft aufzudrängen. Sie musste von allein zu der Erkenntnis gelangen, dass diese übertriebene Angst kindisch war. Es musste ihr doch klar sein, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte, wenn sogar ein kleiner Junge, ein alter Mann und das gesamte übrige Tunnelvolk keine Bedenken hatten, mit ihm zusammenzuleben! Und die hatten schon Einiges mit ihm mitmachen müssen! Als er merkte, dass sich die Verkrampfung der Frau trotz Vaters und Jacobs Versicherung nicht löste, knurrte er ein kurzes: „Jacob, komm!“. Dann drehte er sich abrupt um und verließ die Kammer ohne ein weiteres Wort. Er verstand Stellas Verhalten nicht, denn er konnte ja nicht wissen, dass sie seine Erscheinung mit ihrem brutalen Ex-Mann assoziierte. 

Der kleine Junge stand mitten im Raum und wollte eigentlich nicht gehen, ohne vorher Stella von der Harmlosigkeit seines Daddy’s überzeugt zu haben. Doch er hatte zu gehorchen. Es machte ihn sehr traurig, aber auch wütend, dass die beiden Erwachsenen sich einfach nicht vertragen wollten. Er warf seiner großen Freundin einen vorwurfsvollen Blick zu, stampfte wütend mit dem Fuß auf und rannte schluchzend aus dem Raum. „Jacob!“ rief Vater ihm erschrocken nach, denn solches Gebaren hatte er bei seinem kleinen Enkel noch nie beobachtet. Doch im Korridor blieb es still. Er fragte Mary: „Sollte nicht einer von uns nach ihm schauen?“ Diese hatte die ganze Zeit still auf dem Bett gesessen und all das mit Tränen in den Augen beobachtet. Sie schluckte an einem großen Kloß, der ihr im Hals saß, bevor sie antworten konnte. „Nein, nein. Lass ihn. Vincent wird sich schon um ihn kümmern.“ Dann stand sie seufzend vom Bett auf, sah Stella mit traurigen Augen an und sagte: „Dir scheint es ja jetzt wieder besser zu gehen. Ich muss mich um die Kinder kümmern.“ Stella schien es, als würde ein leicht verärgerter Unterton in ihrer Stimme mitschwingen. Sie sah Vater an, der enttäuscht seine Sachen im Arztkoffer verstaute. „Bitte, versteht mich doch. Es ist doch keine böse Absicht, aber euer Vincent macht mir Angst. Ich kann das einfach nicht überwinden. Noch nicht!“ Vater nickte wortlos, nahm seinen Gehstock und humpelte zum Eingang. Es schien Stella, als wenn er noch ein wenig gebeugter und schleppender ging als sonst. Mary folgte ihm. Schon halb im Korridor drehte er sich noch einmal kurz um und meinte nur: „Ruh dich noch ein wenig aus. Wir sehen uns dann zum Abendessen.“ Dann war Stella allein. 

Vincent war nach dem Verlassen der Krankenkammer hinter der nächsten Wegbiegung stehen geblieben und hatte sich an die Tunnelwand gelehnt. Er stand mit gesenktem Kopf und starrte nachdenklich auf seine Stiefelspitzen. Wieso ging ihm das Erlebnis mit Stella so nah? Warum kränkte ihn ihre Abneigung so sehr? Er war es eigentlich gewöhnt, dass Neuankömmlinge, besonders Erwachsene, bei der ersten Begegnung erschraken, aber mit freundlichen, ruhigen Begrüßungsworten hatte er sie immer sehr schnell davon überzeugen können, dass er es gut mit ihnen meinte und sie nichts zu befürchten hatten. Es störte ihn, dass er so gar keinen Zugang zu Stella fand. Nicht einmal, nachdem er sie vor einem Sturz in den Fluss bewahrt hatte. Er würde sehr gern mit der Fremden gut auskommen wollen, schon allein deshalb, weil Jacob sie so sehr mochte. Doch gegen den Widerwillen, der ihm entgegengebracht wurde, war er machtlos. Auf diese Art war ein Kennenlernen unmöglich. Er schüttelte ratlos den Kopf. Wahrscheinlich musste er der Frau mehr Zeit lassen. Sie wusste ja jetzt, wer er war und wie er aussah. Sie musste sich nur erst an den Gedanken gewöhnen. Jacob, Vater und die anderen würden sicher auch noch ihren Teil dazu beitragen, ihr die Furcht vor ihm zu nehmen. Er nahm sich vor, Jacob zu Liebe geduldiger mit ihr zu sein.  

Die Schritte kleiner Füße und ein vernehmliches Nasehochziehen rissen ihn aus seinen Gedanken. Vincent hockte sich in den Gang, um mit ausgebreiteten Armen seinen unglücklichen Sohn in Empfang zu nehmen. Er drückte ihn tröstend an sich und wartete geduldig, bis sich sein Junge ausgeweint hatte. Dann nahm er das kleine Kinn in die eine Hand und wischte mit der anderen die Tränen von Jacobs Wangen. „Ist schon gut.“ flüsterte er, zog ein Taschentuch hervor und wollte dem Jungen die Nase putzen. Der aber trat einen kleinen Schritt zurück, nahm seinem Daddy das Tuch aus der Hand und meinte bockig: „Ich kann das schon alleine. Bin doch keine Baby mehr!“ Vincent stand auf, nickte und antwortete ernst: „Selbstverständlich! Entschuldige bitte!“ Lächelnd schaute er auf den Knaben hinab und wartete, bis dieser mit dem Taschentuch erledigt hatte, was dringend notwendig zu sein schien. Dann legte er ihm einen Arm um die Schulter und sie wanderten schweigend durch die Tunnel. In stummem Einverständnis  landeten sie am Ufer des Spiegelteiches. Dort sammelten sie kleine Steinchen auf und ließen diese abwechselnd über die Oberfläche des Sees hüpfen. Nach einer Weile brach Jacob das Schweigen: „Daddy, warum hat Stella Angst vor dir?“ Vincent hatte schon geahnt, dass irgendwann diese Frage kommen würde. Er setzte sich im Schneidersitz dicht ans Ufer des Sees und klopfte leicht mit der flachen Hand auf die freie Stelle neben sich. Ein Zeichen für Jacob, sich zu ihm zu setzen. Nach kurzer Überlegung sagte er leise: „Stella hat sicher noch nie einen Menschen wie mich gesehen. Es gibt Leute, die alles, was sie nicht kennen, meiden oder auch fürchten. Gib ihr Zeit. Sie wird sich schon an mich gewöhnen. Das kann man nicht erzwingen, weißt du?“ Jacob war mit dieser Antwort nicht wirklich zufrieden: „Aber Grace und der kleine Noah hatten doch auch keine Angst, als sie zu uns kamen.“ In dem Moment, als er versuchte, Jacob seine Frage zu beantworten, wurde ihm klar, dass er selbst bisher auch noch nicht darüber nachgedacht hatte, wieso diese Frau dermaßen panisch auf ihn reagierte. Vincent neigte leicht den Kopf zur Seite und sah den Jungen an: „Jeder Mensch ist da eben anders. Stella scheint besonders ängstlich zu sein. Wir können nicht wissen, was sie schon alles mitgemacht hat, bevor sie hierher kam. Vater weiß sicher mehr über sie. Wir werden ihn nachher fragen, einverstanden?“ Vincent wog einen grauen Kiesel in der Hand und warf ihn dann mit einer kleinen Bewegung locker aus dem Handgelenk fast bis in die Mitte des Teiches. Der Junge nickte und versuchte, zu verstehen. „Ich will so gern, dass Stella hier bleibt. Ich will nicht, dass sie Angst hat, denn wenn sie lacht, ist sie so schön! Dann glitzern ihre Augen so fröhlich!“ Er holte mit dem Arm weit aus und warf ein kleines Steinchen so weit er konnte. Der Kiesel traf fast genau die gleiche Stelle, an der vorher sein Vater den Stein versenkt hatte. Er nickte zufrieden und ließ ein leises „Yeah!“ hören. Vincent lächelte amüsiert. Jacob redete mit verträumtem Blick weiter: „Und wenn ich abends bei ihr auf dem Bett sitze und wir Geschichten hören, dann guckt sie mich manchmal so komisch an.“ Vincent legte die Stirn in Falten: „Komisch? Wie meinst du das?“ Jacob sah seinen Dad an und überlegte, wie er das erklären sollte. „Na, eben so komisch. Sie lächelt dabei und guckt so wie die Mami auf dem Bild!“ Vincent zuckte zusammen. Er schloss die Augen und unterdrückte ein Stöhnen. Jacob hatte ja in letzter Zeit viel von der Fremden geschwärmt und er, Vincent, verstand das auch nur zu gut, aber der Vergleich mit Catherine versetzte ihm nun doch einen schmerzhaften Stich ins Herz. Es störte ihn ein wenig, dass der Junge mehr für diese Stella zu empfinden schien als für seine Mutter. Doch konnte und wollte er dem Jungen keine Vorwürfe machen, denn der hatte seine Mama ja nie kennengelernt. Er selbst dagegen konnte sich natürlich noch kein genaues Bild von Stella machen. Es würde sicher noch eine Weile dauern, herauszukriegen, ob Jacob mit seiner Behauptung wirklich Recht hatte. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es irgendwo auf dieser Welt irgendjemanden gab, der Catherine in irgendeiner Weise ähnlich war.  

Jacob hatte die plötzliche Veränderung im Gesicht seines Vaters bemerkt und fragte vorsichtig: „Daddy? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Vincent nickte nur. Er atmete tief durch und versuchte, den Kleinen neben sich anzulächeln, der ihn mit seinen großen, blauen Augen besorgt ansah. „Du hast Stella sehr lieb, was?“ fragte er ihn. Jacob stand auf und war nun auf Augenhöhe mit seinem Dad. Er nagte an seiner Unterlippe und zögerte, bevor er leise antwortete: „Weißt du, Daddy, wenn ich mir früher Mamis Bild angesehen habe, dann hab ich mir immer überlegt, wie sie wohl gesprochen und gelacht hat, als sie noch hier bei uns lebte.“ Er grinste schelmisch: „Oder auch, wie sie mit mir schimpfen würde, wenn ich was anstelle.“ Sein Gesichtchen wurde wieder ernst: „Und dann, als Stella plötzlich da war und ich hab mir dann Mamis Bild angeguckt, da hatte Mami in meinen Gedanken auf einmal Stellas Stimme. Das war ganz komisch. So ein Mischmasch, verstehst du?“ Und ob er verstand! Der Kleine wollte eine Mutter und bastelte sie sich nun auf diese Weise zurecht. Jacob trat dicht an seinen Vater heran und legte seine Ärmchen um dessen Nacken. Zwei aquamarinblaue Augenpaare trafen sich und beide hatten den gleichen melancholischen Ausdruck. Vincent zog den Jungen an sich: „Ich verspreche dir, dass ich mir große Mühe geben werde, mich mit Stella zu vertragen. Es tut mir so sehr leid, was da vorhin passiert ist. Aber so ganz allein werde ich es nicht schaffen. Sie muss sich auch ein bisschen anstrengen. So lange sie es nicht will, kann ich nichts machen.“ Jacob nickte. „Ja, ich weiß. Heute Abend nach der Geschichte kann ich ja noch mal mit ihr reden. So kann das mit euch beiden ja schließlich nicht weitergehen!“ meinte er mit wichtiger Mine und klopfte seinem Vater auf die Schulter. Vincent lachte leise, da er in diesen Worten und diesem Tonfall eindeutig Vater wiedererkannte. 

Stella hockte mit einem furchtbar schlechten Gewissen im Bett und starrte vor sich hin. Sie hatte Vater und Mary ganz sicher nicht enttäuschen wollen und auf keinen Fall war es ihre Absicht gewesen, Jacob so wehzutun und seinen Vater zu brüskieren. Es war zum Verzweifeln, dass sie die Aversion gegen große, breitschulterige Männer nicht ablegen konnte. Eigentlich wäre der Besuch bei einem Psychologen dringend notwendig. Stella war sich unschlüssig darüber, was sie nun machen sollte. Jetzt, wo sie allein war und die letzte Stunde noch einmal Revue passieren ließ, wurde ihr langsam klar, dass sie auf die anderen ziemlich kindisch gewirkt haben musste. Alle hatten sich so bemüht, ihr nach der Krankheit wieder auf die Beine zu helfen und waren stets freundlich zu ihr. Sie kam sich so undankbar vor, aber sie hatte das Gefühl, niemals im Leben dieses Trauma, das David ihr verpasst hatte, überwinden zu können. Würde sie jemals mit diesem Vincent warm werden? Es war doch aber unmöglich, ihm ständig aus dem Wege zu gehen, um Geschehnisse wie das der letzten Stunde zu vermeiden. Ebenso konnte man von Vincent nicht verlangen, sich wegen ihr rar zu machen. Dieser Mann war fester Bestandteil der Tunnelgemeinschaft - von allen geliebt, verehrt und bewundert, das war ihr klar. Vater war hier unten der Regent und Vincent sozusagen der Thronfolger. Niemand hatte mehr als er das Recht, sich hier aufzuhalten und frei zu bewegen. Sie selbst dagegen war nur ein geduldeter Gast, der zufällig in den Tunneln gelandet war und den man aus Barmherzigkeit nicht weggejagt hatte. Sie wurde zwar von niemandem angefeindet, aber als voll integriertes Tunnelmitglied anerkannt war sie noch lange nicht. Diesen Status würde sie sich erst noch verdienen müssen, das hatte Vater unmissverständlich klargestellt. Welchen Nutzen hatte ihre Anwesenheit denn schon für die Leute hier unten? Eigentlich war sie doch nur ein Esser mehr, der versorgt werden musste. Bisher hatte sie nichts weiter getan als die Kinder ein wenig zu unterrichten und Mary etwas zu entlasten. Es würde sie nicht wundern, wenn man sie nicht in die Gemeinschaft aufnehmen würde, besonders nach dem, was vorhin passiert war. Ausgerechnet gegen Vincent diese extreme Abneigung zu hegen war ein dicker Minuspunkt. Wieso musste dieser Mann auch im Halbdunkel David so ähnlich sehen? Ihr Magen krampfte sich zusammen, wenn sie an die Gestalt dachte, die den gesamten Tunnelgang ausgefüllt hatte. Schon allein bei diesem Gedanken stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Ihr wurde immer bewusster, dass sie auch hier in den Tunneln eine ständige Angst verfolgen würde. Mit dieser allgegenwärtigen Furcht wollte und konnte sie nicht leben. Das hatte sie ihren Ehejahren zu Genüge aushalten müssen. Stella dachte an die riesige, behaarte Hand mit den langen, bedrohlichen Krallen. Sie spürte den schraubstockähnlichen Griff immer noch an ihrem Handgelenk, ebenso die Stärke des Armes, der sie mühelos emporgezogen hatte. Bei der Erinnerung an dieses Gesicht, das dem eines Raubtieres glich, die blitzenden Reißzähne und die wilde Mähne gefror ihr das Blut in den Adern. War er wirklich so harmlos, wie die anderen ihr vermitteln wollten? Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass dieser Mann bei Weitem gefährlicher und tödlicher als David sein konnte, würde er erst einmal in Wut und außer Kontrolle geraten. Andererseits – er hatte ihr das Leben gerettet. Hätte er ihr etwas Böses antun wollen, dann wäre ihre Bewusstlosigkeit eine ideale Gelegenheit dafür gewesen. Doch er hatte ja überhaupt kein Motiv, ihr weh zu tun oder sie gar zu töten. Doch einen Grund, sie vor dem Absturz zu bewahren, gab es für ihn auch nicht, und doch hatte er es getan. Aus Reflex? Aus Mitleid? Aus Menschlichkeit? Eigentlich sollte es für sie gleichgültig sein, warum dieser Mann so gehandelt hatte – sie schuldete ihm in jedem Falle Dank! Er trug schließlich keine Schuld an ihrer Phobie.  

Nach diesen Überlegungen kamen für Stella nur zwei Möglichkeiten in Frage – eine zweite Flucht in ihre kleine Versorgungskammer, wieder in der Fußgängerzone Bilder malen und an Hintertüren um Essen betteln oder eine selbstverordnete Konfrontationstherapie, um hier unten mit den Leuten, besonders mit Jacob, ohne Angst zusammenleben zu können. 

Stella entschied sich, Letzteres zuerst zu versuchen. Verschwinden konnte sie immer noch. Sie schlug die Decke zurück und schlüpfte in ihre Stiefel. Die Bewegungen fielen ihr schwer. Sie war müde und erschöpft. Am liebsten wäre sie sofort wieder ins Bett gekrochen, um sich in die warme Decke einzurollen. Aber wenn sie jetzt nicht sofort versuchte, ihren Plan in Angriff zu nehmen, würde sie ihn vermutlich ganz schnell wieder über den Haufen werfen und weglaufen.



[editiert: 17.01.10, 13:33 von sheena]
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schneeeule
Tunnelexperte


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New PostErstellt: 10.01.10, 15:55  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Dass Stella so eine Angst hat ist ja schrecklich. Da hätten Vater und Mary besser reagieren sollen und mehr zu ihr sprechen müssen. Aber auch Vincent hat nix weiter gesagt. Sonst reagieren doch alle auf seine Stimme.






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Anja
Tunnelstammgast


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New PostErstellt: 12.01.10, 18:09  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Ja das hast du wieder super geschrieben.

Och der Arme Vincent wie muss es ihm jetzt gehen nach dieser begegnung mit Stella.

Sie soll den anderen beiden das von ihren EX - Mann sagen so das sie ihre reagtion verstehen und ewentuel Vin auch.

Werden sie jemals Freunde die beiden?

Ich kann nur sagen spitze wieder.

LG Anja




Märchen schreibt die Zeit, immer wieder wahr, eben kaum gekannt dann doch zugewandt unerwartet klar, märchen schreibt die zeit es ist ein altes lied, bittersüß verwirrt, einsehn das man irrt und auch mal vergiebt....

die Schöne und das Biest
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sheena
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New PostErstellt: 12.01.10, 18:11  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

ich danke dir. na, sie ist ja schon dabei, das zu ändern. schaun wa ma, ne?!
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sheena
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New PostErstellt: 17.01.10, 13:35  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

ich habe das 12. Kapitel überarbeitet.
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Anja
Tunnelstammgast


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New PostErstellt: 17.01.10, 20:46  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Habe mir deine überarbeitung durchgelesen.

Ich sage dir das hört sich ja alles ganz super an.

Bin gespannd was sie jetzt vor hat.

Geht sie jetzt zu Vincent um mit ihm zu reden und ihm alles zu sagen.

Bin schon so was von gespannd wie es da jetzt weiter geht.

LG Anja




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schneeeule
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New PostErstellt: 17.01.10, 21:12  Betreff: Re: eine neue familie  drucken  weiterempfehlen

Nun hast Du das letzte Kapitel verändert. Das ist sehr gut geworden. Aber es bleibt wieder die Frage, wie es weiter geht. Ich bin schon sehr gespannt darauf.







[editiert: 17.01.10, 21:12 von schneeeule]
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