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New PostErstellt: 26.12.04, 10:29     Betreff: in memoriam Rudi Dutschke




entnommen aus ND-Feuilleton vom 24., 25., 26. Dezember 2004


Friede auf Erden – Friede für Vietnam

Vor 25 Jahren starb Rudi Dutschke – Erinnerung an eine spektakuläre Weihnachtsaktion

Von Carsten Hübner



Bürger- und Pastorenschreck Rudi Dutschke
Foto: ND-Archiv



Für das Springerblatt »Die Welt« waren die Verantwortlichen für den Tumult schnell ausgemacht. Eine Gruppe von Studenten, angeführt von Rudi Dutschke, habe am Heiligen Abend 1967 den Mitternachtsgottesdienst gestört und dadurch eine Schlägerei in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ausgelöst. Die Empörung der Kirchgänger, die sich in der »festlichen Stunde ihres Glaubens zur Andacht zusammengefunden hatten«, sei nur zu begreiflich gewesen.

Sie war vor allem handgreiflich. Die »jungen Christen und Marxisten, und zwar drei Mädchen und zwei Jungen«, so Dutschke nach der Aktion, hätten lediglich Plakate mit der Losung »Friede auf Erden – Friede für Vietnam« am Altar abstellen wollen. Dennoch wurden sie von den Gottesdienstbesuchern sofort gewaltsam attackiert und aus der Kirche gedrängt. Dutschke selbst erlitt eine stark blutende Kopfwunde. Ein 60-jähriger Kriegsinvalider hatte ihm mit dem Knauf seines Gehstocks auf den Kopf geschlagen; er wurde im Oktober 1968 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Brave Bürger, »die ihren Gänsebraten mit einer erbaulichen Rede verdauen« wollten, erinnerte sich der heutige Bundesinnenminister Otto Schily, hätten sich plötzlich »in einen Höllenhaufen« verwandelt. Dreißig Bremer Pastoren reagierten ähnlich erschrocken auf die Vorkommnisse. Sie telegrafierten postwendend, dass »ein Bethaus nicht zur Schlägergrube« werden dürfe. Die »Glaubwürdigkeit der christlichen Gemeinde und ihrer Friedensbotschaft« stehe auf dem Spiel. Weshalb statt der Konfrontation der Dialog mit den Studenten gesucht werden sollte.

Der geschäftsführende Pfarrer der Gedächtniskirche, Gerhard Pohl, erstattete dennoch Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Das Westberliner Establishment tobte. CDU und Junge Union forderten, »dem Terror radikaler Minderheiten« endlich ein Ende zu machen und verglichen die weihnachtlichen Studentenaktionen mit Methoden der SA. Zudem, so mutmaßte »Die Welt« am 27. Dezember unter Berufung auf »politische Kreise«, sei es eine zentral geplante und gelenkte Aktion gewesen, denn auch in Hannover, Bremen, Delmenhorst und Hamburg hätten Demonstrationen stattgefunden. Bundeskanzler Georg Kiesinger habe den Bonner Münster sogar durch den Seitenausgang verlassen müssen, berichtete das Blatt weiter, weil Protestierer vor der Kirche rote Fahnen und Plakate mit der Aufschrift »Betet für den Vietcong« getragen hätten.

In den nun folgenden Wochen und Monaten verloren die Verantwortlichen in Staat und Politik vollends die Nerven. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) verhängte für die Zeit des Internationalen Vietnam-Kongresses Mitte Februar ein stadtweites Demonstrationsverbot, um angeblich geplante Angriffe auf US-Kasernen zu verhindern. Sein Innensenator Kurt Neubauer gab sich kampfbereit: »Wer die Konfrontation will, muss wissen, dass der Punkt erreicht ist, wo er sie auch bekommt.« Derweil hievte die Springer-Presse Bürgerkriegsszenarien in ihre Blätter. Die Öffentlichkeit reagierte selbst auf Kleinigkeiten hysterisch.

Doch das Establishment mobilisierte nicht nur die Staatsgewalt. Unter der Überschrift »Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!«, rief die »Bild«-Zeitung bereits Anfang Februar den Mob auf den Plan; »Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.«

Freunde von Rudi Dutschke bekamen es mit der Angst, bangten um seine Sicherheit. Den gewaltsamen Angriff auf seine Person vom 24. Dezember – nicht durch die Staatsgewalt, sondern durch aufgehetzte Bürger – begriffen sie als Zäsur. Der Friedensforscher Prof. Ossip Flechtheim mahnte Anfang Februar auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, dass, »die Faust eines jeden Polizeiwachtmeisters oder jedes Möbelpackers stärker ist als die Faust von Herrn Dutschke«. Bereits Wochen zuvor warnte ihn Wolf Biermann in einem Brief vor eventuellen Anschlägen der Rechten. Doch Dutschke verließ sich, wie er seinem Tagebuch anvertraute, weiterhin auf seine »Beine und Fäuste, vom Maul ganz zu schweigen«.

Am 21. Februar, dem Tag der Kundgebung des Berliner Senats gegen den Vietnamkongress, eskalierte die Situation schließlich. Dass der umstrittene Kongress mit rund 5000 Gästen und die gerichtlich durchgesetzte Abschlussdemonstration mit mehr als 12000 Teilnehmern friedlich verlaufen waren, tat der aufgeheizten Stimmung auf dem John-F.-Kennedy-Platz keinen Abbruch. Der DGB-Landesvorsitzende Walter Sickert nannte die Studenten eine »Handvoll Revoluzzer«, für den Berliner SPD-Chef Kurt Mattick waren sie bloß »Unruhestifter und Randalierer«. Die rund 100000 Teilnehmer trugen Transparente mit Aufschriften wie »Dutschke Volksfeind Nr. 1«, »Dutschke raus«, »Politische Feinde ins KZ«, oder »Bei Adolf wäre das nicht passiert«.

Junge Leute, die Flugblätter verteilten, wurden vom Mob verprügelt. Einen Mann, der irrtümlich für Rudi Dutschke gehalten wurde, jagte die Menge unter Rufen wie »Lyncht die Sau!«, »Schlagt ihn tot!«, »Kastriert das Judenschwein« oder »Dutschke ins KZ«. Mehr als einhundert Polizisten mussten aufgeboten werden, um den falschen Dutschke mit einem Polizeifahrzeug lebend vom Platz zu bringen. Einige Tage später, noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse, schrieb der linke »Extradienst«: »Dutschke muss stündlich mit offener Lynchjustiz durch die obrigkeitlich angefeuerten und gedeckten Faschisten rechnen.«

Keine zwei Monate später, am 11. April 1968, wurde der 28-jährige Rudi Dutschke vom Arbeiter Josef Bachmann niedergeschossen und schwer verletzt. Bachmann gehörte dem rechtsextremen Milieu an. Der Hass habe ihn zu der Tat getrieben, gestand er vor Gericht – obwohl er das Opfer eigentlich gar nicht kenne. Dutschke verzieh seinem fünf Jahre jüngeren Attentäter, schrieb ihm ins Gefängnis, wollte ins Gespräch kommen. Bachmanns Selbstmord im Februar 1970 hat er nicht verhindern können.

Die Nachricht vom Attentat machte schnell die Runde. Über Tage lieferten sich aufgebrachte Studenten Straßenschlachten mit der Polizei. In mehreren Städten wurden die Springer-Niederlassungen belagert und Auslieferungsfahrzeuge beschädigt. Die »Osterunruhen« waren die gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit Bestehen der Bundesrepublik. In München starben dabei der AP-Pressefotograph Klaus Frings und der Student Rüdiger Schreck.

Der Publizist Sebastian Haffner zog noch 1968 im »Stern« eine erste Bilanz: »Die schlafende Bestie geweckt zu haben – das ist es, was viele Liberale der neuen Linken und ihren revolutionären Gesten im stillen zum Vorwurf machen. Aber es hilft nichts, darüber zu jammern; übrigens könnte man es Dutschke auch zum Verdienst anrechnen, den bisher versteckten Faschismus zur Selbstenthüllung gereizt zu haben.«

Doch zu welchem Preis? Rudi Dutschke hat sich nie völlig von den Schüssen erholt. Am 24. Dezember 1979, elf Jahre nach der Tat, starb er an den Folgen seiner Kopfverletzungen. Sein drittes Kind wurde im April 1980 geboren. Rudi Marek hat seinen Vater nicht mehr kennen gelernt.

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