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Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"

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soyfer

Beiträge: 205

New PostErstellt: 16.11.05, 23:26  Betreff: Re: Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"  drucken  weiterempfehlen

Ich weiß, dass du weißt - zumindest gehe ich nach dem von dir bisher gelesenen davon aus. Und zumindest in Wien ist der Spruch "Arbeit schändet" unternnbar mit der anarchistischen Gruppe Revolutionsbräuhof (RBH) verknüpft, der bei jedem Infotisch den Hut der "Anständigen" hochgehen ließ, ob nun bornierten Bonze oder gestanderen Arbeiter. Daher wollte ich mal schaun, ob der Spruch auch in Berlin geläufig ist.

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bjk

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Ort: Berlin


New PostErstellt: 16.11.05, 19:02  Betreff: Re: Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"  drucken  weiterempfehlen

    Zitat: soyfer
    Meinst du diese Frage ernst?
Ja klar, nix für ungut aber Deine zwei Worte "Arbeit schändet" sozusagen in den luftleeren Raum ohne Kommentar eingestellt sind durchaus mißverständlich und mehrdeutig. Ich hab nämlich bissige Kritik am Eingangsbeitrag herausgelesen. Möglicherweise wird's anderen LeserInnen aber ebenso ergangen sein.

Jetzt weiß ich's ja besser und brauche Deine Hilfe in Sachen richtiger Fragestellung nicht
... jetzt weiß ich nämlich, "wen Arbeit schändet".

Ansonsten stimme ich Deiner nachgereichten Erläuterung weitgehend zu.

Gruß
bjk





[editiert: 16.11.05, 19:04 von bjk]
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soyfer

Beiträge: 205

New PostErstellt: 16.11.05, 16:41  Betreff: Re: Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"  drucken  weiterempfehlen

Meinst du diese Frage ernst? Sollte die Frage nicht eher lauten: wen schändet sie?
Arbeit ist damals, heute und in absehbarer Zeit auch noch Lohnarbeit und Lohnarbeit heißt, dass man Lebenszeit für Lohn eintauscht. Im Kapitalismus heißt Lohnarbeit zusätzlich, dass man für seine Arbeit weniger erhält, als der, dem man tagtäglich seine Arbeit gibt, dafür erwirtschaftet. Wer gibt sich aber damit zufrieden, für seine Tätigkeit weniger zu erhalten, als mit ihr erzielt wird? Derjenige, der keine Wahl hat, sein Leben gegen Geld einzutauschen, weil er nichts anderes hat. Somit ist Arbeit das gesellschaftliche Prinzip, dass der Arme einen Gutteil seines Lebens damit verbringt, dem Reichen zum Reichtum zu verhelfen. Und das ist eine Schande, nicht für den Arbeiter, sondern für die Gesellschaft und die Befürworter der Arbeit (und dazu gehören auch Sozialdemokraten usw.).

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bjk

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New PostErstellt: 16.11.05, 15:07  Betreff: Re: Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"  drucken  weiterempfehlen

    Zitat: soyfer
    Es bleibt mir nur hinzuzufügen:
    Arbeit schändet!!!
meinste das ernst? Hast Du Argumente?

Gruß
bjk



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soyfer

Beiträge: 205

New PostErstellt: 15.11.05, 23:26  Betreff: Re: Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"  drucken  weiterempfehlen

Es bleibt mir nur hinzuzufügen:
Arbeit schändet!!!

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bjk

Beiträge: 7353
Ort: Berlin


New PostErstellt: 12.09.05, 16:21  Betreff:  Ketzerische interessante Gedanken zur "Arbeitswelt"  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen




[kopiert aus:[/b] http://www.brandeins.de/home/inhalt_detail.asp?id=1763&MenuID=8&MagID=65&sid=su8459851015134816


DER LOHN DER ANGST


Automation und Fortschritt, Wissensarbeit und Kapitalismus
vernichten Arbeitsplätze. Und das ist gut so.
Es geht nämlich auch anders.


Text: Wolf Lotter



I. Die Maßnahme


Wer heute nicht ans Paradies glaubt, kommt nicht in den Himmel, sondern nach Eidelstedt. Dort, im kleinbürgerlichen Stadtteil im Nordwesten Hamburgs, wird noch hochgehalten, was immer weniger bringt: Erwerbsarbeit.

Dort kämpfen die letzten Helden der Vollbeschäftigung für den Endsieg der Vollerwerbsgesellschaft. Der Arbeitslose, an sich ein funktionsloses Glied der Arbeitsgemeinschaft aller Deutschen, soll nicht verlernen, worauf Wohl und Wehe des Vaterlands gebaut sind: Arbeiten. Koste es, was es wolle.

Und das geht nach den Aufzeichnungen eines Arbeitslosen so: „Zuerst haben wir alle Arbeitsbekleidung erhalten. Blaue Latzhosen und eine Jacke, auf der groß draufsteht: HAB Eidelstedt – Hamburger Arbeits-Beschaffung Eidelstedt heißt das.“ Die Montur müsse sein, erklärt der Fallmanager der Bundesagentur für Arbeit, die mit 58 Milliarden Euro Jahresbudget rund fünf Millionen „Kunden“, wie die Erwerbslosen neuerdings heißen, verwaltet. Schließlich soll der Bürger draußen sofort merken, dass etwas geschieht. Aber was? Das ist noch unklar, wie vieles, Dialektik des modernen Sozialstaats eben. An die Ein-Euro-Jobber, die hier für ihren künftigen Einsatz üben sollen, werden jedenfalls dicke Monturen ausgegeben, obwohl sie in Innenräumen für den Ernstfall trainieren – „damit sie sich schon mal an Arbeitskleidung gewöhnen“. Gewöhnung ist überhaupt das A und O des Arbeitslebens, und deshalb rücken die Erwerbslosen im Alter von 40 bis 55 Jahren bereits um sechs Uhr früh an, zum Morgenappell. Jobs gibt es keine und auch nichts zu tun, was für irgendjemanden Sinn ergeben könnte. Stattdessen lässt der Fallmanager eine Gipswand aufstellen, die er von den potenziellen Ein-Euro-Jobbern mal in Blau, mal in Weiß streichen lässt, so lange, bis die dünne Platte die Farbe nicht mehr trägt. Eine Wand weiter üben sich Arbeitslose im Fliesenlegen – Kachel rauf, bis die Wand voll ist, Kachel runter, ratsch. Eine Frau schnipselt mit einem Teppichmesser Auslegeware klein, die Stückchen kommen in einen Müllsack. Am Ende des Tages gibt’s zum Dank ein klein wenig Hoffnung. Möglicherweise, sagt der Fall-manager, gäbe es demnächst ein paar richtige Jobs. Vielleicht.

All das spielt, wie gesagt, nicht in einer Irrenanstalt, sondern in Deutschland. Viele im Arbeits-Trainings-Camp in Eidelstedt haben Kinder, die gute Chancen haben, demnächst eine ähnliche Maßnahme zu erhalten. Sie alle hier haben Familie, Freunde. Was kostet es, haben zu wollen, was es nicht mehr gibt? In Eidelstedt und anderswo ist der Preis klar: die Würde.


II. Die Arbeitslüge

„Walt Disneys Lustige Taschenbücher“ sind, wenn es um die Familie Duck aus Entenhausen geht, ein grandioses Sittenbild einer wirren Gesellschaft. Die drei klügsten Köpfe in diesen Geschichten – wer würde das bestreiten? – sind die Neffen des trostlosen Systemerhalters Donald Duck. Sie heißen Tick, Trick und Track. In fast jedem Abenteuer, das sie bestehen müssen, finden sie die richtige Lösung. Die drei Jungenten sind gewiss nicht faul. Aber sie kennen den Unterschied zwischen Arbeit und Tätigkeit, zwischen sturer Routine und kreativem Problemlösen. Sie sind eine Entscheidungselite, und sie können das auch sehr klar ausdrücken. Ihr Motto lautet: „Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt, ist verrückt.“

Mit dieser Einstellung würden die drei pubertierenden Enten hier zu Lande nicht alt. „Sozial ist, was Arbeit schafft“, behauptet die CDU, für die SPD sind Arbeitsplätze die schönsten Plätze in Deutschland. Die Besserverdienenden von Bündnis 90/Die Grünen singen „Brüder, durch Sonne zur Arbeit“, und die FDP quengelt: „Arbeit muss sich wieder lohnen.“ Am Ende der ideologischen Verirrungen steht die Linkspartei: „Arbeit soll das Land regieren.“

Mit diesem Slogan kommen diese Neo-Stalinisten der Wahrheit, wenngleich ungewollt, ziemlich nah: Ohne Arbeit, das ist der letzte gemeinsame Nenner der politischen Psychologie, kein Staat, keine Gesellschaft. Und folgerichtig auch kein Leben.

Schon die Phrase von der Rückkehr zur Vollbeschäftigung ist eine Farce. Zu keinem Zeitpunkt des Industriekapitalismus, der seit fast zwei Jahrhunderten währt und der ohne Zweifel die meisten Beschäftigten aller Zeiten generierte, gab es so etwas Ähnliches wie Vollbeschäftigung für mehr als einige kurze, außergewöhnliche Jahre. Was die Arbeitswütigen meinen, umschreibt den Zeitraum von Anfang der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das ist die Zeit, die bis heute als unverrückbares Ziel dieser Gesellschaft beschworen wird: das deutsche Wirtschaftswunder. Es stützt sich allerdings auf 60 Millionen Tote, die Opferzahl des Zweiten Weltkriegs.

Ein Land, in dem praktisch alles neu aufgebaut werden musste, wofür zudem kaum männliche Arbeitskräfte zur Verfügung standen, hat zu tun – keine Frage. Doch nie gab es Vollbeschäftigung in ganz normalen Zeiten. Bereits 1966 musste der Konstrukteur der Währungsreform und des mystischen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, von seiner Kanzlerschaft zurücktreten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik war es nicht gelungen, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Und die Arbeitslosigkeit, die seit 1949 als besiegt galt, stieg auf 0,7 Prozent.

Seither herrscht eine Allparteien-Einigkeit, über die Wirklichkeit hartnäckig hinwegzureden. „Ein Schweigegelübde unseres Establishments“, hat das der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz genannt. Glotz gehörte in den achtziger Jahren zu den ersten Vertretern dieses Establishments, der dieses Schweigen brach.

Seine These von der Zwei-Drittel-Gesellschaft besagte, dass immer weniger Menschen gebraucht würden, um die sagenhaften Produktivitätsgewinne der modernen Ökonomie zu erwirtschaften. „Der Rest kann das Spiel nicht mitspielen oder will es nicht. Die leben von Vermögen, Erbschaften, Sozialhilfe, Schwarzarbeit, Omas Rente – kurz und gut, sie bringen sich irgendwie über die Runden.“ Die These des einstigen SPD-Vordenkers ist heute bestätigt: Gut 15 Millionen Bundesbürger leben in den Verhältnissen, die Glotz beschrieb – ein Drittel davon registriert als Arbeitslose, der Rest lebt vom Ersparten oder schlägt sich mit Gelegenheitsarbeit und Schwarzarbeit durch, die ein knappes Fünftel des Bruttoinlandsproduktes beträgt.

Das Gerede von Vollbeschäftigung, sagt Glotz, ist nichts weiter als „sinnloses Geschwätz“.


III. Die Mühe

In der Welt der Arbeit ist nichts, wie es scheint. Arbeit, genauer: Erwerbsarbeit, galt den antiken Denkern als so ziemlich das Letzte. Man unterschied, wie heute wieder, Arbeit und Tätigkeit. Das eine sicherte die nackte Existenz und entsprang immer den Notwendigkeiten. Das andere hingegen beschrieb, was Menschen gern und freiwillig tun, selbst dann, wenn es besonderer Leistungen und Anstrengungen bedurfte. Bei den alten Germanen wurde das Wort für Knecht und Arbeit schließlich eins: orbu. Das englische Wort Labour hat seinen Ursprung im lateinischen labor. Labor heißt: Mühe.

Seit der Apostel Paulus sein „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ verkündete, ist die tägliche Mühe zur Pflicht geworden. Im sechsten Jahrhundert gründet Benedikt von Nursia den einflussreichsten Orden der Kirchengeschichte, den der Benediktiner. Ora et labora heißt deren Motto – beten und arbeiten. Sonst nichts. Darauf bauten die Erfolge des Abendlandes für viele Jahrhunderte. Doch trotz der allerchristlichsten Beschwörungen war Erwerbsarbeit bis zur Industrialisierung keineswegs der Mittelpunkt des menschlichen Lebens. Dass sich die herrschende Klasse dem Müßiggang ergab, verstand sich von selbst, aber auch die Bevölkerung schuftete, allen Legenden zum Trotz, nicht wie verrückt. Im Mittelalter gab es wenigstens 50 strikt arbeitsfreie Tage im Jahr. Anstrengenden Arbeitsphasen, etwa in der Erntezeit, folgten längere Abschnitte, in denen nur wenig gearbeitet wurde.

Die Industrialisierung beendete das schlagartig. Zwischen 1830 und 1860, den ersten ungehemmten Jahren der neuen Ökonomie, betrug die durchschnittliche Arbeitszeit am Tag zwischen 14 und 16 Stunden, pro Woche 85 Stunden. Dazu kamen oft stundenlange Wegzeiten in die Fabrik. Eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit auf maximal 48 Wochenstunden gab es erst in der Weimarer Republik. Die Nationalsozialisten hoben alle Beschränkungen wieder auf, erst 1948 wurden die Verhältnisse von vor 1933 wiederhergestellt. In den sechziger Jahren wurde in den meisten Tarifverträgen die 40-Stunden-Woche festgeschrieben.

Zu diesem Zeitpunkt aber begann sich die Arbeitsgesellschaft, die das gesamte Leben regelte, fundamental zu ändern. In den Industriestaaten wurde die Zahl der Erwerbsarbeiter in der Industrie erstmals durch die im Dienstleistungsbereich übertroffen. Im Jahr 2000 spielte die Produktion in Deutschland keine größere Rolle als die der Landwirtschaft Ende der fünfziger Jahre: Kaum ein Drittel der Beschäftigten stellt noch etwas Gegenständliches her.

Auch für das, was wir für Arbeit halten, gilt: Die Veränderungen sind dem Bewusstsein weit voraus. Nach wie vor hält sich der Mythos der Arbeit als Schaffen, Schuften und Rackern. Je fleißiger eine Nation, so glauben wir, desto erfolgreicher ist sie. Hart arbeiten – und alles wird gut. Für einige stimmt das auch. Doch längst nicht mehr für die Mehrheit.


IV. Was ist „neue Arbeit“?

Der Industrialismus ist die Ursache des Arbeitswahns – und in ihm liegt gleichsam auch der Keim für das unausbleibliche Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft. Das Ziel jeder Produktivitätssteigerung ist es, mehr Ergebnis mit weniger Aufwand zu erzeugen, von den Physikern auch Arbeit genannt. Automation ist die Folge intensiven Nachdenkens. Die logische Folge: Je mehr Kopfarbeiter schuften, desto weniger bleibt für Handarbeiter übrig. Das liegt daran, dass Kopf- oder Wissensarbeiter nahezu immer darüber nachdenken, welche Prozesse in der Entwicklung oder Produktion verbessert werden können. Man kann das durch simple Beobachtung leicht nachvollziehen: In Branchen, in denen stupide körperliche (und einfache geistige) Arbeit durch Maschinen und Systeme ersetzt werden, etwa in der Informations- und Kommunikationstechnologie, schuften die Gestalter dieser Automations-Verfahren besonders intensiv. Ein 14-Stunden-Tag gilt hier als normal, so viel also, wie noch vor fünf Generationen den Proletariern der frühen Industriegesellschaft abverlangt wurde.

Das ist die wirkliche „neue Arbeit“, eine Tätigkeit, die körperliche oder auch nur routinemäßige Arbeit ersetzt. Diese Arbeitseliten, die es auch in der fortschrittlichen Produktion, in der Biotechnologie und anderen Automationsbranchen gibt, werfen zwei Schatten: einen echten, der sie als Liquidatoren der Arbeit erscheinen lässt. Schemenhaft aber wird eine zweite Kontur sichtbar: die des Vorbilds, das wie verrückt schuftet, das die Arbeit noch hochhält – und damit die Wertvorstellungen der alten Arbeitsgesellschaft. Während also, ganz nach Plan, die alte Plackerei durch Technik, Fortschritt und Wissensarbeit beendet wird, haben all jene, die sich nicht mehr plagen müssen, ständig ein schlechtes Gewissen. Schizophrene Wahrnehmungen sind in Zeiten des Wandels, der Transformation, unvermeidlich.

Der Übergang vom Leistungsträger zum Leistungsempfänger ist fließend. Bereits in den neunziger Jahren, schreibt der Wirtschaftshistoriker Wolfgang Reinhard, „wurden nur noch 25 Prozent der erwachsenen Lebenszeit auf die Arbeit verwendet“. Frauen und Männer also, die physisch und psychisch in der Lage gewesen wären zu arbeiten, verbrachten im statistischen Mittel nur noch ein Viertel ihres Lebens mit dem, was sie bis heute als wichtigstes Bürgerrecht begreifen: mit Erwerbsarbeit.

Diese Realität wird hartnäckig übersehen. Und die Konsequenz daraus, dass mit Arbeit künftig kein Staat mehr zu machen ist, wird vom Establishment geleugnet. Die schlichte Ursache: Macht. Wer einstellen und entlassen kann, hat Macht über das Leben anderer.

Noch größer ist die Macht von Politikern, die mit Gesetzen und Reformen diese Prozesse regeln. Ein Kanzler, der Arbeit schafft, ist mächtig, einer, der das nicht schafft, nutzlos.


V. Arbeitslosigkeit ist Erfolg

Schlimm ist die aktuelle Lage nur, weil wir sie immer nur von einer Seite sehen: Ohne Erwerbsarbeit ist der Mensch kein Mensch. Dabei ist das Fiasko der Arbeitsgesellschaft nichts weiter als der Erfolg des Kapitalismus. Seine Fähigkeit, mit immer weniger Leistung immer bessere Ergebnisse zu erzielen, schafft Arbeitslosigkeit. Von Übel ist das nur, weil wir unsere wirklichen Siege nicht wahrnehmen.

Die Automation ist Segen, nicht Fluch. Sie ist höchst erfolgreich, wenngleich die Auswirkungen im alten Sozialsystem nicht mehr ankommen können. Denn die Quelle des alten Sozialstaates war Arbeit, die man in Geld tauschte. Heute wird Arbeit durch technologischen Fortschritt immer mehr überflüssig; Erträge und Profite entstehen dadurch, dass wir arbeiten lassen. Warum ist es so schwer, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen?

In den Zeiten des Wirtschaftswunders stieg die Produktivität allein zwischen 1948 und 1965 um fast 300 Prozent. Nach Abzug der Sonderkonjunktur erlebte die Bundesrepublik zwischen 1970 und 1995 immer noch eine Produktivitätsverdoppelung. Das geschah aber bereits vor dem Hintergrund steigender Massenarbeitslosigkeit und des Zusammenbruchs großer Teile der alten Industrien, also gebremst.

Tatsächlich ist es keineswegs nötig, dass in Deutschland noch 26,5 Millionen unselbstständig Erwerbstätige ihrer Erwerbsarbeit nachgehen. Lothar Späth und der frühere McKinsey-Manager Herbert A. Henzler haben im Jahr 1993 eine Berechnung angestellt: Was würde passieren, schöpfte man das technisch machbare Automationspotenzial in der Bundesrepublik voll aus? Die Antwort: Eine Arbeitslosigkeit von 38 Prozent wäre normal. Eindrucksvoll bestätigte eine weitere Studie der Universtität Würzburg im Jahr 1998 die Annahme der Autoren: Allein im Bankensektor liegt das Automationspotenzial bei mehr als 60 Prozent, im Handel immer noch bei mehr als der Hälfte des gegenwärtigen Beschäftigungsstands. In diesen und vielen anderen Sektoren ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Potenziale ausgenutzt werden.

Die Kräfte, die sich am Vollerwerbsmodell festkrallen, rechnen mit Wundern. Umverteilung der Arbeit soll das Schlimmste verhindern. Das ist schon oberflächlich betrachtet grober Unfug. Selbst in längst vergangenen Zeiten, als die meisten Menschen nur stupide, leicht einstudierbare Arbeit in Fabriken leisteten, ließ sich das kaum realisieren. Wenn Arbeit aber vor allem geistige Tätigkeit ist, also Wissensarbeit – wie sollte Umverteilung dann funktionieren? Durch Gehirntransplantationen?


VI. Das Recht auf Zuchthaus

Bereits vor einem guten Jahrhundert war diese Entwicklung absehbar und eine Lösungsidee auf dem Tisch. Im Jahr 1912 erschien ein Buch des österreichischen Ingenieurs und Schriftstellers Joseph Popper-Lynkeus, der unter den Intellektuellen aller Nationen für Furore sorgte. In mehr als 30 Sprachen übersetzt, formulierte Popper-Lynkeus darin seine Theorie von der „Allgemeinen Nährpflicht“, die nichts anderes besagt, als dass Teile der durch Automation erzielten Produktivitätsgewinne zu einer Grundsicherung aller Staatsbürger führen müssten. Die Idee eines an keine Bedingungen geknüpften Grundeinkommens, das mit minimalem bürokratischem Aufwand verteilt und zur Vermeidung der elementarsten Existenzsorgen dienen sollte, faszinierte etwa Albert Einstein, der im „Recht auf Arbeit“ nichts anderes erkennen konnte als das „Recht auf Zuchthaus“.

Ökonomen und Sozialwissenschaftler plädieren seit Jahrzehnten dafür, die vorhersehbaren Folgen der ausklingenden Arbeitsgesellschaft durch ein Grundeinkommen für alle Bürger abzufedern. Der Unterschied zur Sozialhilfe und ihre vielfältigen Erscheinungsformen ist einfach: Ein Grundeinkommen, auch Bürgergeld genannt, wird ohne Prüfung, bedingungslos sozusagen, jedem Staatsbürger zuerkannt. Es dient der Sicherung der Existenz. Es wird bezahlt wie ein Gehalt und ersetzt in fast allen bekannten Modellen die Vielzahl öffentlicher Almosen, die den Sozialstaat heute so heillos überfrachten.

Die Idee vom Geld für alle lässt sich ideologisch nicht verorten. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman propagierte sie schon 1962: Wer unterhalb einer bestimmten Einkommensschwelle bleibt, erhält vom Staat einen festen Betrag. Finanziert wird diese negative Einkommenssteuer durch Steueraufkommen. Eine klassische Transfer-leistung, die allerdings in den USA nur zum Teil realisiert wurde. So erhalten US-Bürger mit einem Einkommen unter 12 000 Dollar Geld über die negative Einkommenssteuer zurück – empfangsberechtigt ist jedoch nur, wer regelmäßiger Erwerbsarbeit nachgeht.

Neben dem Nobelpreisträger Friedman, der gern auch als Vater des Neoliberalismus bezeichnet wird, ist der französische Philosoph André Gorz ein bekannter Verfechter des Grundeinkommens. Gorz, langjähriger Mitstreiter Jean-Paul Sartres, argumentiert für das Grundeinkommen genauso wie der liberale Soziologe Lord Ralf Dahrendorf: „Eine Grundausstattung für alle muss garantiert sein. Ein Gesellschaft braucht einen Fußboden, unter den niemand geraten darf.“

Die Motivlage mag bei linken und liberalen Befürwortern des Grundeinkommens auseinander klaffen. Für die einen ist es die konsequente Fortsetzung der Umverteilung, die Sozialdividende, die jedem zusteht, der Bürger ist. Für die anderen geht es um die Möglichkeit, die volle Dynamik der Rationalisierung und Automation auszuschöpfen – quasi dem ungezügelten Fortschritt freien Lauf zu lassen und gleichzeitig die Sozialbürokratie auf ein Minimum zu beschränken. Denn wo ein Grundeinkommen den Lebensstandard sichert, braucht man weder Sozialhilfe noch Arbeitslosengeld, kein Rentensystem oder Kindergeld – und auch nicht die unzähligen weiteren Hilfen und Subventionen, die heute nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden.


VII. Das Recht der Bürger

Der Frankfurter Sozialwissenschaftler Sascha Liebermann ist einer der Initiatoren der Platt-form „Freiheit statt Vollbeschäftigung“, in der Wissenschaftler aller Disziplinen Argumente für ein bedingungsloses Grundeinkommen zusammentragen. Er sieht die gegenwärtige Lage nicht tiefschwarz, im Gegenteil: Langsam sei die Voraussetzung geschaffen, dass sich die Energie verzehrenden Existenzängste und Nöte der Menschen in positive Bahnen lenken lassen: „Die Arbeitslosigkeit ist das Resultat eines riesigen Erfolges – des gelungenen Projektes, mit immer weniger Arbeit immer mehr zu produzieren. Und es ist doch ganz klar, dass wir nur einen Mechanismus brauchen, damit möglichst viele davon profitieren. Sehen Sie mal, was wir mit jungen Menschen machen: Der Druck, der auf Jugendlichen lastet, ist der Feind jedes Wagnisses. Die werden von allen Seiten angelabert, dass sie sich einen der wenigen noch verfügbaren Vollerwerbs-Arbeitsplätze erkämpfen sollen. Deshalb riskieren sie nichts. Sie haben Angst, unter die Räder zu kommen.“

Die Frage, sagt Liebermann, sei nicht: Wie schaffe ich es, das alte System weiterhin zu finanzieren? Die Frage lautet: Wir kriegen wir ein System hin, bei dem die ungeheuren Möglichkeiten der Automation ihren Nutzen entfalten? Statt Milliarden an Steuergeldern und praktisch alle Energie auf die sinnlose Debatte um den Erhalt der Vollbeschäftigungsgesellschaft zu lenken, wäre es dringlicher, die Grundlagen einer sozialen Grundsicherung für alle auszuarbeiten. „Das ist die wichtigste Arbeit, die wir in der Transformation zu leisten haben. Dabei entsteht ein kleiner, aber starker Staat, dessen einzige Aufgabe die Sicherung des Rahmens ist. Und in dem man keine riesige Sozialadministration mehr braucht.“

Von den links-alternativen Grundeinkommens-Debatten der achtziger Jahre grenzt sich Liebermann ab: „Da ging es eigentlich nur darum, dass einige wenige etwas mehr Kohle von einem Staat wollten, den sie im Grunde nicht leiden konnten. Die Voraussetzung dafür, dass wir ein bedingungsloses Grundeinkommen bezahlen können, ist, dass wir akzeptieren, dass der Bürger weiß, was ihm gut tut. Und dazu müssen wir in Deutschland erst einmal den Bürger – den Citoyen – als eigenständig handelndes Wesen begreifen.“

Das sagt auch der Historiker Paul Nolte von der Freien Universität Berlin oft und gern. Allerdings schlägt der konservativ-grüne Geschichtsprofessor das Kreuz, wenn er von bedingungslosem Grundeinkommen hört: „Die Erwerbstätigkeit bleibt ein tragender Teil unserer Gesellschaft.“ Die Debatte um ein Grundeinkommen, das den Wildwuchs an sozialen Zuwendungen ersetzt, ist für ihn eine „alte Intellektuellenvision aus den sechziger Jahren. Da stehen ein paar Weißkittel in der Fabrik, dort schuften Roboter, und der Rest lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen“. Auf die Mündigkeit der Bevölkerung, so viel steht für Nolte fest, sei kein Verlass. Dass sich die Bürger auf der Basis eines Grundeinkommens besonders gesellschaftlich engagieren oder – ohne existenziellen Druck – auf die Suche nach mehr Chancen im Leben gehen würden, glaubt er nicht. „Das kriegen die Leute kulturell nicht geregelt“, sagt er. Kein Zweifel: Nolte hält das Gros der Bevölkerung für faul und willenlos. Die Masse entwickle Engagement bestenfalls darin zu fordern – stets Neues und immer mehr.

Druck und Zwang, meint Nolte, blieben zuverlässige Gesellen beim Aufbau eines neuen Wertekanons einer künftigen Erwerbsgesellschaft. Dazu gehört die Bereitschaft, in den vorhandenen Rahmen zu denken und zu parieren: „Die Formel 8-8-8 hat sich historisch enorm bewährt.“ Paul Nolte redet nicht über Kabbalistik oder esoterischen Zahlenzauber, sondern über die klassische Zeiteinteilung der Industriegesellschaft, der ordentlichen Welt von gestern. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden pennen. Und dann wieder von vorn. Für Nolte ist das „eine anthropologisch logische Sache“.

Der Historiker steht mit dieser Meinung einer wachsenden Zahl von Ökonomen gegenüber, die im Konsum nicht das Problem, sondern die Lösung der Krise sehen. Genauer: in der höheren Besteuerung von Konsum aller Art. Fast jedes europäische Land hat deutlich höhere Verbrauchs- oder Konsumsteuern als Deutschland. In den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten gilt praktisch durchgängig das Prinzip, Arbeit und Produktion, also die Wertschöpfungskette, gering zu besteuern. Umso stärker wird zugelangt, wenn es um Konsum geht. Die Methode hat mehrere Vorteile.

Steuern werden dort erhoben, wo Waren und Dienstleistungen gekauft werden. Egal, wo die Maschine steht, auf der sie produziert wurden. Unerheblich, ob die Idee aus Japan oder den USA stammt. Und ganz nebensächlich, ob der dazugehörige Kapitalist in einem Steuerparadies sitzt oder vor Ort. Bezahlt wird hier und jetzt. Damit brechen die wesentlichsten Argumente gegen die Globalisierung zusammen. Zugleich wäre es durchaus nützlich, wenn eine Volkswirtschaft, die auf Konsumsteuern setzt, auch der Automation freien Lauf lässt. Der Kapitalismus könnte ungebremst produzieren, also tun, was er kann.

Zwei Argumente werden dagegen immer wieder angeführt: Durch höhere Verbrauchssteuern reduziere sich der Konsum. Das lässt sich, bei einer ausgewogenen Entlastung bei den Kapital- und Arbeitssteuern, in keiner anderen Nation beobachten. Und: Eine Grundsicherung, Bürgergeld, Grundeinkommen, zerstöre die Erwerbsarbeitsmoral. Aber taugt ein so eindeutig schwindender Wert wirklich noch zur Leitkultur?


VIII. Tätigkeit

Peter Glotz, der in den achtziger Jahren zu den schärfsten Kritikern eines bedingungslosen Grundeinkommens zählte, hat inzwischen Zweifel: „Ich weiß wirklich nicht, wie man ein Grundeinkommen, das den Namen auch verdient, finanzieren sollte. Aber dass sich die Verhältnisse seit den achtziger Jahren dramatisch geändert haben, kann man nur absichtlich übersehen.“ Seine Hauptsorge damals, sagt Glotz, war „schlicht die Tatsache, dass es ernsthafte Aggressionen gegen die Bezieher eines kleinen, aber sicheren Grundeinkommens durch die gibt, die weiterhin im Erwerbsprozess stecken“. Heute sieht er die Sache anders: „Kein Mensch würde nur auf die Grundsicherung vertrauen. Die würden schon weiterhin was tun.“ Doch ein Problem sei geblieben: „Keine Partei findet das gut. Denn an der Arbeit hängt auch die Macht der Parteien und Organisationen.“ Das Gerede von der Arbeit als einzigem Sinnstifter unserer Existenz ist ein „Herrschaftsinstrument“, wie Ralf Dahrendorf schon vor mehr als zwei Jahrzehnten erkannte: Nicht um die Arbeit gehe es den Machthabern, sondern um sich selbst, um die Möglichkeit, den Reichtum der Bürger so zu verteilen, wie es ihnen passt. Deshalb sind die Mächtigen um die Arbeit besorgt, sagt Dahrendorf: „Wenn sie ausgeht, verlieren die Herren der Arbeitsgesellschaft das Fundament ihrer Macht.“


IX. Arbeiten unter Polizeischutz

Doch dieses Fundament bröckelt längst. Denn bleibt alles, wie es ist, werden immer mehr Erwerbslose – die Chiffre für Bürger zweiter Klasse – unter uns leben. Sie werden immer weniger aus dem alten Umverteilungssystem erhalten. Ihr Leben ist unsicher und zunehmend brutal. Selbst wer dabei nur an sich denkt, sollte wissen, was das bedeutet. „Solange das Drittel, das kaum mehr etwas hat, ruhig gestellt wird, gibt es keine wirklichen Probleme“, sagt Peter Glotz. Doch das gelinge nicht mehr lange: „Wenn wir so weitermachen, treiben wir das untere Drittel der Gesellschaft in Kriminalität und Chaos. Das wird vor allem auch für die ungemütlich, die etwas besitzen. Wollen wir die Leute, die in zehn, zwanzig Jahren bei Siemens arbeiten, mit Polizeischutz zur Arbeit bringen, damit sie nicht ausgeraubt werden?“ Es gehe vor allem auch um die Rechte der anderen.

Das wichtigste Argument für ein Grundeinkommen ist nicht moralischer Natur – es ist schierer Egoismus, der Wille derer, die vorankommen wollen. Deshalb sprechen sich heute vor allem Marktbefürworter für ein Grundeinkommen aus: Es passt zum Kapitalismus. Es ist gut für den Markt.

Georg Vobruba, Professor für Soziologie in Leipzig, gefällt die Entwicklung. Er hat sich schon in den späten siebziger Jahren für ein Grundeinkommen stark gemacht – und über Applaus aus dem falschen Lager geärgert. Denn Grundeinkommen sei keineswegs eine karitative, gutmenschelnde Veranstaltung: „Vieles in der Debatte um ein Grundeinkommen ist einfach zu moralisierend. Natürlich hat niemand ein Recht darauf – woher sollte das auch kommen? Es geht mir um andere Fragen: Was nützt ein Grundeinkommen denen, die noch in der Erwerbstätigkeit sind, und was nützt es Unternehmen?“

Die nahe liegendste Antwort ist: eine weit billigere Sozialbürokratie als heute, bei der die Kosten für die Verwaltung zuweilen die der ausgezahlten Mittel übertreffen. Darüber hinaus könnte ein Grundeinkommen dafür sorgen, dass aus Mc-Jobs und Gelegenheitsarbeiten ganz normale, durchaus sozialverträgliche Tätigkeiten werden können.


X. Ein echter Arbeitsmarkt

Für Vobruba sind die Antworten in den vergangenen Jahren noch klarer geworden: „Das Grundeinkommen ist ein ziemlich sinnvolles Instrument der Veränderung. Man bringt die Leute nur dazu, über das ihnen vorgeschriebene Maß hinauszugehen, wenn man sie materiell unterfüttert.“ Das gelte in Zeiten der Globalisierung stärker als je zuvor. 120 Jahre lang hätten sich der Kapitalismus und der Sozialstaat ganz gut aneinander gewöhnt und vertragen: „Sozialpolitik hat vor allem den Job, den Kapitalismus, das Marktgeschehen, von systemfremden Aufgaben zu entlasten. Unser ökonomisches System ist ausgezeichnet für eine effiziente Produktion geeignet, für das Schaffen technischen Fortschritts, der allen nützt. Das Verteilungsproblem aber kann es weniger gut lösen. Der Markt und das Soziale gehören zusammen, als sich ergänzende Systeme, die man nicht vermischen sollte.“

Ein System entlastet ein anderes, von dem es letztlich lebt: „Die, die leistungsfähig sind, können sich voll und ganz auf ihre Leistung konzentrieren. Die Grundeinkommens-Bezieher wiederum müssen nicht einer Vielzahl an Unterstützungen hinterherlaufen, sondern können sich, wenn sie wollen, auf einen Arbeitsmarkt begeben, der diesen Namen verdient.“ Mehr Effizienz hilft aber vor allem, das Überleben jenes Faktors zu sichern, der im Sozialen eine so große Rolle spielt: der Moral. Die Würde des Menschen ist auch davon abhängig, ob das Gesetz der Arbeit – was kann ich für andere tun? – Widerhall findet. Einen Markt.

Was Langzeitarbeitslose heute in den Amtsstuben der Bundesagentur und anderswo vorfinden, hat mit Markt nichts zu tun: „Ein Markt lebt davon, dass Anbieter und Nachfrager weitgehend gleich stark sind. Wo ist das heute noch der Fall?“ Bei einem Grundeinkommen etwa auf der Basis der heutigen ALGII-Unterstützung könnten sich jene, die nicht mehr wollen, von diesem künstlich aufgeheizten, einseitigen Markt verabschieden. Andere, die durch Erwerbsarbeit mehr wollen, hätten bessere Chancen. „Waffengleichheit“ nennt das Vobruba, und zwar eine, die allen dient: „Wir müssen nicht nur das Dogma der Vollerwerbsgesellschaft beseitigen – wir müssen die Psychologie durchbrechen. Eine Gesellschaft nach unten abzusichern dient dem sozialen Frieden, und gleichzeitig bleibt der Ökonomie Luft zum Atmen.“


[colr=red]XI. Der Preis der Vernunft[/color]

Bleibt die Frage, was das kostet. Selbst wenn man nur das heute gesetzlich festgelegte Existenzminimum – 7664 Euro pro Jahr und Kopf – als Mindesteinkommen garantierte, machte das für 82 Millionen Bundesbürger die gewaltige Summe von 620 Milliarden Euro aus: rund 200 Milliarden mehr, als der Staat an Steuereinnahmen zusammenkratzt. Auf den ersten Blick scheint das vollkommen unfinanzierbar. Doch die gesamten Sozialausgaben der Bundesrepublik betragen bereits heute jährlich mehr als 720 Milliarden Euro. Zieht man davon die Aufwendungen für die Krankenversicherung ab, verbleiben 580 Milliarden Euro für Leistungen, die ein Grundeinkommen langfristig ersetzen könnte. Und all jene, die weiterhin in Erwerbsarbeit blieben, würden nur potenzielle Empfänger des geregelten Einkommens ohne Arbeit werden. Tatsächlich ist nur nicht finanzierbar, dass alles so bleibt, wie es ist.

7664 Euro, vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger, sind überdies nicht das Paradies, nicht mal ein kleines Stück davon. Aber es wäre ein großer Schritt weg von dem alten Aberglauben, dass der Mensch nur etwas wert ist, wenn er leidet.

Wie verrückt dieses Dogma ist, wussten nicht nur Tick, Trick und Track. Schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb ein gewisser Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, ein kleines, kluges Buch über „Das Recht auf Faulheit“. Darin beklagte sich Lafargue bitter über die Dummheit seiner Genossen, die nichts im Kopf hatten, als das Recht auf Arbeit zu fordern. Und er knöpft sich jene guten Christenmenschen vor, die allen, die nicht arbeiten wollen, das Recht auf Essen verweigerten: „Jehova, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das erhabenste Beispiel idealer Faulheit: Nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle Ewigkeit aus“ und weiter: „Das Proletariat hat sich (…) von dem Dogma der Arbeit verführen lassen. Hart und schrecklich war seine Züchtigung.“

Der britische Mathematiker Bertrand Russell greift, fast 70 Jahre nach Lafargues Tod, in seinem Essay „Lob des Müßiggangs“ die Gedanken des Marx-Schwiegersohns auf. „Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, dass alle Menschen behaglich und sicher leben können. Bisher sind wir noch immer so energiegeladen arbeitssam wie zur Zeit, da es noch keine Maschinen gab. Das war sehr töricht von uns. Aber sollten wir nicht auch irgendwann mal gescheit werden?“

Die Arbeit hoch? Nein. Kopf hoch. --



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