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soyfer

Beiträge: 205

New PostErstellt: 29.01.06, 02:26     Betreff: Re: Anarchisten sind Demokraten!

Zunächst rein formal: inzwischen sind hier sehr viele Diskussionsstränge. Hinzu kommt, dass jeder eine andere Position vertritt.
Ich will mich daher auf zwei Probleme, die mir besonders bedeutend erscheinen, beschränken:
  1. zur Konsens-Basisdemokratiefrage (dies richtet sich in erster Linie an bjk, da ich auf Ines noch nicht antworten kann),
  2. das Problem der Rücksichtnahme. Und dies geht an die Adressen von bjk und Pejder.

1. Zu allererst, das Erbsenzählen oder Haarspalten habe ich nicht erwähnt, um Chomsky schlecht zu machen, ganz im Gegenteil. Wenn man etwas präzise ausdrücken will, dann muss auch mal Haare spalten. Das ist nichts schlechts, nur wenn man bestimmte Worte mit einem ganz bestimmten Inhalt belegt, dann muss man die Wortbedeutung kennen, um den Inhalt zu verstehen. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung. Insofern ist eine lebendige Diskussion wertlos, wenn - z.B. wegen Wortbedeutungsmissverständnissen - aneinander vorbeigeredet wird.

Zu der Differenz zwischen Konsens und Koordination, um zu zeigen dass es sich hier um zwei ganz unterschiedliche Sachen handeln KANN (so wie es Pejder aufgefasst hat, gehören beide Begriffe eng zusammen, ich verwende aber Koordination in dem anderen Kontext). Dabei nehme ich gerne in Kauf, ein Erbstenzähler zu sein, weil, was notwendig ist getan zu werden, muss getan werden und wenn es Erbsen zählen ist.
Also: Konsens bedeutet, dass nicht die Mehrheit über die Minderheit entscheidet und schon gar nicht eine Minderheit sagt, wo es langgeht, sondern alle zustimmen müssen, um einen Beschluss zu fassen. Ohne allseitige Zustimmung ist kein Beschluss gefasst.
Koordination bedeutet lediglich, dass mehrere Menschen sich in irgendetwas absprechen, um gemeinsam an einer Sache zu wirken.

Wenn unter anarchistischen Zuständen Einigungen erzielt werden müssen dann natürlich im Konsens. Aber hier fallen mir derzeit einzig die Verkehrsregeln ein, und auch hier ist eine Einigungsnotwendigkeit wegen der gänzlich anderen Transport- und Bewegungsnotwendigkeitslage nicht einmal wahrscheinlich. Nur sollte diese Konsensnotwendigkeit auf das wirklich Notwendige beschränkt bleiben. In allen Fragen, wo jeder seinen eigenen Weg gehen kann, und das sind fast alle Fragen des Lebens, auch gemeinsame, da bedarf es gar keines Konsenses. Das ist flüssiger als flüssig, das ist überflüssig.

Nun stellen wir uns vor, jeder geht seines eigenen Weges, so ist es durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass mehrere Menschen (zumindest zeitweise) dasselbe wollen oder als nützlich und notwendig ansehen und sich gemeinsam dranmachen das zu tun. Und um sich hier nicht zu blockieren oder es effektiver zu tun, sprechen sie sich ab, koordinieren sie sich.

Dazu ein Beispiel und weil wir schon dabei sind, ein ganz blödes:
Es geht um die Frage des Straßekehrens. Gibt es ein Konsensprinzip und einige sind der Meinung, ja, es muss geschehen und andere sagen nein, reine Zeitverschwendung. Effekt, es muss so lange diskutiert werden, bis alle sagen ja oder nein oder Kompromiss und das sollte dann so formuliert werden, dass der ausgehandelte Inhalt eindeutig und nicht mehrfach deutbar fixiert ist. Und wir wissen, wie über wesentlich unwichtigeres heftigst gestritten wird.
Die Mühe hätte man sich schenken können. Denn man hätte auch einfach hingehen können und sagen, ich halte es sinnvoll, dass die Strassen gekehrt werden, wer macht mit. Wunderbar, soundsoviele denken, es ist wichtig, packen wir es an: Wer kehrt dannunddann dortunddort und wer da und was ist morgen etc. Das ist kein Konsens, denn der wurde nie abgefragt. Aber es ist Koordination. Und so stelle ich mir Problemlösungen eigentlich überall vor.

Was das Wort Pfaff statt Gott betrifft, das deutet auf einen zwischen uns noch nicht ausgetragenen Religionsstreit hin, denn ich glaube auch nicht an Gevatter Baum.

2) Ähnlich problematisch für die Anarchie wie Mehrheitsentscheidungen und das KonsensPRINZIP (also nicht die ein oder andere Frage, die als von allen gemeinsam zu lösende anerkannt wird, so zu lösen, sondern dies als Prinzip) ist für mich das Rücksichtnahmedogma. Da stecken auch einige Messer im Rücken das Anarchie.
Denn wenn die Voraussetzung ist (um es überspitzt zu formulieren), dass jeder einen Revers unterschreibt, in dem er sich verpflichtet, rücksichtsvoll gegen alle zu sein, dann kann das nicht gutgehen. Ihr könnt nun antworten, das will man dann. Aber, sage ich darauf, man will vielleicht auch in einer U-Bahnanlage voller Nichtraucher rauchen. Was dann: wollen gegen wollen. Welches wiegt mehr, das Rücksichtswollen oder der eigene Drang. Muss ich dann immer, wenn mein wollen dem Gebot der Rücksichtnahme nicht entspricht, das in den Keller verbannen? Und die anderen? Müssten die vielen Nichtraucher in der U-Bahnanlage, dem Raucher aus lauter Rücksichtnahme nicht alle Feuer anbieten? Das führt ja direkt zu der Geschichte vom alten Ehepaar, das am Ende ihres Lebens feststellt, dass jeder Teil dem anderen das ganze Leben aus Rücksicht den Teil der Semmel überlassen hat, den er selbst lieber gegessen hätte.
Da Pejder die Ideologien angesprochen hat: das Rücksichtsprinzip ist so eine.

Ich will gar nicht sagen, dass das von Pejder aufgestellte Motto: Anarchie ist Rücksichtnahme nicht doch stimmt. Aber nicht in dieser Art und Weise. So wäre sie Teil einer Ideologie. (Ich spalte wieder mal Haare, liebster bjk.)
Pejder, du schreibst dazu: Meines Erachtens beinhaltet der Begriff Anarchie selbst bereits den einzigen Konsens, den Anarchisten nötig haben, das Rücksichtsgebot.
Pejder: Wo fängt das an, wo hört das auf? Wer auf wen? Und bis zu welcher Grenze?
Mag ja sein, dass ich dich missverstehe, aber wenn doch, dann ist für dich die fehlende Rücksichtnahme die Wurzel des jetzigen unmenschlichen Zustands. Sozusagen die Ellbogengesellschaft. Würden die Menschen mehr auf die Bedürfnisse der anderen hören, dann würde alles besser werden und das als Prinzip konsequent durchgezogen, das ist dann Anarchie? Dann sind für dich die Probleme der Welt, die Armut, die Folter, die Unterdrückung allgemein darauf zurückzuführen, dass der eine Mensch nicht auf den anderen Rücksicht nimmt? Und wenn alle das machten, dann ist Anarchie? Und was wenn einer sagt nein, ich will aber rücksichtslos sein? Ist dann Anarchie nicht mehr möglich?
Kurz: du siehst es als ein Einzelmenschen- und kein Gesellschaftsproblem an? Tut mir leid, in dem Fall muss ich bekräftigen, was ich schon sagte, das ist tief-religiös (ich sage absichtlich nicht christlich, damit sich bjk auch angesprochen fühlt). Das Böse in der Welt wird besiegt durch das Gute im Menschen.
Und es ist letztlich auf eine spezielle Art auch tief-kommunistisch (obwohl dir so die Gesellschaftskritik fehlt). Die neue freie Gesellschaft kann erst funktionieren, wenn der "neue Mensch", nicht der Ellbogenmensch, sondern der Rücksichtnahmemensch handelt.

Nun ja, ich sehe das anders, ganz anders. Für mich ist und kann nicht das Problem der Mensch sein. Die Saulus-Paulus-Verwandlung ist keine Voraussetzung für Anarchie. Mein Ansatzpunkt ist die Gesellschaft. Gesellschaft ist - ich sagte das schon mal Ines - weder die Summe, noch der Durchschnitt seiner Bürger. Gesellschaften sind sozusagen eigenaktiv. Sie zwingen dem Menschen ihr Handeln auf. Eine kapitalistische Gesellschaft läßt z.B. dem Unternehmer nicht (wirklich) die Wahl, die Arbeiter "gerecht" (was immer das heißt) zu entlohnen. Dann sind seine Gewinne zu klein oder Produkte zu teuer und er unterliegt im Konkurrenzkampf mit den anderen Unternehmern. Der Rücksichtsloseste gwinnt. Und so geht es allen. Die heutige Lage der arbeitenden und arbeitslosen (und damit meine ich nicht die Börsianer) Menschen ist nicht deswegen so mies, weil Unternehmer menschliche Arschlöcher sind, denn die Lage wäre genauso mies, wenn alles nette Menschen wären. Sie ist so mies, weil der Konkurrenzkampf der Unternehmer diese zwingt, als menschliche Arschlöcher zu handeln. Und so ist es in allen Fragen.
Gesellschaften können sich zwar ändern, aber nicht entsprechend der Rücksichtnahme, sondern entsprechend ihrer Macht.
Die Menschen reagieren letztlich nur auf Geselschaften. Nicht der einzelne Mensche, aber in ihrer Tendenz. Jede bisherige Gesellschaft hat sozusagen bestimmtes Verhalten belohnt. Das führte dazu, dass Menschen tendenziell genau dies geforderte Verhalten an den Tag legten in Erwartung der Belohnung. Ändert man das Belohnungssystem, ändert man die Menschen. Siehe hier Bürger des 3. Reiches=>Bürger Westdeutschlands/Bürger Ostdeutschlands. Da gibt es nicht wenige interessante Biographien. Oder nehmen wir Alt-68. Erst mit'n Mang dabei, weil das gut ankommt, aber dann setzt die Bestechlichkeit ein, geradezu phänomenal. Ich selber habe solche Entwicklungen bei einigen Bekannten miterleben müssen. Erst stehe ich für sich viel zu rechts (weil kein Kommunist) und heute zwischen SPD- oder CSU-Eintritt grübeln, je nachdem, welcher Job angeboten wird. Oh Zeiten, oh Sitten.
Kurz, das liegt nicht am Menschen und seinen bösen Eigenschaften, die ihn beherrschen. Das liegt an den kollektiven Gesellschaftszwängen. Diese zerstören jeden Menschen und wandeln ihn in Werkzeuge dieser Gesellschaft um und zwar jeden, auch die da Oben (außer die, die es durchschaut haben). Die Oben sind keinen Deut freier, außer vielleicht dem, freiwillig ins Elend der Armen steigen zu können. Aber wollen sie sich oben halten, nix ist da frei.
Das Problem ist daher die versklavende Gesellschaft. Und die muss beseitigt werden und die Errichtung einer anderen versklavenden Gesellschaft verhindert werden, z.B. ein Sozialismus. Sind dann die Menschen von den gesellschaftlichen Ketten befreit, dann wird es natürlich dauern, bis man mit der Freiheit umgehen lernt (aber das gelingt nicht durch neue Ketten, Torsten, denn das was der Anarchist im Schritt 2 genauer ausführen muss, das muss der Kommunist neu rechenen, denn er kommt ganz sicher nicht zu Schtitt 3, weil er sich verrechnet hat). Aber dann, wenn das geschafft ist, dann will man frei leben und ist frei von den Zwängen 1. der Gesellschaft, 2. von den Handlungen anderer, die durch die gesellschaftlichen Zwänge einen unter Druck setzten. Was meine ich damit? Z.B. der Arbeiter ist von dem Zwang frei, jeden Tag des Geldverdienens willen in der früh aufzustehen und mit Menschen zusammenzukommen, die er nicht ausstehen kann, weil sie ihn mobben oder rumkommandieren. In dieser Situation der Freiheit wird es eines sehr viel weniger geben: Stress. Und das heißt, man ist ausgeruhter, ist nicht so schnell aus der Fassung zu bringen, verträgt mehr Kritik, bekommt weniger Kritik, weil das ja anderen genauso geht, braucht niemanden, an dem er die Wut ablassen kann, die er durch Personen erhält, denen er die Wut eigentlich ins Gesicht schreien will. Und es fällt die Diskrepanz zwischen Güterhabenwollen und Güterhabenkönnen weg. Und diese gesamtgesellschaftliche Entspannung führt so ganz automatisch dazu, dass man sich weniger auf die Füße tritt, sowohl unabsichtlich, wie absichtlich. Und sie führt dazu, dass wenn es dennoch passieren sollte, man das ganze lockerer sieht. Das ist die Rücksichtnahme von der ihr redet, aber nicht als Zustimmung, die Anarchie ermöglicht, sondern als Folge einer anarchistischen Gesellschaft.

Also nicht Rücksichtnahme ermöglicht Anarchie,
sondern Anarchie ermöglicht Rücksichtnahme.

Und diese Differenz ist euer Denkfehler.


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