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Am 30. Mai 1968 wurden im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet

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bjk

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Ort: Berlin


New PostErstellt: 15.06.08, 06:10  Betreff: Re: Am 30. Mai 1968 wurden im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet  drucken  weiterempfehlen

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Nicht nur ein Häuflein

Der Widerstand gegen die Notstandsgesetzgebung vor 40 Jahren hatte eine breite Basis

Von Hans Heinz Holz



Man erinnere sich: Bei der Abschlußkundgebung des Kongresses »Notstand der Demokratie« quoll der Frankfurter Römerberg über von Menschen. Am 11. Mai 1968 fuhren dann 70000 nach Bonn, um vom Bundestag Auskunft und Rechenschaft über den Inhalt der Notstandsgesetze zu bekommen (die sie nicht erhielten). Der Protest gegen die Notstandsplanung war eine der letzten großen politischen Massenbewegungen in der alten Bundesrepublik. Sie erfaßte die Menschen quer durch Gewerkschaften und Kirchen beider Konfessionen, durch die akademische Intelligenz und das liberale Bürgertum. Daß nach sieben Jahren Kampf diese Bewegung eine Niederlage erlitt und das Notstandsrecht verabschiedet wurde, war das Ende der Demokratie in der BRD, wie das Grundgesetz sie 1949 angelegt hatte.

Das Notstandsrecht vor 40 Jahren – das war in der Tat ein politischer Entwicklungsschritt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der BRD, der heute unter dem Gesichtspunkt der »Antiterrorismus«-Strategie der Bundesregierung zu bedenken ist. Wie ein Damoklesschwert hing dieses Notstandsrecht seit 1968 über der Verfassung – und gerade daß es im Allgemeinen nicht praktiziert werden mußte, brachte einen Gewöhnungseffekt mit sich, der die Aushöhlung des Grundgesetzes in unmerklichen, kleinen Portionen erlaubte.

Darum ist die Einschätzung von Marcus Hawel (jW-Thema v. 30.5.), der in ihren Folgerungen durchaus zuzustimmen ist, in ihrer Analyse des damaligen Kampfes gegen die Notstandsgesetze schief, wesentlich auch deshalb, weil sie die Kräfte dieses Kampfes nur einseitig wahrnimmt. Damals waren keineswegs nur linke Gewerkschafter, Studenten und linkssozialistische Intellektuelle (also die sogenannte APO) aktiv; es gab eine wirklich breite Massenbewegung gegen den Abbau von Grundrechten. Ich selbst habe z.B. Seite an Seite mit dem späteren FDP-Justizminister Werner Maihofer auf einer Antinotstandskundgebung in Frankfurt gesprochen, war auf Einladung des Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit der EKD Diskussionsgegner des damaligen Innenministers Ernst Benda (CDU), habe in zahlreichen evangelischen und katholischen Gemeinden und sogar in der FDP-Akademie in Gummersbach referiert. Helmut Ridder kreuzte in der Zeit die Klingen mit Ernst Benda. Abendroth diskutierte mit seinem Widersacher von der SPD Gerhard Jahn. Die weit um sich greifende Stimmung in der Bevölkerung, überhaupt die wachsende Aufmerksamkeit für das eher im Schatten liegende Thema hatten greifbare politische Konsequenzen. Ich denke an die beiden eindrucksvollen Reden des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Hessen, Georg August Zinn, im Bundesrat.

Die Pläne der Regierung lehnte er ab, »weil die vorgesehene Notstandsregelung nach unserer Auffassung unabänderliche Verfassungsgrundsätze verletzt, weil sie zum anderen zur Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung mißbraucht werden könnte«. Und später noch schärfer: »So laufen die Entwürfe darauf hinaus, die Legislativgewalt für weite und wesentliche Bereiche der Gesetzgebung von den gesetzgebenden Körperschaften auf die Exekutivgewalt zu verlagern. Das widerspricht den Grundsätzen der Gewaltenteilung und verletzt das Rechtsstaatsprinzip. Was hier angestrebt wird, sind nach Auffassung der hessischen Landesregierung Ermächtigungsgesetze, für die in einer rechtsstaatlichen Demokratie wie der Bundesrepublik kein Raum vorhanden sein sollte.«

Verteidigung der Demokratie

Klar ablehnende Stellungnahmen des Stuttgarter Oberbürgermeisters Arnulf Klett als Präsident des Deutschen Städtetags, der kirchlichen Bruderschaften, des Deutschen Presserats, des Akademischen Senats der Universität Frankfurt schlossen sich an. Ebenso der Bundeskongreß des DGB und ordentliche Gewerkschaftstage der IG Metall, Druck und Papier, Holz, Chemie, Post und ÖTV, deren Vorsitzender Adolph Kummernuß zu Wort kommen soll: »Der vierte ordentliche Gewerkschaftstag der ÖTV hat 1961 in Berlin ein Notstandsgesetz abgelehnt, weil es die freiheitlich-demokratische Grundordnung bedroht und weil die Bestimmungen des Grundgesetzes und die Gesetzgebung ausreichen, um Notständen zu begegnen. Demokratische Grundrechte und Freiheiten kann man nicht dadurch sichern, daß man sie einschränkt oder abbaut. Ein Notstandsgesetz würde genau das herbeiführen, was es zu verhindern vorgibt. Es gibt keine vertretbare Lösung politischer Probleme auf Kosten demokratischer Rechte und Freiheiten. Für ihre Festigung gilt es vielmehr einzutreten. Nicht mit Worten und feierlichen Versprechungen, sondern durch die Tat. Der Verzicht auf ein Notstandsgesetz oder dessen Verhinderung wäre eine Tat.«

Die Notstandsregelungen sind eine umfassende Ermächtigung der Regierung, ja letztlich des Bundeskanzlers zur Suspendierung der Grundrechte: Inhaftierung ohne richterliche Haftprüfung, Aufhebung der Pressefreiheit, des Post- und Telefongeheimnisses, Erlaß von Notverordnungen, Stillegung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Beschränkung der Rechtsmittel, Einberufung von Zivildienst mit Verlust des Streikrechts und allgemeiner Gehorsamspflicht, Zuweisung von Aufenthaltsorten – all dies eben im beliebigen Ermessen der Bundesregierung (ausführliche Kommentierung und weitere Inhalte der Notstandsgesetze: Holz/Neuhöffer, »Griff nach der Diktatur«, Köln 1965). Viele dieser Grundrechtsverletzungen sind inzwischen unter Anwendung neuer technischer Möglichkeiten stillschweigend in die Tat umgesetzt worden.

Es war mehr als ein Häuflein aus Studentenbewegung und Linksintellektuellen, es war die halbe Nation, die von einem Impuls zur Verteidigung der Demokratie ergriffen war. Wer in dieser Bewegung tätig mitgewirkt hat, erinnert sich der aufbauenden Kraft, die von ihr ausging. Die Universitätsinstitute, in denen ja noch ein ganz anders gerichteter Kampf um die Bildungsreform geführt wurde, waren nur ein kleiner Teil davon. Man sollte auch Studentenbewegung und Antinotstandsbewegung nicht zusammenwerfen; sie berührten sich, aber sie waren nicht dasselbe. Es war immer ein Kummer des personenidentischen linken Flügels beider Bewegungen, das sie nicht zu einer Kampfeinheit verschmolzen.

Insofern ist auch das Szenario der Protagonisten des Antinotstands bei Hawel zu schmal. Am Anfang standen, zunächst noch ziemlich allein und unverstanden, als einer der Unermüdlichsten der Gießener Jurist Helmut Ridder, der Chefredakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, Paul Neuhöffer, Wolfgang Abendroth, Jürgen Seifert, der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover, Präses Wilms von der evangelischen Kirche Rheinland. Seiferts Buch »Gefahr im Verzug« und das von Neuhöffer und mir gemeinsam verfaßte »Griff nach der Diktatur« mit dem sich sogar Minister Benda polemisch auseinandersetzen mußte, wurden sozusagen zu Handbüchern der Bewegung, deren Aussagen durch zahllose Analysen, vor allem in den Blättern untermauert wurden. Führende Gewerkschafter wie Georg Benz (Metall) und Werner Vitt (Chemie) stellten sich mit an die Spitze des Kampfes und sorgten auch dafür, daß die Gewerkschaftspresse ihm gebührend Raum gab. Unabhängige Publizisten setzten sich ein, ich nenne nur Namen wie Robert Jungk, Gösta von Uexküll, Harry Pross, den Chefredakteur von Radio Bremen.

Krasser Einschnitt

Bundesinnenminister Benda konnte damals nur davon träumen, die parlamentarische Kontrolle auszuschalten: »Eine Lagebeurteilung durch das deutsche Parlament, das vielleicht den Gefahrenzustand noch nicht für allzu schwerwiegend hält, könnte durch die tatsächliche Entwicklung überholt sein. (...) Die Vorstellung, daß ein Gefahrenzustand nur insoweit besteht, als das deutsche Parlament dies erkennt oder anerkennt, widerspricht der Wirklichkeit« (Ernst Benda, »Die Notstandsverfassung«, München 1966). Die demokratische Öffentlichkeit sollte schon gar nicht mehr beteiligt sein, denn die Zeit reiche nicht, »ihre Meinung anzuhören, noch kann eine breite öffentliche Diskussion geduldet werden, an der als Zuhörer auch der Gegner beteiligt ist« (ebd. S.8). Das hat Herr Schäuble längst erreicht, und die SPD hat dabei fleißig mitgeholfen. Einer der hervorragendsten Köpfe der Rechtswissenschaft in der BRD, Helmut Ridder, resümierte schon nach der Verabschiedung der sogenannten Einfachen Notstandsgesetze und vor der Verfassungsänderung 1968, »daß sämtliche Ermächtigungen der Sicherstellungsgesetze gegen Art. 80 GG verstoßen. (...) Man muß die ganze Notstandsplanung im großen Zusammenhang der in Gang befindlichen ›legalen‹ stillen Auflösung der grundgesetzlichen Demokratie sehen, sie stellt nur eine, allerdings besonders einschneidende Phase des Niedergangs dar« (Helmut Ridder, »Notstand 66«, Köln 1966, S.12 und 42).

Keine Generalvollmacht

Hans Jürgen Krahl, gewiß am linken radikalen Rand der Studentenbewegung stehend, war nicht ganz so allein und »überzogen«, wie Hawel meint, als er das Widerstandsrecht gegen die Notstandsgesetze reklamierte. Auch der Historiker Graf Schenk von Stauffenberg, wahrlich kein Linker, hat sich in diesem Sinne geäußert. Und sicher wäre nicht erst die Anwendung des verfassungswidrigen Notstandsrechts Grund zum Widerstand, sondern eben schon die Verfassung brechende Einführung dieser »gesetzlichen Grundlage«. Das ist auch der Sinn einer Demarche von Wissenschaftlern, unter ihnen der Physiknobelpreisträger Max Born, der Politologe Kurt Bracher, die Juristen Maihofer und Ridder und der Völkerrechtler Harold Rasch, damals Vorstandsmitglied der Commerzbank, in der es heißt: »Durch die Notstandsgesetze wären wir ständig von einer Nebenverfassung bedroht, die die rechtstaatliche und freiheitliche Grundordnung unseres Staatswesens zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert auf ›legale‹ Weise aufheben würde. (...) Das Notstands-Verfassungsgesetz und die bisher bekannt gewordenen zehn einfachen Notstandsgesetze ermöglichen der jeweiligen Regierung faktisch jederzeit die autoritäre Umgestaltung unseres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Sie würden der Regierung praktisch eine Generalvollmacht in die Hand geben, wann immer sie wollte, das Leben jedes einzelnen in den Dienst einer schranken- und lückenlosen Militarisierung zu stellen«.

Dies war ein »Appell an alle Vorstände und Fraktionen der Parteien« vor allem aber natürlich an die führende Oppositionspartei, die SPD, die die Stärke hatte, Verfassungsänderungen im Bundestag zu verhindern. Daß sie sich schließlich auf bedeutungslose und die Substanz des Notstandsrechts nicht beeinträchtigende Kompromisse einließ und damit die Verabschiedung möglich macht, war eine Niederlage der Demokratie. Ich möchte sie mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 vergleichen. Vielleicht noch schlimmer. Denn 1968 konnte sich niemand die Illusion einer nationalen Gefahr vorspiegeln. Es war einfach die Kapitulation vor der Macht des großen Kapitals, das »seinen« Staat unter weitere Kontrolle bringen wollte. Die »kleine Minderheit, die an den Hebeln des Herrschafts- und Manipulations-Apparats sitzt« hatte immerhin soviel Furcht vor der sich massenhaft sammelnden Öffentlichkeit, daß sie die Fassung des Notstandsverfassungsgesetzes erst einen Tag vor der zweiten Lesung im Bundestag veröffentlichte, »also zu einer Zeit, da sich eine öffentliche Kritik überhaupt nicht mehr entfalten und auf die zur Abstimmung gerufenen Abgeordneten auswirken konnte« (Heinrich Hannover).

»Formierte Gesellschaft«

Man darf das seit Anfang der 60er Jahre vorbereitete Notstandsrecht nicht abgelöst von der gesellschaftspolitischen Konzeption des deutschen Kapitals betrachten. Es war die Zeit, als Ludwig Erhard die Nachkriegsphase des Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft in die Erneuerung des deutschen Imperialismus, zunächst als Juniorpartner der USA, überzuleiten begann. Dafür mußten die antifaschistisch-demokratischen Elemente des Grundgesetzes ausgehebelt werden. Auf dem CDU-Parteitag 1965 hat Erhard diese Strategie als Plan einer »formierten Gesellschaft« vorgestellt, den der Historiker Reinhard Opitz damals eingehend analysiert hat: »Der Plan ist umfassend durchdacht und auf Langfristigkeit angelegt. Es geht aus ihm hervor, daß es der CDU und den mit ihr verbundenen Industrie- und Bankkreisen (diese Liaison tritt vollends ans Licht) unverändert um den europäischen Osten geht, also um eine Veränderung des mitteleuropäischen Status quo derart, daß am Ende ein der industriellen Großmacht Gesamtdeutschland zugeordneter osteuropäischer Staatengürtel entstünde.«

Dazu forderte Erhard »eine Reform der deutschen Demokratie zum Zwecke der inneren Geschlossenheit unseres Staatswesens und einer hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit«. (CDU-Parteitag 1965) Opitz zog daraus die Folgerungen: »Diese Reform der deutschen Demokratie soll eingeleitet werden durch die Verabschiedung der Notstandsverfassung (...) das Formierungsprogramm stellt klar, daß die geplanten Eingriffe ins Grundgesetz nicht etwa, wie es noch zu Beginn der Notstandsdiskussion vorgegeben wurde, im Interesse des wirksameren Schutzes der Demokratie vorgenommen werden soll (...) den Industriekonzernen ist es nicht um den Schutz der Demokratie, es ist ihnen im Gegenteil um die Absicherung ihrer Interessen gerade gegenüber der Demokratie zu tun«. Von vornherein war es die Absicht, die SPD in diese der innenpolitischen Absicherung des deutschen Imperialismus dienende Strategie einzubinden. Das ist seit der »großen Koalition« auch gelungen.

Ganz abwegig ist es, von der Zeit nach 1968 mit einem Ausdruck von Habermas als »Fundamentalliberalisierung« zu sprechen. Was geschah denn nach 1968? Die verfassungswidrigen Berufsverbote, die standhaften Linken eine Generation lang die Lebenserwartungen zerstörten; die Ausdehnung der Macht der Geheimdienste und ihrer illegalen Tätigkeit; die alljährliche Erhöhung des Militäretats; Stammheim; die fortschreitende Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte; in den Universitäten zwar die Beschränkung der Macht der Ordinarien, aber zugunsten der Macht der Kultusbürokratie; der Abbau kritischer Potenzen in den Medien. Dies sind nur einige Beispiele. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe das alles miterlebt. Zeitzeugenschaft nicht wahrzunehmen ist Verzicht auf historisches Rohmaterial. Stattdessen werden dann ideologische Konstruktionen gebastelt.

Notstand auf Probe

Allgemein: stetig vollzieht sich der Übergang zum Neoliberalismus, der mit den Idealen der Liberalität genausowenig zu tun hat wie eine »formierte Gesellschaft«. Die herrschende Klasse weiß, wohin sie der Weg führen soll und wen sie dafür in Dienst nehmen muß.

Es heißt doch, auf eine Politphraseologie hereinzufallen, wenn man das Wort »mehr Demokratie wagen« als Programm ernst nimmt. Es zählt nicht, was einer sagt, sondern was er tut. Willy Brandt, ein Kanzler der Demokratie – das ist eine Legende. Als Frontstadt-Bürgermeister Berlins und als Kanzler der neuen Außenpolitik Bonns hat er dasselbe getan: am Wiedererstarken des deutschen Großkapitals zur führenden imperialistischen Kraft Europas mitzuwirken. Seine sozialdemokratischen Nachfolger, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, beide aus dem SDS kommend (!), haben diese Linie noch offenkundiger fortgesetzt. Das ist eine Kontinuität seit Adenauer. In sie gehören, als Glied und Mittel, die Notstandsgesetze, die zum Gebrauch im Grundgesetz bereit gelegt wurden. Ich gebe Hawel recht: Die »Notstandsgesetze können sich nach wie vor ganz im Sinne des Zeitzündereffektes als ›Ermächtigungsgesetze‹ gleichsam als verfassungsrechtliches Gründungsdokument eines autoritären Staates erweisen«. Aber es gibt nicht – wie er meint – eine »rückläufige Tendenz« gegenüber einer BRD, die »sich politisch und kulturell liberalisierte«, sondern nur eine kontinuierliche schleichende Destruktion des Grundgesetzes von 1949. Anläßlich von Verfassungsänderungen hat das in vielen Aufsätzen Peter Römer, der letzte Erbe des Verfassungsrechtlers Wolfgang Abendroth, thematisiert.

Die Schily und Schäuble modernisieren das Instrumentarium, das 1968 im Arsenal gespeichert wurde. Sie modernisieren es nicht nur, sie erproben auch schon in Teilen seine Anwendung. Zwar schafft das schon Unruhe in der Bevölkerung, aber noch keinen spürbaren öffentlichen Protest. Darum ist es wichtig, allen jenen, die die Demokratie erhalten wollen, in Erinnerung zu rufen, daß es vor 40 Jahren ein massenhaftes und organisiertes Nein zur autoritären Selbstermächtigung des Staates im Dienste des Kapitals gab; und daß dieses Nein nicht hätte erfolglos sein müssen, wäre es durchgehalten worden. Die, die als erste Nein gerufen haben, die Ridder, Abendroth und ihre Mitstreiter, verdienen dankbare Erinnerung.

»Der Rückweg zum Parlamentarismus steht noch offen«

Auszüge aus der Rede des Juristen Prof. Dr. Helmut Ridder auf der Abschlußkundgebung des Sternmarsches gegen die Notstandsgesetze am 11. Mai 1968 in Bonn

(...) In dieser Stadt ist an jeder Wegegabel in der Entwicklung der Bundesrepublik der Kurs bestimmt worden – auf Wiederaufbau der alten wirtschaftlichen Machtpositionen statt auf Grundlegung demokratischer Gesellschaftsverhältnisse, auf Remilitarisierung statt auf Pazifizierung, notfalls auch auf Kulturkampf statt auf demokratische Bildungspolitik, schlechthin auf Restauration statt auf Neuaufbau! (...) Bei Orwell heißt die Geheime Staatspolizei »Liebesministerium«, bei den Nazis machte der Lügenminister »Volksaufklärung«, im Bonner Notstandsstaat heißt die Kastration des Parlaments »Formulierungshilfe«. (...) Beschränken wir uns auf das ungeheuerlichste Beispiel aus dem Inhalt der »Notstandsverfassung«: Sie soll jetzt also ein »Widerstandsrecht« enthalten. (...) Aber über seinen Träger – herrschaftsunterworfene Menschen – hat es nie einen Streit gegeben. In den Ausschüssen des Deutschen Bundestags freilich wird es auf höhere Eingebung als Recht der Staatsgewalt selbst konstruiert, auf deren Seite sich die Untertanen gegen ihre Mitbürger schlagen dürfen. Mit dem Spielmaterial »Widerstandsrecht« hat man SPD-Abgeordnete beschäftigt, während sie von ihrer Partei- und Fraktionsführung eingeseift wurden, und das Produkt ist die Umtaufe der unheiligen Allianz von knüppelnder Staatsgewalt und Bild-Zeitungs-Mob zum »Widerstandsrecht«! Wir, die hier demonstrierende akademische und Arbeiterjugend, Gewerkschafter, Professoren, Schriftsteller und Publizisten, wir sind nichts anderes als die nicht aufzuhaltende demokratische Neubildung der von der sogenannten Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und den ihr und bestimmten Profit­interessen hörigen Teilen der Presse zerstörten öffentlichen Meinung. Wir sind eine demokratische Erneuerungsbewegung, die in legitimer Weise gesellschaftliche Macht entfaltet. (...) Sie wird in neuen, der jeweiligen Situation angepaßten Formen gegen undemokratische und undemokratisch ausgeübte Staatsgewalt Widerstand leisten. Carl von Ossietzky sagte 1933: »Wird nicht sofort und bedingungslos der Weg zur Verfassung wieder angetreten, so wird die außerparlamentarische Regierungsweise von oben mit außerparlamentarischen Abwehrmaßnahmen von unten beantwortet werden. Denn es gibt auch ein Notrecht des Volkes gegen abenteuerlich experimentierende Obrigkeiten.« Dem Deutschen Bundestag, der kein Reichstag von 1933 ist, steht immer noch der Rückweg zum Parlamentarismus offen. Wir fordern ihn auf, diesen Rückweg zu beschreiten. Wir sind keine vor der Kroll-Oper marschierende SA, die den Gegnern der Ermächtigungs­gesetzgebung den Schädel einschlagen will. Wir wollen, daß zum mindesten erst einmal Licht und Luft in das Geheimverfahren gebracht wird, damit die Volksvertretung erfaßt, worum es eigentlich geht. (...) Wir verwechseln den mangels äußerer Bewegungsfreiheit zunächst nach innen schlagenden Imperialismus des Notstandsstaates nicht mit dem Naziregime, wenn er auch mit dem sogenannten Rechtsradikalismus als Buhmann und zugleich als Magnet spielt. (...) Wir wissen aus der Geschichte des deutschen Imperialismus nach außen und nach innen, daß die Torheit seiner Gegner sein bester Verbündeter ist. Er braucht eine Emser Depesche, ein Sarajevo, einen Reichstagsbrand, ein Gleiwitz: Wir zünden keinen Reichstag an! (...)

Wir fordern sie auf, mit uns zusammen aus der Geschichte zu lernen, daß dieses Land, wenn es nicht endlich Demokratie wird, immer von neuem sich und die Mitwelt in den Abgrund reißen wird.

zit.n. Blätter für deutsche und internationale Politik, 13. Jg., Heft 6/1968, S. 656–658. Auch nachzulesen auf der von Friedrich-Martin Balzer herausgegebenen CD »Ridder’s Digest. Das Gesamtwerk von Helmut Ridder«, Bonn 2. Auflage 2004, update 2007


Hans Heinz Holz (* 26. Februar 1927 in Frankfurt am Main) ist Philosoph und Herausgeber der philosophischen Zeitschrift Topos - Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie.



Es ist allerhöchste Zeit, Art. 1, Abs. 1 und Art. 20, Abs. 4, GG, Geltung und Wirkung zu verschaffen!
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New PostErstellt: 14.06.08, 08:55  Betreff:  Am 30. Mai 1968 wurden im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet  drucken  Thema drucken  weiterempfehlen

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Mit Zeitzünder

Die heute vor 40 Jahren verabschiedeten Notstandsgesetze gleichen einer Bombe. Sie kann bei Bedarf gegen aufkommende revolutionäre Bestrebungen der Arbeiterbewegung scharf gemacht werden

Von Marcus Hawel



Am 30. Mai 1968 wurden im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet. Am 24. Juni traten sie in Kraft. Hans-Jürgen Krahl, einer der wortgewaltigsten Sprecher des SDS und der vermutlich begabteste Doktorand von Theodor W. Adorno, hatte allerdings nicht die weitsichtigste Einschätzung der Lage, als er drei Tage vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze auf einer Protestkundgebung des hessischen DGB auf dem Römerberg in Frankfurt erklärte, die Demokratie »in Deutschland« sei an ihr Ende gekommen. »Trotz der massenhaften Proteste aus den Reihen der Arbeiter, Studenten und Schüler, trotz der massiven Demonstrationen der APO (...) sind dieser Staat und seine Bundestagsabgeordneten entschlossen, unsere letzten demokratischen Rechtsansprüche in diesem Land auszulöschen. Gegen alle diejenigen (...), die es künftig wagen werden, ihre Interessen selbst zu vertreten, werden Zwang und Terror das legale Gesetz des Handelns der Staatsgewalt bestimmen.« 1

Wenn man Krahls Aussage für wahr nimmt, hätte man sogleich Artikel 20, Absatz 4, des Grundgesetzes in Anschlag bringen und gewaltsamen Widerstand leisten können. Absatz 4 wurde als Zugeständnis gegenüber der APO im Zuge des ausgehandelten Kompromisses der Notstandsgesetzgebung dem Artikel 20 hinzugefügt. Dort wird jedem Deutschen als Ultima ratio ein Widerstandsrecht eingeräumt, das in dem Augenblick zum Tragen kommen kann, wenn in Deutschland die freiheitliche Grundordnung, also Rechtsstaat und soziale Demokratie, in ihren Grundfesten erschüttert werden. Aber Krahls Einschätzung war überzogen, gleichsam jenes »Quentchen Wahn« beigemengt, welches Adorno allgemein in den Protesten der späten 60er Jahre zu erkennen glaubte, ohne zugleich die »Meriten der Studentenbewegung« in Abrede zu stellen, die darin bestanden, »den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen«2 zu haben.

Mit dem Inkrafttreten der Notstandsgesetze war nicht etwa gewaltsamer oder gar terroristischer Widerstand als Kampf gegen den autoritären oder gar faschistischen Staat legitimiert, wie man vielleicht irreführend aus Krahls überzogener Analyse hätte schlußfolgern können. Im Sinne des ins Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 4, aufgenommenen Widerstandsrechts war nunmehr aber eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber den Repräsentanten des Staates und seinen herrschenden Eliten erforderlich, zeigt doch eine Analyse der Entwicklung von Gesellschaftssystemen, wie man beim 1985 verstorbenen Marburger Politik- und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth nachlesen kann, »daß es viel wahrscheinlicher ist, daß die Demokratie nicht von ›unten‹, sondern von ›oben‹, durch die Organisation des Staates selbst, gefährdet oder aufgelöst wird«.3 Auch Adorno hatte diese wahrscheinlichere Option im Blick, als er in seinem Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?« das »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« als gefährlicher für die Demokratie hinstellte als das Aufkommen einer neofaschistischen Bewegung. Oskar Negt, der damals Assistent von Jürgen Habermas war, befindet sich ebenfalls auf dieser analytischen Linie. In seiner Rede vom 13. April 1968 auf dem Römerberg sagte er: »Wer die Sicherung der Freiheit dem Staat, seinen Beauftragten, den Großinstitutionen und machtvollen Organisationen überläßt, ist das Opfer einer fatalen Illusion: Er glaubt an die Lebensfähigkeit einer Demokratie ohne Demokraten.«4 – Unter den deutschen, restaurierten Nachkriegsverhältnissen hatte man sich darauf beschränkt, im Rahmen eines bis ins Detail gehenden Formalismus die Institutionen des politischen Systems den bestehenden kulturellen Bedingungen im Land anzupassen, also demokratische Institutionen zu schaffen, die so gefestigt sein sollten, daß sie auch ohne Demokraten funktionieren.

Nach den gescheiterten Revolutionen

Wenn man bis zu den späten 60er Jahren überhaupt schon von einer »erfolgreich praktizierten Demokratie« sprechen konnte, dann lediglich seitens der (außerparlamentarischen) Opposition aus Gewerkschaften, Studenten und linkssozialistischen Intellektuellen vor allem aus der 58er Generation, zu deren prominentesten Vertretern neben Abendroth und Jürgen Seifert auch Peter von Oertzen, Klaus Meschkat und Oskar Negt zählen. Diese Opposition war die »Triebkraft der Demokratie«. Erst von der APO der 60er Jahre ging ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel aus, den man als soziokulturelle Neugründung der Bundesrepublik verstehen und mit Habermas als »Fundamentalliberalisierung« bezeichnen kann: Ab hier paßten sich in der Bundesrepublik die kulturellen Bedingungen an die als »westlich« apostrophierten Demokratieprinzipien an. Die demokratischen Institutionen füllten sich im Zuge des »Marsches durch die Institutionen« mit Demokraten. Die Schulpädagogik wurde reformiert, die Gerichtssprechung liberalisierte sich, und in der Politik kündigte Willy Brandt an, »mehr Demokratie« zu wagen.

Die linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer hatte eine entscheidende Brückenfunktion für die Proteste der späten 60er Jahre. Davon wird in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht gesprochen. Der Politikwissenschaftler Gregor Kritidis hat diese eklatante Wissenslücke in seiner Studie »Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer« geschlossen.

Resümierend stellt Kritidis fest, daß in der Nachkriegszeit von der Adenauer-Ära bis zu den späten 60er Jahren die Konsequenzen, die aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Übergang erst in die bürokratische, dann in die faschistische Diktatur gezogen wurden, im Kontext des Kalten Krieges mit deutlichen Mängeln behaftet waren und die linkssozialistische Opposition der 50er Jahre sich wegen des antikommunistischen Klimas gegen den restaurativen Geist nicht durchsetzen konnte: »Zwar gelang es, die soziale und politische Polarisierung durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu überwinden und die wirtschaftliche Entwicklung durch ­keynesianisch inspirierte Maßnahmen zu stabilisieren. Die demokratische Partizipation wurde jedoch unter antikommunistischen Vorzeichen auf eine abstrakte Staatsbürgerlichkeit beschränkt.«5 Abstrakte Staatsbürgerlichkeit bedeutet Isolierung und Fernhalten des Bürgers vom staatlichen Gesamtzusammenhang. So ist im wesentlichen der Obrigkeitsstaat charakterisiert: gleichsam als Absence der gegenseitigen Durchdringung von Staat, Gesellschaft und Individuum. Wo aber diese gegenseitige Durchdringung existiert, ist sie Ergebnis einer erfolgreich verlaufenen bürgerlichen Revolution. Die Untertanen haben aus der Gesellschaft heraus den Staat erobert und damit das konfrontative Verhältnis zwischen Staat und Individuum beendet. Während dieses Aktes der politischen Befreiung verwandelten sich der Untertan in einen Staatsbürger und der Feudalstaat in einen bürgerlichen Staat. In Deutschland lief das zum einen verspätet und zum anderen fehlgeleitet, jedenfalls nicht erfolgreich, ab. Der Obrigkeitsstaat setzte sich fest, mündete nach den gescheiterten Revolutionen von 1848/49 bzw. 1918/19 und erster Republik in den Faschismus und wurde nach 1945 restauriert, was die Bedingungen für die linkssozialistische Opposi­tion, gegen die restaurativen Weichenstellungen – gegen die Wiederbewaffnung, NATO-Beitritt und gegen die seit 1958 geplante Notstandsgesetzgebung – erfolgreich vorzugehen, nahezu unmöglich machte: »(...) das politisch durchgesetzte autoritär-obrigkeitsstaatliche Klima sorgte [in der Bevölkerung, M. H.] für eine passive Akzeptanz zu den grundlegenden Weichenstellungen der Nachkriegszeit«.6

Einige »Giftzähne« gezogen

Auch der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung, der in den späten 60er Jahren in den massenhaften Protesten der APO kulminierte, muß als eine Niederlage bewertet werden, wenngleich, wie der Notstandsexperte Jürgen Seifert in seiner Rede am 28. Mai 1968 in Darmstadt sagte, die Opposition »in dem jahrelangen Kampf gegen die Vorhaben der Bundesregierung Erfolge erzielt [hat]. Wir haben Entschärfungen durchsetzen können, aber wir sollten nichts beschönigen. Es ist eine Niederlage.«7

Wesentliche »Giftzähne« waren den Entwürfen zur Notstandsgesetzgebung von der Opposition gezogen worden. Die Einschränkung der Grundrechte kann nur in klar abgesteckten Grenzen erfolgen. Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts bleibt auch im Ausnahmezustand unangetastet. Der Notstand bleibt unter parlamentarischer Kontrolle. Auch wenn es sich um ein verkleinertes »Notparlament« handelt, ist der Ausnahmezustand nicht die »Stunde der Exekutive«, wie es in den ersten Gesetzesentwürfen vorgesehen war. Am wichtigsten aber ist die Aufrechterhaltung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts. Der von Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) 1960 vorgelegte erste Entwurf sah vor, daß die Koalitionsfreiheit im Falle eines Notstands »über das sonst vorgesehene Maß« hinaus eingeschränkt werden können soll. Als Beispiel für eine konkrete Notstandssituation bezog sich der Minister auf eine Rede des IG-Metall-Chefs Otto Brenner, der gesagt hatte: »Wir werden nicht vor der Anwendung des politischen Streiks zurückschrecken, wenn es gilt, die Demokratie zu verteidigen.«8

Wenn die Verteidigung der Demokratie mit Hilfe der Koalitionsfreiheit als Notstandsfall angesehen wird, zeigt das die historische Parallele zum Scheitern der Weimarer Republik. Damals wurde mit Hilfe des Artikels 48 der Weimarer Verfassung die Machtübertragung an Adolf Hitler auf den Weg gebracht, indem vor allem die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen wurde, die den Übergang in die faschistische Diktatur hätte verhindern können. Auch der Nachfolger von Gerhard Schröder im Amt des Innenministers, Hermann Höcherl (CDU), brachte klar zum Ausdruck, daß die Notstandsgesetzgebung gegen die Kampfkraft der Gewerkschaften gerichtet ist und in Zeiten ökonomischer Krisen als ein Machtinstrument zur Disziplinierung der Arbeiterklasse genutzt werden solle.

Insofern ist es schon auch ein Teilerfolg der APO gewesen, wenn mit den am 24. Juni 1968 in Kraft tretenden Notstandsgesetzen in Artikel 9, Absatz 3 folgender Satz eingefügt wurde: »Maßnahmen nach den Artikeln 12 a, 35 Absatz 2 und 3, Artikel 87 a Absatz 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.«

Klassenkampf um Verfassung

Der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung war in den Worten des Politikprofessors Joachim Perels eine »nachholende Aneignung des Grundgesetzes«. »Die Verknüpfung der Konstituierung des Grundgesetzes mit Elementen des unmittelbaren Volkswillens, die 1949 noch fehlte und durch die aktive Beteiligung der Bevölkerung an den ersten allgemeinen Wahlen des westdeutschen Teilstaates nur implizit ersetzt wurde, bildete sich im gewissen Sinne in der praktischen Kritik an den Notstandsplänen der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung heraus: in der Verteidigung der diktaturfeindlichen Prinzipien der Verfassung.«9 Insofern war der Kampf um die Notstandsgesetzgebung auch ein Lehrstück für den »Kampf um Verfassungspositionen«.

Seiferts Einschätzung hinsichtlich der Gefahr, die sich aus der Verabschiedung des Kompromisses ergab, unterschied sich wesentlich von der Hans-Jürgen Krahls. Während dieser von der Manifestation des autoritären Staates ausging, sprach Seifert von »Ermächtigungsgesetzen mit Zeitzünder«: »Das Gefährliche der Notstandsgesetze ist, daß diese Gesetze nicht übermorgen unmittelbar und für jedermann sichtbar die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik verändern.«10

Zunächst aber trifft aus der Retrospektive von 40 Jahren nach Verabschiedung der Notstandsgesetze zu, daß sich die Bundesrepublik nicht in einen autoritären Staat verwandelte, sondern politisch und kulturell liberalisierte: »Erst durch die großen gesellschaftspolitischen Konflikte der 60er Jahre entledigte sich die Bundesrepublik ihrer starken obrigkeitsstaatlichen Überhänge und wurde zu einer Demokratie von Demokraten.«11 Die politisch-kulturelle Neugründung der Bundesrepublik hatte aber keineswegs auch die Aufhebung der zentralen gesellschaftspolitischen Konflikte zur Folge gehabt, wie Kritidis anmerkt.

Diese zentralen »gesellschaftspolitischen Konflikte« geben dem »Kampf um Verfassungspositionen« eine permanent notwendige Virulenz. Seifert schreibt 1974: »Der Kampf um Rechtspositionen wird heute entscheidend geprägt durch veränderte Verwertungsbedingungen des Kapitals in allen westlichen Industrieländern. Wachstums- und Profitraten sinken. Der Konkurrenzkampf nationaler und internationaler Kapitalfraktionen wird stärker. Es gibt Strukturkrisen in bestimmten Industriezweigen und eine zunehmende Verlagerung von Produktion in bisher unterentwickelt gehaltene Länder. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, zunehmende Rationalisierung und intensivere Ausnutzung der Arbeitskraft jedes einzelnen.«12 Diese damals von Seifert konstatierten neuen Entwicklungen veranlaßten ihn, den Kampf um Verfassungspositionen für die Zukunft als einen defensiven Kampf auszurichten. »Ob und in welcher Weise es möglich sein wird, diesen Defensivkampf offensiv zu wenden, ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Es wird bei diesem Kampf jedoch mehr denn je darauf ankommen, die Faktoren beim Namen zu nennen, die der Kapitalismus für diesen Verfassungskampf setzt.«13

Weil der Kapitalismus notwendig ein prozessierender Widerspruch ist, bleibt Klassenkampf eine unabänderliche Realität. Dieser Klassenkampf findet seinen Ausdruck auf der verrechtlichten Ebene. Das ungepflegte, bloß vertraglich festgehaltene Recht hat eine Halbwertszeit und wird nicht selten in dem Augenblick gebrochen, wenn es auf das Recht ankommt. Eine Verfassung muß wie eine Stadtmauer verteidigt werden, heißt es schon bei Heraklit. Verfassungen sind gemäß Abendroth ein Kampfboden, auf dem sich die verbrieften Freiheiten besser gegen Angriffe der herrschenden Eliten verteidigen und erweitern lassen. Da diese Angriffe gegen die Freiheiten in dem Augenblick nicht aufhören, in dem sie verfassungsrechtlich verankert sind, müssen sie in jedem Augenblick, gleichsam unablässig, verteidigt werden. Die Verfassung stellt insofern eine Demarkationslinie im Klassenkampf dar. Diese Linie ist mehr oder weniger permanent politisch umkämpft; wird sie verschoben, vollzieht sich das nicht selten durch eine Regelverletzung, die eine neue Regel zustande bringt. Von der Regelverletzung geht die normative Kraft des Faktischen aus, die eine Veränderung der Verfassungswirklichkeit, d.h. der Auslegung des verrechtlichten Rechts, zur Folge hat, wenn keine Gegenwehr erfolgt.

Insofern sind die in der Verfassung verankerten Notstandsgesetze wie eine Zeitbombe, die im Falle einer gesellschaftlichen Großkrise verheerenden Schaden an der Demokratie anrichten können, da sie dem Staat und der herrschenden Klasse in einer Situation Machtmittel in die Hand geben, in der die Kontrolle des Staates durch die gesellschaftlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates wichtiger wird als in sogenannten Friedenszeiten, um die »drohende Verselbständigung der staatlichen und bürokratischen Machtapparate und deren Instrumentalisierung für die Interessen der herrschenden Klassen auf Kosten der Bürgerrechte in Grenzen [zu halten].«14

Umwandlung in autoritären Staat

Die durch 1968 angestoßene Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik unterliegt seit 1989/90 einer rückläufigen Tendenz, die seit einigen Jahren nunmehr ganz offen sichtbar ist.

Zum einen hat es damit zu tun, daß die 68er altersbedingt überall in Rente gehen. Aber verärgert hatte Negt 1995 auch festgestellt, daß sich auffallend viele aus dieser Generation von jenen Positionen distanzierten, für die sie sich einst hatten schlagen lassen. Negt nennt diese Form von Opportunismus die »Geisteskrankheit der Intellektuellen«, der für ihn den Rang eines kulturellen Skandals einnimmt, weil das Konvertitentum im voraus­eilenden Gehorsam oder gar willentlich entstehe. Er schreibt: »Wo diese ihren Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß.«15

Wenn von Rückläufigkeit die Rede ist, dann meint das den Exodus der Demokraten aus den Institutionen. Aber auch allgemein in der Bevölkerung schwindet das rechtsstaatliche Bewußtsein gleichsam als Nebenwirkung zur Anhebung des Nationalstolzes der Deutschen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erscheint momentan als eine der letzten rechtsstaatlichen Bastionen. Es steht in der Öffentlichkeit unter Beschuß. Wolfgang Hoffmann-Riem, Professor für öffentliches Recht in Hamburg und seit 1999 Nachfolger von Dieter Grimm am BVerfG, erklärte nach seinem Ausscheiden im April 2008, daß die Bundesregierung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zu viele Eingriffe zu Lasten der Freiheit vornehme, die zudem einer verfassungsrechtlichen Überprüfung seitens Karlsruhe nicht standhalten. Otto Schily und Wolfgang Schäuble kritisierten als Bundesinnenminister die rechtsstaatliche Urteilssprechung des BVerfG – etwa zum großen Lauschangriff vom 3. März 2004 oder zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006, das den Abschuß von Passagierflugzeugen, die von Terroristen zu Zwecken eines Anschlages gekapert werden, ermöglichen sollte. Das Bundesverfassungsgericht trage in letzter Instanz die Verantwortung, wenn in Deutschland eine gefährliche Sicherheitslücke hinsichtlich der terroristischen Gefahrenabwehr entstehe. Hoffmann-Riem erklärt in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. April 2008 selbstbewußt, daß niemanden im BVerfG die Kritik der Minister interessiert habe: »Die Kritik wurde wahrgenommen und hat uns in unserem Selbstverständnis als unabhängige Richter bestärkt.«

Aber was nützt es, wenn die Urteile des BVerfG von der Bundesregierung ignoriert oder umgangen werden? Die Äußerung von Verteidigungsminister Franz Josef Jung, von Terroristen zu Zwecken eines Anschlages gekaperte Passagierflugzeuge dennoch abschießen zu lassen, indem die Bundesregierung dann eben den außergesetzlichen Notstand ausrufe, zeigt, wie stark der Rechtsstaat unter Beschuß gerät.

Der Verfassungsrechtler Hoffmann-Riem sieht ausdrücklich die Gefahr, daß in einer Situation, in der sich die Bundesregierung mit einer »diffusen Gefahrenlage« wie dem globalen Terrorismus seit den Anschlägen vom 11. September 2001 beschäftigt, die Politik auf das Feld der Prävention gezerrt wird und dadurch rechtsstaatliche Standards zwangsläufig der Erosion ausgesetzt sind. Innenminister Schäuble halte die Öffentlichkeit »mit immer neuen Schreckenszenarien und neuen Vorschlägen in Atem, ohne abzuwarten, was die vielen schon erfolgten Änderungen bewirken«.16 Dieser Aktionismus deutet auf eine Instrumentalisierung des Terrorismus hin, zu dem Zweck, die Verfassungswirklichkeit im Sinne eines bürgerlich-autoritären Souveränitätsbegriffs zu verändern. Nach Carl Schmitt ist Souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Dieselbe Normalisierungsstrategie konnte zuvor bereits in der Außenpolitik erfolgreich praktiziert werden, indem die Verteidigungsminister Volker Rühe, Rudolf Scharping und Peter Struck der Reihe nach und im Gespann mit den Außenministern Klaus Kinkel und Joseph Fischer die Krisen und Bürgerkriege in der Welt, vor allem im auseinanderbrechenden Jugoslawien sowie in Afghanistan, nutzten, um die deutsche Außenpolitik kriegsfähig zu machen.

So viel ist real an Johannes Agnolis Begriff der »Involution«, mit dem er die schleichende »Transformation der Demokratie« analysierte, die sich in einen autoritären Staat verwandelt, ohne die demokratische Hülle abzustreifen. »Involution« stellt die Gesellschaft vor ein schwieriges Problem: Wenn sich schleichend ein autoritärer Staat aus den demokratischen Institutionen heraus – ohne Notstandssituation – manifestiert, ab wann kann man dann eigentlich den qualitativen Sprung feststellen? Wie leistet man dagegen effektiven Widerstand?

Die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze können sich nach wie vor ganz im Sinne des Zeitzündereffektes als »Ermächtigungsgesetze«, gleichsam als verfassungsrechtliches Gründungsdokument eines autoritären Staates, erweisen, die das Ende der Demokratie besiegeln, wie schon die »Reichstagsbrandverordnung« vom Februar 1933 auf Grundlage des 48er Artikels der Weimarer Reichsverfassung. Dies jedoch nur, wenn der bundesrepublikanische Rechtsstaat aufgrund seiner stetigen Aushöhlung, d.h. seiner involutiven Transformation, nicht mehr von der Bereitschaft getragen wird, die 1968 im entschärften Kompromiß ausgehandelten Rechte für den Notstand gegen den Staat wahrzunehmen, bzw. das politische Gemeinwesen, insbesondere die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung, nicht mehr die Kraft besitzt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen.

1 Hans-Jürgen Krahl: Römerbergrede, in ders.: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971, S. 149

2 Theodor W. Adorno, zit. n. Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, Bd. 1: Chronik, Hamburg 1998, S. 454

3 Wolfgang Abendroth: Der Notstand der Demokratie, in ders.: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt am Main 1975, S. 205

4 Oskar Negt, zit. n. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): »Tradition heißt nicht, Asche aufheben, sondern die Flamme am Brennen halten!«, Sensbachtal 1985, S. 185 f.

5 Gregor Kritidis: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Hannover 2008, S. 542

6 Ebd.

7 Jürgen Seifert, zit. n. Joachim Perels: Der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung als Aneignung der Verfassung, in: Opposition als Triebkraft der Demokratie, Hannover 1998, S. 102

8 Otto Brenner, zit. n. Jürgen Seifert: Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung, Frankfurt am Main 1965, S. 34

9 Joachim Perels: Der Kampf um die Notstandsgesetzgebung..., a.a.O., S. 102

10 Seifert, zit. n. Perels: Der Kampf um die Notstandsgesetzgebung ..., a.a.O., S. 102

11 Kritidis, a.a.O., S. 545

12 Seifert: Der Kampf um Verfassungspositionen, Frankfurt am Main 1974, S. X

13 Ebd.

14 Reinhard Kühnl: Ein Kampf um das Geschichtsbild: in ders. (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Die »Historiker-Debatte«. Köln 1987, S. 280

15 Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995, S. 9

16 Süddeutsche Zeitung vom 12./13. April 2008



Dr. Marcus Hawel ist Soziologe, Mitherausgeber der Onlinezeitschrift sopos.org und lehrt zur Zeit an den Instituten für Politikwissenschaft sowie für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover.



Es ist allerhöchste Zeit, Art. 1, Abs. 1 und Art. 20, Abs. 4, GG, Geltung und Wirkung zu verschaffen!
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