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Als ich dann rauskam, traf ich auf eine völlig desinteressierte und egoistische Gesellschaft

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bjk

Beiträge: 7353
Ort: Berlin


New PostErstellt: 14.05.05, 14:54  Betreff: Als ich dann rauskam, traf ich auf eine völlig desinteressierte und egoistische Gesellschaft  drucken  weiterempfehlen

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Das war wie eine Mauer

Belinda Zubicueta war die letzte politische Gefangene der Diktatur in Chile

– eingesperrt noch Jahre nach dem Ende der Ära Pinochet



Foto: Krüger


Es ist früh am Morgen in Santiago de Chile. Belinda Zubicueta hält sich an ihrer Kaffeetasse fest. Sie möchte dieses Gespräch und sie scheut es. Im Mittelpunkt steht die 49-Jährige ungern und den Schmerz, der aufbrechen wird, kann auch die Frühstücksidylle nicht mildern. 1986 – während der chilenischen Militärdiktatur (1973-90) – wurde Belinda Zubicueta als Mitglied der bewaffneten Revolutionären Front Manuel Rodríguez festgenommen. Es folgten Folter, die Stigmatisierung als Kriminelle und ein geheimer Prozess, zu dem nicht einmal ihr Anwalt zugelassen wurde. Ihr drohte die Todesstrafe als Terroristin, dann hieß es, man werde sie lebenslänglich in den Kerker werfen, später wurde sie zu 15 Jahren Haft verurteilt. Der Geheimdienst begann, ihre damals 11- und 12-jährigen Kinder zu bedrohen, die daraufhin die Mutter und das Land verlassen mussten und in Dänemark aufwuchsen. Das Ende der Ära Pinochet erlebte Belinda Zubicueta 1990 im Gefängnis. Doch es sollte noch vier Jahre dauern, bis sie freigelassen wurde. Und erst im vergangenen Jahr erhielt sie, die für die Demokratie gekämpft hatte, ihre Rechte als chilenische Staatsbürgerin zurück. Gegen das »große Monster Gefängnis«, wie sie es nannte, schrieb Belinda mit Gedichten an, die sie damals aus den Mauern schmuggelte. Für die Enttäuschungen der Demokratie jedoch fehlen ihr die Worte. Für ND sprach Antje Krüger mit Belinda.

ND: Belinda, als Sie nach acht Jahren aus dem Gefängnis kamen, herrschte in Chile schon Demokratie. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck?
Belinda: Ich fühlte mich völlig fremd. Diese Gesellschaft und diese Leute waren so ganz anders, als ich sie noch kannte. Niemand grüßt mehr auf der Straße. Im Gefängnis, in Grenzsituationen, hasst der Mensch entweder oder er antwortet mit Liebe. Wir haben uns untereinander sehr geholfen. Als ich dann rauskam, traf ich auf eine völlig desinteressierte und egoistische Gesellschaft. Dieser Individualismus, diese Kälte – das war wie eine Mauer.

Sie sind im Oktober 1994 durch Begnadigung von Präsident Patricio Aylwin entlassen worden.
Begnadigung in Anführungsstrichen. Chile ist das einzige Land in Südamerika, in dem die politischen Gefangenen nicht sofort frei kamen. Wir blieben in den Händen der Militärgerichtsbarkeit, obwohl wir Zivilpersonen waren. Wir haben das überhaupt nicht verstanden. Schließlich haben wir ja dazu beigetragen, dass es überhaupt zur Demokratie kommen konnte. Aber erst vier Jahre später kam die Begnadigung. Und die musste man beantragen und um Entschuldigung bitten. Ich habe mich lange dagegen gewehrt. Ich hatte mich für nichts zu entschuldigen.

Wieso Begnadigung in Anführungsstrichen?
Uns wurde unsere Strafe nicht erlassen, sondern umgewandelt. Ich hatte zu wählen: Entweder ich bitte um Asyl im Ausland und erhalte eine Einreisesperre für Chile von 12 Jahren oder ich muss mich während der sieben Jahre Strafe, die noch übrig waren, jeden Monat auf der Polizei melden. Viele Mitgefangene haben sich selbst exiliert. Für mich kam das nicht in Frage. Ich blieb ohne Rechte und mit einem Eintrag im Strafregister wie eine gewöhnliche Kriminelle. Damit hat man keine Chance, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Viele ehemalige politische Gefangene leben noch heute das Drama, ausgeschlossen zu sein.

Wieso wurden die politischen Gefangenen so behandelt?
Die chilenische Regierung schloss einen Pakt mit den Militärs zu deren Bedingungen. Sie wussten, dass zu Zeiten der Diktatur jeder Vorwand genügte, um einen ins Gefängnis zu bringen. Und trotzdem ließen sie zu, dass wir alle nur einer nach dem anderen herauskamen – aus Angst vor den Militärs. Das war sehr schmerzhaft für uns. Die Situation ist auch noch heute völlig surreal und verlogen. Diejenigen, die uns eingesperrt und gefoltert haben, leben auf freiem Fuß. Die arbeiten sogar als Ärzte oder Lehrer. Wir aber blieben stigmatisiert.

Wie erlebten Sie diese Stigmatisierung?
Ich fand keine Arbeit, obwohl ich dank eines Stipendiums aus Dänemark studieren konnte. Erst lernte ich Fremdsprachensekretärin, dann wurde ich Lehrerin. Das war sehr schwer für mich, denn als ich ins Gefängnis kam, hatte ich gerade einmal fünf Jahre die Schule besucht. Meine ganze Bildung erhielt ich von meinen Mitgefangenen. Aber dann nahm mich niemand wegen meines Eintrags im Strafregister. Nicht einmal die Universidad Bolivariana, die von sich selbst sagt, sie sei anders, denn sie hat eine Abteilung für Menschenrechte. Vier Vorstellungsgespräche haben sie mit mir gemacht. Eine der Angestellten erkannte mich und meinte: Ah, Belinda, Sie waren die letzte politische Gefangene. Sie wurden gefoltert, stimmt’s? Und ich, ganz naiv, habe erzählt, denn ich dachte, hier herrscht Vertrauen. Tja, sie haben mich nie wieder angerufen. Das war ein ganz harter Schlag. Danach blieb mir nur eins: mich noch einmal ihren Bedingungen beugen und noch zwei zusätzliche Jahre lang jeden Monat bei der Polizei zu unterschreiben, damit auch der Eintrag ins Strafregister gelöscht wird. Jedes Mal, wenn ich dort hinkam, fragte ich mich zähneknirschend: Warum muss ich das machen? Aber es war die einzige Chance, die ich hatte. Im Juli letzten Jahres habe ich meine letzte Unterschrift geleistet. Erst jetzt darf ich wieder wählen und muss nicht mehr durch die Hintertür um Arbeit bitten.

Im letzten Jahr wurde ein Bericht über die Folter in Chile veröffentlicht. Haben Sie dafür auch ausgesagt?
Ja, aber ich war froh, dass so viele Compañeros dort waren, die meine Geschichte kannten. So musste ich die Details nicht erzählen. Die Folter habe ich ganz unten in den Erinnerungen verschlossen. Was sich mir tief eingeprägt hat, war der Moment, in dem ich das Gesicht meines Folterers gesehen habe. Da spürte ich solchen Hass und gleichzeitig Mitleid. Das sind kranke Seelen, die sie dafür ausbilden. Ich habe mich immer gefragt, was ich tun würde, wenn ich ihm eines Tages auf der Straße begegnen würde. Ich weiß es nicht. Ich habe das Gedicht »Zärtlichkeit« darüber geschrieben. (Belinda schweigt kurz und zitiert dann.) Deine Strafe wird es sein, mich lächeln zu sehen, denn du konntest mir die Zärtlichkeit nicht entreißen, die, der du Stromstöße versetzt hast.

Was hat die Veröffentlichung dieses Berichts in Chile gebracht?
Viele Leute wussten bis dahin gar nicht, was in den Gefängnissen wirklich geschah. Die waren ganz entsetzt. Jetzt aber ist das für immer in der Geschichte festgehalten. Doch auch diese Situation ist wieder ambivalent, denn die Folterer werden ja nicht strafrechtlich verfolgt. 15 Jahre nach dem Ende der Diktatur unterwirft sich die Regierung immer noch den Bedingungen der Militärs.

Ist denn die Bedrohung durch einen neuerlichen Putsch noch real?
Ich glaube nicht, dass die Bedingungen für einen Putsch gegeben sind. Aber er wird als Vorwand genutzt, die Menschen ruhig zu halten. In ihrem Programm hatte die Regierung versprochen, die Verfassung von Pinochet zu ändern und dessen Privatisierungen rückgängig zu machen. Nichts davon tat sie, sondern sagt immer nur: Wenn wir uns zu weit vorwagen, kommen die Militärs. Und so schweigen die Menschen. Denn in der Diktatur sind ja auch Leute verschwunden, die sich nicht politisch engagierten. Die Angst sitzt tief.

Bleibt nach solchen Erfahrungen nicht Wut auf Ihr Land zurück?
Auf mein Land, nein. Aber auf dieses System, das in Chile herrscht. Unbewusst habe ich mich immer mehr zurückgezogen. Ich will nichts mehr von all dem wissen. Mein Mann sagt, du bist so »light« geworden. Das tut sehr weh. Aber ich kann nicht mehr anders. Ich habe alles gegeben, und das ist jetzt meine Zeit. Die einzige Hoffnung, die ich noch habe, sind die Jugendlichen. Deshalb wollte ich auch Lehrerin werden. Sie sind von allem so enttäuscht. Ich will nicht diese Jugend, die die Diktatur zurückgelassen hat, die nicht spricht, die keine eigene Meinung hat. Ich habe sie ja selbst erlebt, als ich mit ihnen studierte. Niemand hat dort diskutiert oder widersprochen. Ich aber möchte Kinder erziehen, die kritisch sind, die Fragen stellen und Vorschläge machen. Das ist das einzige, was mir heute noch bleibt.

(ND 14.05.05)



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