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„Die grauenhaftesten Verbrechen unserer Geschichte“, in: Die Welt, 18.12.1978. Auch erschienen als Sonderdruck des Propyläen – Verlags unter dem Titel: „Geschichte im Widerstreit – Hellmut Diwald antwortet seinen Kritikern“
(Die Welt zuvor:)
„Die grauenhaftesten Verbrechen unserer Geschichte“
„Diese beiden Seiten in der ‚Geschichte der Deutschen’ sind das Ungeheuerlichste, was ich seit 1945 habe lesen müssen“, sagte ‚Golo Mann. Gemeint war die „Geschichte der Deutschen“ (Propyläen Verlag) von Hellmut Diwald. Golo Mann kritisierte besonders die Seiten 164 und 165, die „Alt- und Neu-Nazis mit Freude einschlürfen werden“, weil „dieser Ordinarius einer, ja leider, bayerischen ‚Universität den Judenmord glatt ableugnet.“ Außer Mann hatten Publizisten der verschiedensten politischen Richtungen den Eindruck, daß Diwald mit seiner anti-chronologischen Betrachtung der deutschen Geschichte Nazi-Verbrechen zu bagatellisieren versucht. Zu diesen Vorwürfen nimmt Diwald in dem folgenden Artikel Stellung."(Die Welt)
„Die grauenhaftesten Verbrechen unserer Geschichte“
von Hellmut Diwald
"Seit 1945 stand die Geschichte der Bundesrepublik in Mißkredit. Ich habe, nachdem die größte Katastrophe Deutschlands nunmehr ein Dritteljahrhundert zurückliegt, versucht, unsere Beziehungen zu Tausend Jahren deutscher Historie neu zu bestimmen. Dabei bin ich von einem anderen Geschichtsverhältnis ausgegangen, als es traditionell üblich ist, nämlich von der unmittelbaren Betroffenheit, der direkten Erfahrung von Geschichte in unserer Gegenwart, dem politischen und gesellschaftlichen Alltag des Jahres 1978. Ich habe keine Trennung zwischen Geschichte und Gegenwartsgeschichte akzeptiert und damit eine alteingebürgerte historiographische Sperrzone durchbrochen.
Ein solches Verfahren ruft die Zeitgenossen anders auf den Plan, als es bei sogenannten normalen Geschichtswerken der Fall ist. Jeder von uns ist Miterlebender, ob Zuschauer oder Akteur. Er fällt bei den Wahlen politische Entscheidungen, erklärt sich für dieses oder jenes Parteikonzept, die Regierungen sind von seiner Vertrauenserklärung getragen.
Weil nun die politischen Verhältnisse unserer Gegenwartsjahrzehnte auf Engste mit 1945, dem Jahr der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, und damit auch mit der Ära des Nationalsozialismus verkettet sind, rührt eine Geschichtsdarstellung, die sich um Nüchternheit, um differenzierte Einsichten und Interpretationen bemüht, beim Leser an emotionale Persönlichkeitsbezirke, ebenso an einen Bereich der Zwiespältigkeit, die den deutschen Sachen der Gegenwart eigentümlich ist. Das haben die ersten Reaktionen auf meine Geschichte der Deutschen gezeigt.
Das Stigma der Deutschen heißt „Auschwitz“. Aber trotz dieses Faktums unfaßlicher Grausamkeit – vielmehr: Gerade wegen dieses Faktums darf Geschichtsschreibung nicht zu einem Dienstleistungsunternehmen zur Verbreitung größtmöglichen Wohlbehagens degradiert werden. Ich habe in meinem Buch den Versuch der nationalsozialistischen Führungsspitzen, ihren weltanschaulichen Rassenantisemitismus bis zur gänzlichen Vernichtung der Juden innerhalb des deutschen Einflußbereiches in Europa voranzutreiben, so dargestellt, wie es mir im Gesamtzusammenhang der Geschichte der Deutschen notwendig schien.
Ich habe mich bemüht, es nicht nur in den gängigen Bekundungen des Abscheus zu belassen, sondern war bestrebt, auch die unterschiedlichen Interessen und Strömungen innerhalb der SS im Rahmen der Kriegsnotwendigkeiten anzudeuten, ebenso einiges von der Aufteilung der Kompetenzen im NS-Gefüge oder den Gruppengegensätzen. Schließlich habe ich den Satz geschrieben: „Was sich (seit Mitte 1940 mit dem Plan der Endlösung) in den folgenden Jahren abgespielt hat, ist trotz aller Literatur in zentralen Fragen noch immer ungeklärt.“
Über einige sehr polemische journalistische Attacken wäre ich um so leichter hinweggegangen, als ihre Autoren selber Funktionen in jenem SS-Regime eingenommen hatten, das ich nur als Kind erlebte. Aber diese ersten Stimmen stimulierten offenbar auch Kritiker und Kollegen, deren Urteil ich ernst nehme.
Solche Mißverständnisse auszuräumen erscheint mir tatsächlich von allergrößter Wichtigkeit. Ich nehme das so ernst, daß ich im Text der schon geplanten nächsten Auflage meines Buches einige wegen der – mich höchst überraschenden – Mißdeutungen anscheinend notwendige Ergänzungen einfügen werde.
Doch abgesehen davon, ob es sich um Mißverständnisse handelt, oder ob es bestimmte Motive für die publizistische Entrüstung gibt: In der Tat sind zentrale Fragen, die mit dem Schicksal der Juden während der Zeit des dritten Reiches zusammenhängen, noch ungeklärt.
Aber ehe ich einige davon aufzähle sei noch mal die für mich selbstverständliche Feststellung getroffen: An der Tatsache der millionenfachen Judenmorde und an den damit verbundenen Greueln gibt es für mich keinen Zweifel.
Meine Position gegenüber der Gewaltherrschaft Hitlers scheint mir aus dem Buch so deutlich hervorzugehen, daß ich überhaupt nicht verstehe, wie man über folgenden Sätze hinweglesen konnte: „Während des Krieges wurden von der nationalsozialistischen Führungsgruppe an der Spitze die grauenhaftesten Verbrechen unserer Geschichte begangen. Millionen Menschen wurden ermordet im Namen Deutschlands und des deutschen Volkes. Was sie dazu veranlaßte, wie sie die Verbrechen begründeten, in welchem Zusammenhang sie mit der Kriegslage standen, alles das ändert nichts an der Tatsache selbst. Kein Deutscher wird dies bezweifeln.“
Ich habe ebenso geschrieben, daß „in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten seit 1942 ungezählte Menschen ermordet wurden, Juden, Zigeuner, Homosexuelle, Menschen „minderen Erbgutes“ oder „Angehörige unterwertiger Rassen“.
Ich habe ferner aus dem politischen Testament Hitlers vom April 1945 zitiert, das darin gipfelt, daß er das Judentum für den Krieg verantwortlich gemacht hat und dafür büßen ließ. Im Anschluß daran habe ich an die „Endlösung“ erinnert: „Dies ist das grauenhafteste Thema der systematischen Vernichtung eines Volkes, das für Ereignisse büßen mußte, für die es gemäß der Logik eines Wahnsystemes verantwortlich gemacht wurde – ein Thema, das durch die Vokabel „Auschwitz“ einen entsetzlichen Symbolwert erhalten hat.“
Wie konnte das alles mißverstanden werden?
Aber nun zu einigen der ungeklärten Fragen, von denen ich in meinem Buch spreche. Nicht ohne Grund sind Diskussionen darüber in den letzten Jahren neu aufgeflammt.
Ungeklärt ist die unmittelbare Urheberschaft des Plans der physischen Judenvernichtung: Wäre das anders, hätte es nicht zu so verwegenen Thesen wie jener von der Unkenntnis Hitlers von der Judenvernichtung kommen können. Ungeklärt sind die auslösenden Motive des Umschlags des ursprünglichen Konzepts einer forcierten Auswanderung der Juden über ihre gewaltsame Austreibung bis hin zu systematischen Ermordung eines ganzen Volkes.
Ungeklärt ist, wann und in welchem Umfang die westlichen Alliierten und nichtdeutschen Regierungen Kenntnis von dem Schicksal erhielten, das die europäischen Juden drohte; ungeklärt sind die Motive ihres Schweigens, ihrer Reserve, ihrer Gleichgültigkeit; welchen Quellen also entsprang die „moralische Indolenz, mit der fast alle Welt bald darauf der Ausrottung der Juden zusah“, wie es ein namhafter deutscher Leitartikler anläßlich des Gedenkens am 9. November 1978 formuliert?
Ungeklärt ist, wie es mit den verzweifelten Bitten an die im Besitz der totalen Luftherrschaft befindlichen Alliierten stand, durch Zerbombung der wichtigsten Bahnhöfe, Gleisanlagen und Vernichtungszentren die Deportation und den Genozid nachhaltig zu stoppen.
Ungeklärt ist, warum die westlichen Alliierten 1943 den deutschen Vorschlag ablehnten, 70.000 Juden aus Bulgarien freizugeben; wir wissen nur, daß bei der Konferenz zwischen Roosevelt, Churchill und Eden in Washington der britische Außenminister zu bedenken gab: „Das europäische Judenproblem ist sehr schwierig, und wir sollten mit einer Offerte, die bulgarischen Juden aufzunehmen, sehr vorsichtig sein.“ Eden befürchtete, daß als Folge einer positiven Entscheidung Hitler vorschlagen werde, auch polnische und deutsche Juden aufzunehmen, und dies könnte dann nach einem Präzedenzfall nicht abgelehnt werden.
Ungeklärt sind die Hintergründe des schauerlichen Projekts des von der SS 1944 vorgeschlagenen Tausches „Eine Million Juden gegen Lastwagen“; ungeklärt sind die Umstände, die zu der Frage Lord Moynes, des stellvertretenden britischen Staatsministers im Nahen Osten, gehörten: “Was soll ich mit dieser Million Juden tun?“ Ungeklärt sind die Gründe, warum der damalige stellvertretende Außenminister der Sowjetunion Andrej Wyschinski in einer Geheimmitteilung das Veto Moskaus gegen alle weiteren Verhandlungen der USA über das Projekt einlegte.
All das, und überdies noch eine Fülle von Einzelheiten, wird solange ungeklärt bleiben, bis sich die jetzige Situation des Quellen- und Dokumentenbestandes ändert. Das ist jedem der etwas näher mit der Geschichte des Nationalsozialismus befaßt hat, bekannt. Sämtliche NS-Akten und ebenso die Quellen zur Geschichte der Weimarer Republik wurden 1945 von den Siegermächten beschlagnahmt, ein Teil davon wurde vernichtet.
Die USA und Großbritannien begannen erst seit 1960, ausgewählte Bestände zurückzugeben. Die einschlägigen Dokumente in der DDR sind der westdeutschen Forschung unzugänglich. Der Modus, nach dem die USA die NS-Akten des Berliner „Dokument Center“ preisgeben oder zurückhalten, schwankt zwischen Geheimnis und Willkür. Die Sowjetunion und Frankreich haben bis heute noch keine einzige Akte zurückgegeben.
Prüfung der Quellen zum Zweck zuverlässiger Information hat nicht das geringste mit der Relativierung des sittlichen Urteils zu tun. Schließt die unbestreitbare und von keinem ernst zu nehmenden Menschen bestrittene Ungeheuerlichkeit der Verbrechen Hitlers und seiner verantwortlichen Führerschicht eine sachliche Diskussion aller Umstände, die zu den Verbrechen gehören, aus? Schon daß man heute als Historiker gezwungen wird, eine solche Frage zustellen, ist absurd.
Soll und kann das Ausmaß der Judenvernichtung zu einer Grenze erklärt werden, die wir selbst dann nicht berühren dürfen, wenn es um die weitestmögliche Klärung von Sachverhalten geht? Die freie Verfügbarkeit über das noch vorhandene Gros der NS-Akten wird geraume Zeit auf sich warten lassen. Nur der Griff zu den Quellen kann dem Historiker ein Optimum an Gewißheit vermitteln, auch dem Zeithistoriker. Unterschiedliche Darstellungen und Interpretationen von Sachverhalten lassen sich nicht anders diskutieren und klären als mit Hilfe der Quellen.
Am kriminellen Charakter des Hitler-Regimes gibt es nichts zu bezweifeln, nichts zu beschönigen, nichts läßt sich relativieren: ich habe das seit Jahren immer wieder betont. Aber es gibt noch viel zu klären und zu differenzieren. Und es muß ohne Rücksicht darauf, wem dies behagt oder zuwider ist, die Frage untersucht werden, ob die Verbrechen des Nationalsozialismus das unausweichliche einer auf Herausbildung des Kriminellen angelegten Geschichte der Deutschen oder ob für diese Verbrechen die NS-Führungsschicht, ihre Helfer und die das Regime unterstützenden Massen verantwortlich waren.
Deutschland ist bis 1933 für die Juden des europäischen Ostens ein Land der Hoffnung gewesen. Kein Volk in Europa, bei dem der jüdische Anteil im Geistigen, in Kultur und Wissenschaft, in Wirtschaft und Gesellschaft von vergleichbarem Gewicht gewesen wäre wie beim deutschen. Rassenantisemitismus war in diesem Deutschland ohne Bedeutung. Wohl aber gehörte der Rassenantisemitismus, die Rassenlehre, zentral zur Hitlerbewegung, war die Voraussetzung für die grauenhaften Verbrechen.
Nach 1945 wurden all diese Verbrechen von den meisten Deutschen weder geleugnet noch beschönigt, sie lösten vielmehr über Jahre, Jahrzehnte hinweg mit Recht die abgründigsten Gewissensqualen aus. Mit jenen unfaßlichen Verbrechen, zumal der systematischen Judenvernichtung hing die seinerzeit so leidenschaftlich erörterte These von der Kollektivschuld der Deutschen zusammen.
Sie muß heute, da eine Hinwendung zu unserer Geschichte eingesetzt hat, zwangsläufig wiederum aufgerollt werden. Sind also die Verbrechen der Hitler-Ära nur von einem Teil der NS-Funktionäre begangen worden, oder ruht auf den Deutschen schlechthin – auf jedem Deutschen – eine kollektive Schuld dafür? Sei es, weil die Untaten im Namen Deutschlands begangen wurden, sei es, daß nicht nur Regierungen oder Politiker die Schuld für ihre kriminellen Taten zu tragen haben, sondern Völker selber. Oder gibt es zwar keine Kollektiv-Schuld, wohl aber eine kollektive Verantwortung und damit Haftung?
In den Jahrzehnten nach 19445 stellte sich schließlich nach langem Ringen die Frage der Schuld in einer doppelten Form: Unter religiösen, theologischen, metaphysisch-ethischen Gesichtspunkten besaß die Kollektivschuld-These einen unbestreitbaren, in ihrer Dimension rational nicht auszulotenden Gehalt. Nicht halten ließ sie sich jedoch als politische Kollektivschuld, als eine Art säkularisierte Erbsünde, deren Makel selbst den Ungeborenen alle künftigen Geschlechter gewiß sei.
In unserer Gegenwart des Jahres 1978 akzeptieren die Jüngeren weitgehend den moralischen Gehalt der Kollektivschuld-These. Die Ausweitung in den politischen Raum, samt den politischen Konsequenzen, lehnen sie zu Recht ab. Ihr Verhältnis zum Judentum, zu Israel, zu den jüdischen Mitbürgern, die freilich aufgrund ihrer geringen Zahl kaum ein beachtliches Element ihres gesellschaftlichen Alltags darstellen, ist von befreiender Unbefangenheit.
Dies entspricht auch dem Freimut mit dem eine neue Generation der Geschichte der Deutschen gegenübersteht. Sei weiß, daß zu dieser Geschichte ungeheure Verbrechen gehören, daß sie sich jedoch darin nicht erschöpft. Ihre Aufmerksamkeit steht auf einer soliden Basis: dem Willen zur zuverlässigen Information. Die Jungen in unserem Lande halten nichts davon, Hitler – seine Bewegung sowenig wie seine Verbrechen – im Halbdunkel der Mystifikation des Schrecklichen zu lassen.
Sie beharren nicht zuletzt deshalb auf präzisen Auskünften, weil sie die Unentbehrlichkeit ihrer Geschichte wieder entdeckt haben, samt ihrer Tiefen und ihren respektablen Zeiten, samt ihren unauslöschbaren Verbrechen, aber auch samt denjenigen Manifestationen, die es uns auch heute erlauben, im Vertrauen auf die tragende Substanz unserer Geschichte das Wort „deutsch“ auszusprechen."
Zudem:
Hellmut Diwald
Deutschland einig Vaterland,
Geschichte unserer Gegenwart
"Auschwitz: Symbol und Wirklichkeit
Die beispiellose Entrechtung und systematische Ermordung der Juden während des Krieges durch die deutsche Führung ist eine Tatsache. Doch diese schlichte Feststellung ist für die Notwendigkeit, den Tatbestand selbst exakt zu klären, unzureichend. Ihr Aussagegehalt reicht nicht weiter als etwa die Feststellung, daß es im Jahre 1939 zu einem Krieg zwischen Deutschland und Polen kam.
Nun gibt es aus der Geschichte des Dritten Reiches keinen Fragenkomplex, der sich einer genauen Erforschung durch deutsche Historiker so heillos entzieht wie das grauenhafte Schicksal der Juden während des Krieges. Das Bonner Grundgesetz garantiert zwar die Freiheit von Forschung und Wissenschaft. Eine Reihe von einschlägigen Urteilen und Verurteilungen empfiehlt jedoch, sich weder dem Risiko auszusetzen, durch eine entsprechende Themenwahl die Freiheit jener Grundrechte einer Probe aufs Exempel zu unterziehen, noch sich dem nicht minder großen Risiko auszusetzen, auch nur andeutungsweise gegen das 21. Strafrechts-Änderungs-Gesetz vom 13. Juni 1985 zu verstoßen und eine Anklage wegen Beleidigung zu provozieren.
Das bedeutet die Tabuierung gerade jenes Fragenkomplexes der Zeitgeschichtsforschung, der wie kein anderer im Zusammenhang mit der insgeheim nach wie vor aufrecht erhaltenen These von der Kollektivschuld das deutsche Volk belastet wie kein anderes Ereignis. Gerade deshalb müßte ihm aber die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Es ist das wichtigste deutsche Thema dieses Jahrhunderts, soweit es unser historisches Selbstverständnis betrifft. Sollte bei seiner Ummauerung die Überlegung eine Rolle gespielt haben, daß die Ergebnisse einer sachlichen Erforschung möglicherweise die theologische Verankerung unserer kollektiven Verschuldung beeinträchtigen könnten?
Das Stigma des deutschen Volkes heißt »Auschwitz«. Zur Zeit spricht nichts dafür, daß es zutunlich sei, in eigener Sache die Konzentrationslager des Dritten Reiches zu einem Sujet der Untersuchung zu machen. Es bleibt aber auch eine Tatsache, daß Geschichtsschreibung nicht zu einem Dienstleistungsunternehmen zwecks Verbreitung größtmöglichen Wohlbehagens oder anderer Gefühle degradiert werden darf. Deshalb lassen sich präzise Fragen nicht durch die gängigen Bekundungen des Abscheus oder moralische Verdikte beantworten. Nichts zu ändern ist bis heute an der Feststellung, die schon vor einem Jahrzehnt im Zusammenhang mit wissentlich falschen Behauptungen in der Literatur getroffen wurde: »Man beutete eines der grauenhaftesten Geschehnisse der Moderne durch bewußte Irreführungen, Täuschungen, Übertreibungen für den Zweck der totalen Disqualifikation eines Volkes aus."
Diese Feststellung löste bei einer wortführenden Gruppe der im Dienst der Umerziehung arbeitenden Zeithistoriker und Publizisten um so hellere Empörung aus, je besser sie wußten, daß der beschriebene Sachverhalt zutraf. Ebensowenig war zu bestreiten, daß im Zusammenhang mit den Bezeichnungen »Gesamtlösung« oder »Endlösung« die Ereignisse, die sich in den Jahren seit 1941/42 abgespielt hatten, "trotz aller Literatur in zentralen Fragen noch immer ungeklärt" sind. Ungeklärt sind etwa die vielen Fragen, die sich einerseits mit Auschwitz als einem riesigen Betrieb der Rüstungsindustrie, speziell der Kohlehydrierung und der Produktion von Kunstkautschuk, und andererseits mit Auschwitz als einem Vernichtungslager stellen. Dasselbe gilt für die gegenläufigen Ziele und Kompetenzen der SS-Führung wie dem Reichssicherheits-Hauptamt und dem Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamt.
Die ethische Dimension der verbrecherischen Diskriminierung der Juden macht es noch immer für einen Deutschen nahezu unmöglich, den Sachgehalt der Ereignisse unbetroffen nüchtern zu behandeln. Die Beweggründe, die Verantwortlichkeiten, die Formen des Mordens lassen sich mit der wissenschaftlichen Objektivität kaum in Deckung bringen.
Sowohl von innen her, als auch von außen aufgrund anderer Interessen befindet sich alles, was mit »Auschwitz« zusammenhängt, unter einer weitestgehend juristisch gefestigten Abschirmung.
Unbestritten aber bleibt es, um wenigstens ein oder zwei der brennenden Fragen deutlich zu machen, warum die westlichen Alliierten im Jahre 1943 den deutschen Vorschlag ablehnten, 70 000 Juden aus Bulgarien freizugeben. Wir wissen nur, daß bei der Konferenz zwischen Roosevelt, Churchill und Eden in Washington der britische Außenminister zu bedenken gab: »Das europäische Judenproblem ist sehr schwierig, und wir sollten mit einer Offerte, die bulgarischen Juden aufzunehmen, sehr vorsichtig sein.« Eden befürchtete nämlich, daß als Folge einer positiven Entscheidung Hitler zusätzlich vorschlagen würde, auch polnische und deutsche Juden aufzunehmen, und dies könne dann, wie Eden unterstrich, nach einem Präzedenz wie den bulgarischen Juden nicht mehr abgelehnt werden.
Ungeklärt sind auch die Hintergründe eines Projekts der SS-Führung im Jahre 1944. Es handelte sich um den Tausch von "einer Million Juden gegen Lastwagen". Ungeklärt sind die Umstände, die zu der Frage Lord Moyne's, des stellvertretenden britischen Staatsministers im Nahen Osten gehörten: "Was soll ich mit einer Million Juden tun?". Ungeklärt ist die Frage, warum der damalige stellvertretende Außenminister der Sowjetunion, Andrej Wyschinskij, in einer Geheimmitteilung das Veto Moskaus gegen alle weiteren Verhandlungen der USA über dieses Projekt einlegte. Ungeklärt ist der Umstand, warum »Auschwitz« in den Nürnberger Prozessen keine zentrale Rolle spielte und warum das Lager von den Russen viele Jahre gesperrt blieb. Ungeklärt ist auch die Frage, warum die westlichen Alliierten, trotz genauer Luftaufklärung, nicht die Transportwege nach Auschwitz bombardiert haben.
Solche Fragen, und dazu eine Fülle ähnlich dringlicher, werden solange ungeklärt bleiben, solange die einschlägigen Akten und beschlagnahmten Dokumente, die insbesondere von Frankreich, Polen und der Sowjetunion nicht freigegeben sind, unzugänglich bleiben. Prüfung von Quellen zum Zweck zuverlässiger Information hat nichts mit einer Relativierung des sittlichen Urteils zu tun. Auch nichts mit dem hinterhältigen Vorwurf, schon eine sachgerechte Schilderung der Entwicklung des Dritten Reiches sei eine »Verharmlosung« des Nationalsozialismus."
(Quelle: Hellmut Diwald, Deutschland einig Vaterland, Frankfurt/M. 1994², S. 70 - 73)