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Die Bedeutung des Vertrages von Verdun (843) für die Entstehung des Deutschen Reiches
Die politische Entfaltung West- und Mitteleuropas
I. Einleitung und unmittelbare Vorgeschichte
Das Fränkische Reich ist die bedeutendste Reichsbildung des frühen Mittelalters. In diesem romanische und germanische Völker umfassenden Reich wurden die entscheidenden Grundlagen für die politische, soziale und kulturelle Entwicklung Westeuropas – besonders Deutschlands und Frankreichs – gelegt. Von diesem Zentrum gingen bedeutende Impulse aus. Die Verbindung fränkischer Könige und Kaiser mit dem Papsttum hatte weitreichende Folgen nicht nur für den Verlauf der fränkischen, sondern auch für die gesamteuropäische Geschichte. »Der Bund des fränkischen Königtums mit dem Papsttum war von weltgeschichtlicher Bedeutung«.1)
Zur Bedeutung des Frankenreiches heißt es in Meyers Enzyklopädisches Lexikon treffend: »Das Fränkische Reich ist die Ausgangsbasis für Institutionen und Kultur aller europäischen Staatengebilde des Mittelalters. Es hat die Reste der antiken Kultur bewahrt und umgestaltet. In den Wirren der Völkerwanderungszeit bildete es den ersten Stabilisierungsfaktor, indem es einen dauernden Ausgleich zwischen romanischen und germanischen Bevölkerungsteilen schuf. Gleichzeitig verlagerte sich in ihm der Schwerpunkt des politischen Geschehens vom Mittelmeer weg in den Nordwesten Europas.«2)
»Hier wurden«, so der Brockhaus, »die Reste antiker Kultur erhalten und mit germanisch-christlichen Vorstellungen zu einem Neuen, zur abendländischen Kultur des Mittelalters, verschmolzen. Im Fränkischen Reich kam es zum Ausgleich der romanischen und germanischen Bevölkerungsteile«.3)
Das fränkische Großreich erlebte unter Karl dem Großen (reg. 768–814) seinen Höhepunkt in der Errichtung des abendländischen Kaisertums und in seiner größten Ausdehnung und Macht. Aus den Schulen, die Karl der Große schuf, sind Bildung und Wissenschaft des Mittelalters hervorgegangen. Durch die mangelnde Stabilisierung des Imperiums zeigten sich unter dem Nachfolger und einzig überlebenden Sohn Karls des Großen – Ludwig I., der Fromme (reg. 814–840) – erste Auflösungstendenzen. Die Zeit Kaiser Ludwig I. war u. a. gekennzeichnet durch Kämpfe bzw. das Ringen um die Reichseinheit. Der Einheit des Reiches stand die fränkische Praxis der Herrschaftsteilung – resultierend aus den germanisch geprägten Erbrechtsvorstellungen – entgegen. »Die Abhängigkeit der mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse vom Grundbesitz führte dazu, daß der Erbgedanke über den Bereich des Privatrechtes hinaus bis in das Erbrecht der Dynastie verfolgt wurde«.4)
»In der ,Ordinatio imperii' von 817 (der Zurückdrängung des dynastischen Teilungsgrundsatzes; RJE) fand Ludwig der Fromme auf einem Aachener Reichstag eine Lösung, die dem Einheitsprinzip eindeutig den Sieg über die Teilung verschaffte«.5) Jedoch in einer neuen Erbfolgeordnung – zugunsten seines Sohnes Karl aus 2. Ehe, später auch Karl der Kahle genannt – von 831 »gab er – endgültig – den Einheitsgedanken preis (als eine Rückkehr zum älteren Teilungsbrauch; RJE), beschränkte Lothar auf Italien (der noch 817 zum Mitkaiser und Erben gewählt und gekrönt wurde) und teilte das Gebiet nördlich der Alpen unter Pippin, Ludwig und Karl …«6)
Fanden auch zu Lebzeiten Ludwig des Frommen umfangreiche Auseinandersetzungen und Kämpfe (1. und 2. Empörung der Söhne) um den Besitz von Territorien statt, so entschied nach dem Tod Ludwig I. ein offener Bruderkrieg über die Reichseinheit. Führten die Straßburger Eide (14.2.842) noch zu einem Bund von Ludwig dem Deutschen
(reg. 843–876) und Karl dem Kahlen (reg. 840–877) gegen den älteren Bruder Lothar I. (reg. 840–855), so führte der Vertrag von Verdun im August 843 zur Teilung des Reiches. Kaiser Lothar I. teilte das Fränkische Reich bzw. Karolingerreich mit seinen beiden Brüdern.
II. Die Auswirkungen des Vertrages von Verdun
Durch den Teilungsvertrag von Verdun (nach dem Prinzip der brüderlichen Gleichberechtigung) fiel der Westteil des fränkischen Reiches an Karl den Kahlen und der Ostteil an Ludwig den Deutschen. Lothar I. erhielt neben Italien mit Rom und die Stammlande mit Aachen einen Mittelteil des Reiches (sog. »Kegelbahn«) sowie die Kaiserwürde. Jedoch »ideell und nominell bleibt die Reichseinheit gewahrt.«7) Ideell durch die »Brüdergemeinschaft«, nominell »im Bemühen um eine gemeinsame Politik«.8) Das Reich wurde noch immer »in seinem alten Umfang als gemeinsames Herrschaftsgebiet des karolingischen Hauses angesehen …, da Zusammenkünfte der drei Herrscher (Frankentage) im Sinne der Brüdergemeinschaft (caritas fraterna) und der – im Einzelfall geschlossenen – Schwurgemeinschaft (amicitia) politische Richtlinien festlegten und Familienbeziehungen der Reichsaristokratie und Doppelvasalitäten die ,Binnengrenzen' von 843 überbrückten.«9)
Der Teilungsvertrag von Verdun – primär keine Reichsteilung, sondern nur eine Herrschaftsteilung in der Königsfamilie – leitete jedoch den Zerfall des Fränkischen Reiches ein. Nach Verdun ist es »zu einer dauerhaften Wiedervereinigung der Reichsteile nicht mehr gekommen. Das Reichsvolk der Franken selbst war zerteilt …«.10)
Unter Karl III. (reg. 885–887) gelang zwar noch einmal eine Vereinigung, jedoch nach seiner Absetzung (887) vollzog sich die endgültige Trennung. Es entstanden die Königreiche Frankreich und Deutschland sowie die Herrschaftsbereiche Burgund und Italien. Durch den Vertrag von Verdun erhielten die im Fränkischen Reich vereinigten Teilreiche ein Eigengewicht, das die spätere Entwicklung einleitete. Im ost- und westfränkischen Reich war die Basis geschaffen für die Entstehung des deutschen und französischen Volkes. »Der Vertrag, in dem die Brüder sich den Besitz ihrer Reiche und in ihnen das Nachfolgerecht ihrer Söhne garantierten, wurde auch von den Großen beschworen, die bereits an seinem Zustandekommen einen großen Anteil genommen hatten.«11) Der Vertrag von Verdun »besiegelte, daß die eigentliche Staatsidee der ersten Jahrhunderthälfte, die im Kaiser gipfelnde echte Reichseinheit, endgültig gescheitert war.«12)
III. Die Teilreiche
»Die Teilung nahm den Besitzstand der Brüder vor dem Tode des Vaters – Italien, Bayern, das Land zwischen Maas und Seine – als gegeben an …«13) Die Grenzen der neuen Teilreiche »wurden im Zeichen des Sieges der partikularen Gewalten (Ludwig und Karl) über die Einheitspartei festgelegt. In ihrer räumlichen Geschlossenheit und sprachlich-kulturellen Einheitlichkeit lagen günstige Voraussetzungen selbständiger Machtentfaltung«.14)
A) Das Mittelreich (843–875)
Das Reich Lothars I. umfaßte die Stammlande mit Aachen und Italien mit Rom und wurde durch einen Landstreifen miteinander verbunden. Dieser Gebietsstreifen umfaßte im Norden Friesland und wurde im Osten begrenzt von Rhein und Alpen, im Westen von Schelde, Maas, Saône und Rhone. Zusätzlich »wußte Lothar das Land zwischen Maas und Schelde seinem Bruder Karl noch abzuringen.«15) Bosl bezeichnet das »Lotharingische Zwischenreich« als »ein uneinheitliches Herrschaftsgebilde von Holland bis zur Provence mit Einschluß (Reichs-) Italiens, das zum europäischen Kampffeld zwischen Deutschland und Frankreich wurde, im ganzen aber die Tradition des alten Burgund fortsetzte.«16)
Zimmermann bemerkt: »Dieses merkwürdige Mittelreich sollte wohl die Wahrung des Einheitsprinzipes symbolisieren, war aber kaum so strukturiert, um dem Oberhaupt der Familie und des Imperiums ein autoritatives Eingreifen in die östlich und westlich davon gelegenen Herrschaftsgebiete seiner selbständig handelnden Brüder zu ermöglichen.«17)
B) Das Westfrankenreich (843–987)
Das Reich Karl II., des Kahlen, enthielt die Hauptmasse der romanischen Lande. König Karl II. hatte »sich in Aquitanien freilich noch mit seinem dort stark verwurzelten Neffen Pippin II. auseinanderzusetzen«.18)
C) Das Ostfrankenreich (843–911)
Das Reich Ludwigs des Deutschen umfaßte die Hauptmasse der deutschsprachigen Lande. Bei Löwe heißt es: »Ludwig der Deutsche aber sicherte sich außer dem rechtsrheinischen Germanien die Diözesen Mainz, Worms und Speyer, eine wirtschaftsstarke fränkische Kernlandschaft mit wertvollem Königsgut und einen für die Verteidigung seines Reiches wichtigen Brückenkopf.«19) »Tatsächlich hatte Ludwig nach 843, abgesehen von den Rätoromanen und den Slawen in den Grenzmarken, nur germanische Untertanen …«20)
IV. Der Vertrag und seine Quellen
Dem Vertrag gingen langwierige – von gegenseitigem Mißtrauen begleitete21) – Verhandlungen voraus. »Eine umfassende ,descriptio' der verfügbaren Güter und Rechte war bestimmt, die Gleichwertigkeit der Anteile sicherzustellen.«22) Zur Erstellung dieser »descriptio«, schon vereinbart im vorläufigen Frieden vom Juni 842, auf der Saôneinsel bei Macon, schreibt Schieffer: »… von den übrigen Räumen sollte eine Kommission aus je 40 Männern jeder Partei eine descriptio, d. h. eine Art von administrativ-wirtschaftlichem Inventar
aufnehmen.«23) In dem Hinweis zur Quellenlage (Anm. 19) heißt es diesbezüglich bei Schieffer: »Vorarbeit oder Teil dieser (nicht erhaltenen) descriptio ist sehr wahrscheinlich das Churätische Reisurbar … vielleicht auch das Lorscher Reichsurbar ( Codex Laureshamensis) …«24) Löwe verweist ebenfalls auf das churrätische Reichsguturbar als Quelle zur Geschichte des Vertrages von Verdun.
Die Teilung orientierte sich »neben allgemeinen geographisch-politischen, vielleicht auch militärischen Erwägungen offenbar sehr stark am wirtschaftlichem Ertrag.«25) »… allerdings dürfte das früher auf 830/850 datierte Lorscher Reichsguturbar, sowie das zunächst auf 830/831 angesetzte churrätische Reichsguturbar, wohl erst bei der Vorbereitung der Grenzziehung des Vertrages von Verdun 842/43 entstanden sein.«26) Ganshof verweist auf einen Zusammenhang in bezug auf die Größe der Teilreiche und der Aufteilung bzw. die »Gleichwertigkeit der drei Massen ertragsfähiger Ämter, Benefizien, Rechte und Güter neben der affinitas und der congruentia und mehr als diese die entscheidende Rolle bei der Zusammensetzung der im August 843 zu Verdun entstandenen Teilreiche gespielt hat. Ich glaube (so fährt er fort) auch erwiesen zu haben, daß sich dies großenteils erklären läßt aus der Notwendigkeit, die für jeden der drei Brüder bestand, über recht zahlreiche ertragfähige Ämter, Benefizien usw. zu verfügen, um seine Anhänger zu bewahren und um neue Anhänger zu werben.«27)
Die Verträge, die aus dem frühen Mittelalter überliefert sind, »vorwiegend aus karolingischer Zeit, bei denen urkundliche Aufzeichnungen den Formalakt des Abschlusses begleiten, erlauben durch ihre Form und ihren Inhalt tiefe Einblicke in die Eigenart frühmittelalterlicher Staatsbildungen und ihrer Beziehungen untereinander.«28) Liegen die wichtigsten Verträge – etwa aus dem 6. bis 10. Jahrhundert – »in kopialer Überlieferung, zumeist in Rechtssammlungen, z. T. in Annalen«29) vor, ist der besonders wichtige Vertrag von Verdun textlich nicht erhalten.
Folgende Quellen jedoch geben über den Vertrag von Verdun Auskunft30): a) Annales Bertiniani 843; b) Annales Fuldenses auctore Rudolfo 843; c) Regino von Prüm, Chronicon; d) aus einem Brief Lothars I. an Papst Leo IV. (847/49); e) aus den Briefen Papst Hadrians II.: 1. an König Karl den Kahlen, 2. an die Erzbischöfe und Bischöfe im Reich Karls d. Kahlen, 3. an Erzbischof Hinkmar von Reims. Alle drei vom 27. Juni 870 und f) aus einem Brief Papst Johannes VIII. (874/875) an die ostfränkischen Könige Ludwig III. und Karl III. Ferner ist noch auf die Annales Xantenses hinzuweisen.
Was die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihr Quellenwert – u. a. für den Vertrag von Verdun – betrifft, so heißt es bei Zimmermann: »Auch in der Geschichtsschreibung fand die Reichsteilung ihren Niederschlag. Die sogenannten Reichsannalen enden nämlich just in jenem Jahr 829, mit dem die Krisenzeit des karolingischen Imperiums begann. Sie wurden nur im Westen in den sogennanten ,Annales Bertiniani' fortgesetzt, welcher Arbeit sich eine Zeitlang niemand Geringerer als der vornehmste Metropolit Frankreichs, der Erzbischof Hinkmar von Reims (gest. 882) widmete. Im Osten übernahmen die schon früher begonnenen Fuldaer Jahrbücher die Funktion einer genaueren Berichterstattung über die historischen Begebenheiten.«31)
Nach Jakob/Hohenleutner bieten die Annales Bertiniani als westfränkische Fortsetzung der Reichannalen »wertvolle Kunde für die deutsche Geschichte«32); und die Annales Fuldenses sind »wirklich Reichsgeschichte, natürlich nicht ohne höfische Rücksichtnahme«.33)
Die Chronik des Abtes Regino von Prüm bietet »im wesentlichen nur annalistische Aneinanderreihungen«34) bzw. »ein charakteristisches Bild von der Zersetzung und Auflösung des Karolingerreiches«.35)
In den Annales Bertiniani heißt es in bezug auf den Vertrag von Verdun: »Karl begab sich zur Zusammenkunft mit den Brüdern und traf sie in Verdun. Hier erhielt Ludwig, nachdem die Teilung ausgeführt war, alles jenseits des Rheins, dazu diesseits die Städte und Gaue von Speier, Worms und Mainz; Lothar das Land zwischen Rhein und Schelde bis zu ihrer Mündung und dann das Land um Cambrai, den Hennegau, das Lomensische (zwischen Maas und Sombre) und Castricische (südlich davon) Gebiet, und die Grafschaften links der Maas und weiter bis zum Einfluß der Saône in die Rhone, und der Rhone entlang bis zum Meer mit den Grafschaften links der Maas und weiter bis zum Einfluß der Saône in die Rhone, und der Rhone entlang bis zum Meer mit den Grafschaften auf beiden Seiten. Außerhalb dieser Grenzen erhielt er bloß Arras durch die Güte seines Bruders Karl. Der Rest bis Spanien fiel Karl zu. Und nachdem sie gegenseitige Eide geschworen schied man zuletzt voneinander.«36)
In den Annales Fuldenses heißt es: »Als von den Edlen das Reich aufgenommen und in drei Teile geteilt war, kamen in Verdun in Gallien die drei Könige im August zusammen und teilten das Reich: Ludwig erhielt den östlichen Teil, Karl den westlichen, Lothar als der älteste den dazwischen gelegenen Anteil. Als sie so Frieden gemacht und durch Eidschwur bekräftigt hatten, zogen sie heim, um jeder seinen Teil zu sichern und zu ordnen. Karl, der Anspruch auf Aquitanien erhob, da es von Rechts wegen zu seinem Reiche gehöre, wurde seinem Neffen Pippin lästig, indem er ihn durch zahlreiche Einfälle heimsuchte, öfter aber große Verluste im eigenen Heere erlitt.«37)
V. Die Bedeutung des Vertrages für die Entstehung des Deutschen Reiches
Inwiefern war der Teilungsvertrag von Verdun ein Schritt hin zu selbständigen Staaten oder inwiefern offenbart sich hier die Stimme werdender Nationen? Die als ältestes Sprachdenkmal der altfranzösischen und althochdeutschen Sprache zwischen Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen geleisteten Straßburger Eide (14.2.842; der Zurückweisung des kaiserlichen Oberherrschaftsanspruches) »stellen ein erstes Zeugnis der sprachlichen Verschiedenheit der fränkischen Teilreiche Ost- und Westfranken dar.«38) Um von den Gefolgsleuten der Gegenseite verstanden zu werden, leistete Ludwig den Bündniseid in romanischer und Karl umgekehrt in germanischer Sprache. Doch, so Schieffer, »dürfen sie wegen dieses glücklichen Überlieferungszufalles (gemeint der überlieferte volkssprachliche Wortlaut der Eide durch den Chronisten Nithard; RJE) nicht schon historisch-politisch als Stimme der werdenden Nationen interpretiert werden.«39)
Im gleichen Sinne spricht Schieffer von der Bedeutung des Teilungsvertrages von Verdun, daß die »Aufgliederung des Großreiches in Zuständigkeitsbereiche, die durchaus nicht als unabänderlich und schon gar nicht als ein System von drei selbständigen Staaten gedacht war(en). Es handelte sich (so fährt er fort) also keineswegs um eine zukunftsweisende Tat …«40) Schieffer sieht im Vertrag von Verdun nicht den Ausdruck bzw. die Notwendigkeit zu neuen Staatsgründungen hin – eventuell aus ethnischer Notwendigkeit – sondern er kommt zu einer schlüssigen Erklärung des Gesamtvorfalles: Karls des Großen »west- und mitteleuropäische Gesamtmonarchie war eine einmalige Realisation, deren historische Funktion aus dem Werden des abendländischen Mittelalters nicht wegzudenken ist, deren dauernde Bewahrung aber die administrativen und militärischen, wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten des Zeitalters hoffnungslos überfordert, aber auch dem überkommenden Rechtsdenken widersprochen hätte – eben darin haftet dem großzügigen Grundsatzprogramm der Reichseinheit im letzten doch etwas von theoretischer Konstruktion an.«41)
Die für das Thema entscheidende Frage formuliert Steinbach wie folgt: »Die Frage, ob die sprachliche Zusammengehörigkeit die Bildung der entscheidenden Heeresgruppen unter den gegen Lothar verbündeten Brüdern begünstig hat, rührt an ein ungelöstes Rätsel abendländischer Geschichte. Ansätze romanischer und germanischer Selbstbesinnung sind im Zusammenhang mit der Entstehung der Sprachgrenze und dem Gegensatz von Neustrien und Austrien seit dem siebten Jahrhundert festzustellen. Sie sind von den ersten Karolingern politisch überwunden, aber in der Zeit Karls des Großen im Reiche Christi kulturell verstärkt worden. Durch die seit 829 von Bayern und von Aquitanien ausgehenden Unabhängigkeitsbewegungen und Ausdehnungsbestrebungen haben sie politischen Rückhalt gefunden der in den Straßburger Eiden 842 unverkennbar zum Ausdruck kommt. Ist die nationale Gruppierung der Kräfte im karolingischen Bruderkriege Zufall oder auf verschlungenen Wegen zum Ziele gelangte historische Entwicklung gewesen? Darüber sind die Historiker seit Jahrhunderten verschiedener Ansicht«.42)
Schieffer sieht im Ostreich den Vorläufer des deutschen Reiches. Steinbach präzisiert dies wenn er ausführt: »Die politische Zusammenfassung und kulturelle Durchdringung der germanischen Stämme im Frankenreich hat schon in der Merowingerzeit kräftig begonnen (sprachliche Selbstbesinnung; Hebung des germanischen Selbstbewußtseins durch die Angelsachsen) … Die Zusammengehörigkeit der Deutschen gegenüber den Germanen außerhalb des Reiches trat ins Bewußtsein … In der Merowinger- und Karolingerzeit ist es (das Werden des deutschen Volkes und Staates; RJE) grundgelegt, in der Zerfallsperiode des Frankenreiches seit 829 beschleunigt worden.
Im Gehege des Ostreiches ist nach 843 (nach dem Vertrag von Verdun) diese politische und kulturelle Saat des Frankenreiches in der Gemeinschaft der deutschen Stämme vom Westen abgesondert und von Ludwig dem Deutschen bewußt gepflegt worden.«43)
Nach dem Vertrag von Verdun hat Ludwig der Deutsche das Gemeinschaftsbewußtsein der deutschen Stämme »im Ostreich durch politische Leistungen gefördert und gefestigt«.44) Er hatte »es politisch aktiviert«.45)
Der Vertrag von Verdun und auch schon seine Vorgeschichte »war unverkennbar Ausdruck der Entstehung selbständiger Staaten im Osten und Westen, die sich 843 gegen eine kaiserliche Einheitspolitik machtpolitisch sicherten.«46) Jedoch die stärkere Entfaltung der deutschnationalen Kräfte im östlichen Teil des Reiches findet weder vor noch in dem Vertrag von Verdun rechtliche Anerkennung. Man hielt auch nach dem Vertrag an der fränkischen Herrschertradition fest: »Die politische Terminologie hat allerdings den deutschen Namen damals noch nicht verwandt. Das Ostreich hieß offiziell Regnum Francorum oder Francorum orientalium. Ludwig nannte sich Rex Francorum, vereinzelt auch Germanorum oder Germaniae Rex …«47)
Nach bzw. durch den Vertrag von Verdun fand eine Verlagerung des Machtzentrums im Reiche Ludwigs des Deutschen statt. Es heißt diesbezüglich bei Steinbach: »Obwohl die Reichsgründung Ludwigs in wiederholten Anläufen von Bayern her vollzogen war, lag der Schwerpunkt seines Reiches im fränkischen Kerngebiet in Mainz und Frankfurt, das unter ihm nach 843 gegenüber Regensburg der bevorzugte Königssitz wurde.«48)
Bei Jordan heißt es in bezug auf die Bedeutung des Vertrages von Verdun für die Entstehung des Deutschen Reiches: »Das Deutsche Reich ist nicht durch einen … einmaligen Akt geschaffen worden; seine Entstehung ist vielmehr das Ergebnis einer fast ein Jahrhundert (gemeint 843–936, der Durchsetzung der Unteilbarkeit des Reiches mit der Erhebung Otto I.; RJE) dauernden Entwicklung. Sie beginnt mit dem Vertrag von Verdun …«.49)
Und Zimmermann stellt heraus: »So war die Folge des Verduner Vertrages, daß aus Franzien Frankreich und aus dem karolingischen Osten Deutschland wurde«.50) Auch Bosl sieht im Vertrag von Verdun die »Anfänge des französischen und deutschen Volkes«: »Die drei Brüder teilten nicht Staaten, sondern Königsgüter, Eigenkirchen und Rechte, und trotzdem begann damit die politische Entfaltung West- und Mitteleuropas mit seinen zwei großen französischen und deutschen Volkstümern.«51)
Daß das Ostfrankenreich noch nicht als ein fertiger deutscher Staat bzw. ein deutsches Reich zu betrachten ist, belegt u. a. eine staatsrechtliche Untersuchung bzw. eine Analyse des Verfassungsrechtes des fränkischen Reiches. Bei Hermann Eichler heißt es hierzu: »Erfreulich ist die Klarheit, mit der Sickel in einer wenig beachteten Arbeit erklärt hat: Ein Staat, der ein fränkischer Teilstaat und nur ein fränkischer Teilstaat ist, kann kein deutscher Staat sein, jene seine Natur schließt dies aus'«.52)
Über die Bedeutung des Vertrages von Verdun in bezug auf die deutsche Reichsbildung lautet es bei Mayer: »Der Vertrag von Verdun war nicht der erste Versuch, das Reich zu teilen, ihm gingen mehrere Pläne und Anordnungen ähnlicher Art voraus, der Vertrag von Verdun ist aber zum Unterschied von diesen wirklich auch durchgeführt worden. Aus diesem Grunde hat man schon 1843 das Jahr als Geburtsjahr des Deutschen Reiches und den tausendsten Jahrestag der Gründung des Reiches gefeiert«.53) Vertreten wurde diese Version (als deutsche Reichsgründung wird auch vertreten das Jahr 911, 919 oder gar 936) der Reichsgründung u. a. von König Friedrich Wilhelm IV. (von Preußen), von den Historikern G. Waitz und J.G. Droysen. Wenn Verdun am Anfang einer (hundertjährigen) Entwicklung steht und deshalb nicht zu Unrecht in die gesamtdeutsche Tradition eingegangen ist, »so ruht der Hauptton überhaupt nicht auf der Tatsache der Teilung des karolingischen Gesamtreiches, sondern auf der Begründung des deutschen und – können wir hinzufügen – französischen Reiches, zu denen dann noch Italien als eigenes Reich dazukam, also der abendländischen Nationalstaaten«.54) Als Begründung führt Mayer u. a. an: »Die Teilung wurde also so vorgenommen, daß es im Westen und im Osten je ein national einheitliches Reich gab, wobei ich von kleinen fremdnationalen Splittern absehe.«55) Und: »Der Vertrag von Verdun war ein Anfang, niemand konnte 843 wissen, wie die Zukunft sein würde, rechtlich bildeten die drei Teile noch eine Einheit, politisch ergaben sich aber doch drei selbständige Reiche, die nur selten eine gemeinsame Politik machten, viel öfter aber gegeneinander«.56)
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Fußnoten: