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Soziale Pluralität als Grundelement einer freiheitlichen Gesellschaft: Zur Parteiendemokratie kann es keine Alternative geben!
A) Grundsätzliches
Von einem Engländer stammt der Ausspruch: "Die Demokratie ist das schlechteste aller Systeme - mit Ausnahme aller anderen." Die Demokratie gehört, so Ernst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher, zum „verfassungsrechtlichen Naturrecht des 20. Jahrhunderts“. Zur Demokratie, dem humansten politischen System welches bisher von Menschen hervorgebracht wurde, gibt es bislang, praktisch und theoretisch, keine sozial-verantwortbare Alternative. Sie müßte erst noch erdacht und entwickelt werden, was allerdings nicht ausgeschlossen scheint. Keine Alternative zu ihrer größtmöglichen Freiheitssicherung, zu ihrer Attraktivität, zu ihren Chancen und ihrer Leistungsfähigkeit. Demokratie ist permanenter Kampf um Demokratie, tagtäglich; Kampf um ihre Verbesserung, Vervollkommung und auch Erneuerung. Und besonders gerade dann, wenn sie sich in einem Status der Pervertierung und Entartung, in einer Verfälschung durch Demokratiefalschmünzer und Demokratieverfälscher befindet.
Die Alternativlosigkeit der Demokratie zeigt vor allem auch in der Auseinandersetzung mit dem tragenden Grundelement der freiheitlich repräsentativ-parlamentarischen sowie rechts- und sozialstaatlichen Gesellschaftsordnung, der sozialen Pluralität oder Pluralismus. Zu diesem Grundelement von zentraler Bedeutung gibt es ebenfalls - zumindest zur Zeit und in unserer derzeitigen historischen Entwicklung - keine Alternative. Die Alternative wäre ja die staatlich verordnete nur durch Unterdrückung zu erreichende Homogenität. Jedoch sind auch beim Pluralismus Entartungserscheinungen und Irrwege ersichtlich. Diese Einschränkung macht gleich zu Beginn deutlich, daß dieses Grundelement Pluralismus nicht unumstritten ist. Es weist Strukturdefekte auf, die jedoch geheilt werden können, sollten und müssen.
B) Begriff und Wesen der sozialen Pluralität oder Pluralismus
Unter sozialer Pluralität in einer Gesellschaft soll die Vielfalt
"höchst unterschiedlicher geistiger, sozialer und weltanschaulicher
Sinngebung" (Bossle), das offene Nebeneinander verschiedener Wert- und Normvorstellungen verstanden werden. Unmittelbare gesellschaftspolitische Ausprägung findet diese Verschiedenheit und Vielzahl der Ansichten und Interessen, der Überzeugungen und Meinungen, in den verschiedensten Gruppen und Verbänden, auch Interessenverbände und Interessengruppen genannt, in den Gemeinschaften und in den politischen Parteien. Letztere sind, so Kurt Sontheimer, "ebenfalls Elemente des Pluralismus doch sind sie ihrem Zweck entsprechend stärker an gesamtgesellschaftlichen Interessen und Zielen ausgerichtet als die sozialen Interessengruppen."
Das Vorhandensein einer Vielzahl von Gruppen und Verbänden ist die Folge der individuellen Freiheit, die das Selbstverständnis westlicher Demokratien prägt, als auch der industriegesellschaftlichen Entwicklung, in der Gruppen und Verbände als notwendige Begleiterscheinung der Massengesellschaft entstehen.
Die soziale Pluralität entspricht einem Grundbedürfnis menschlicher Daseinsweise im 20. Jahrhundert. So schreibt Bossle 1976: "Der Mensch will nicht nur Emanzipation, er will noch mehr die Integration. Deshalb sieht er sich in der Direktbeziehung Einzelner-Staat der Allgewalt eines totalen Staates ausgesetzt - und aus diesem Grunde der Bedrohung seiner relativen Unabhängigkeit stürzt er sich im Verlangen nach integrativer Sicherheit in Klassen-, Schichten-, Gruppen- und Verbandszugehörigkeit". Und er fügt hinzu: "Dieser anthropologische Sicherungsdruck bestätigt die vielfach geäußerte These, daß die Freiheitsidee des 19. Jahrhunderts den Vorrang an die Sicherheitsidee des 20. Jahrhunderts habe abtreten müssen. In der genossenschaftlichen, kooperativen und föderalistischen Ausformung der Demokratie-Idee hat das Sicherheits- und Integrationsbedürfnis des Menschen durchaus einen gebührenden Platz gefunden."
In einer freiheitlichen Gesellschaft wird >die natürliche Gegebenheit soziale Pluralität< anerkannt, da individuelle und gruppenmäßige Freiheit für sie konstitutiv ist. Soziale Interessengruppen erhalten die Möglichkeit der demokratischen Partizipation an der Allgemeinwohlformulierung und Allgemeinwohlgestaltung, d.h. die Mitwirkung an der politischen Meinungs- und Willensbildung. Sie sind demnach an einem Prozeß beteiligt, der Demokratie erst entstehen läßt. Fraenkel und Bracher stellen hierzu treffend fest: "Weder der Begriff Volkssouveränität noch der Text einer Verfassung reichen aus, um einen Staat als >demokratisch< zu qualifizieren. Entscheidend ist vielmehr der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung, der den formalen Anspruch der Demokratie erst mit materieller Substanz erfüllt."
Unter den vielen Definitionen von sozialer Vielfalt oder Pluralismus soll hier eine verständliche aus der Brockhaus Enzyklopädie wiedergegeben werden. "Pluralismus ist eine Staats- und Gesellschaftstheorie, die in der Koexistenz und freien Entfaltung einer prinzipiell unbegrenzt großen Zahl von Gruppen das tragende Element einer modernen Zeiterfordernissen entsprechenden demokratischen Ordnung erblickt. Der Pluralismus setzt sich für ihre Autonomie, freie Entfaltung und aktive Mitwirkung am Prozeß der politischen Willensbildung im Staat und der Ausgestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen in der Gesellschaft ein." Auch heißt es dort bemerkenswert: "Paradigma des pluralistischen Kollektivismus ist der Tarifvertrag". Die allgemeine Definition von Pluralismus als Gruppenkonkurrenz und Einflußnahme wird von Oberreuter jedoch als zu eng bezeichnet, denn "hinter dieser Konkurrenz steht der Freiheitsanspruch des Individuums bzw. einer Vielfalt von Individuen ... (mit) der Absicht individueller Ziel- und Wertverwirklichung."
Der pluralistische Staat ist kein Verband unter anderen Verbänden, sondern eine mit den spezifischen Mitteln des souveränen Staates geschütze politische „Lebensordnung“, in der verschiedene Gruppen freien Ursprungs untereinander um Macht und Einfluß konkurrieren und ihren Anspruch auf Teilhabe am Prozeß der staatlichen Willensbildung mit Erfolg zur Geltung bringen können. Soziale Pluralität oder Pluralismus und eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft bedingen einander. Totalitäre Systeme, welcher Ausprägung auch immer, mit ihrer unmenschlichen, freiheitsvernichtenden Herrschaftspraxis, entstanden stets durch Beseitigung der sozialen Pluralität und Gleichschaltung aller pluralistischen Kräfte in Staat und Gesellschaft. Im totatlitären Staat gibt es keine autonome Existenz gesellschaftlicher Gruppen und folglich auch nicht deren Einflußnahme auf die staatliche Willensbildung. Totalitarismus entsteht aus der widernatürlichen Negation der sozialen Pluralität heraus. Folglich schützt ein abgesicherter Pluralismus vor totalitärem Unheil.
Auf dem 45. Deutschen Juristentag, am 22. September 1964, sprach Ernst Fraenkel, der Begründer des Neopluralismus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, zum Thema: "Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie". Hier sagte er u.a.: "Ist es angesichts der Tatsache, daß die Hinwendung zum totalen Staat aus der Negation des Pluralismus gerechtfertigt worden ist, nicht geboten, durch eine Negation der Negation zu versuchen, den Totalitarismus durch einen Neo-Pluralismus zu überwinden?" Der Pluralismus, so Fraenkel, übt „eine Freiheit garantierende Funktion" aus. Er ist der Antipode des Totalitarismus. So schreibt denn auch Bracher als wesentliche Kennzeichnung des Totalitarismus: "Der totale Staat verneint die Existenzberechtigung verschiedener, miteinander konkurrierender politischer Gruppen und Willensäußerungen und ebenso den Autonomieanspruch außerpolitischer Lebensbereiche und Kultursphären. Damit steht er in striktem Gegensatz zur liberalen oder pluralistischen Demokratie. Sein Ziel ist die Beseitigung aller persönlichen, staatsfreien Freiheitsrechte und die Auslöschung des Individuums.“
C) Ethik des Pluralismus
"Pluralität in Politik und Gesellschaft folgt aus der Entscheidung für Menschenwürde und Freiheit, die in der Bundesrepublik ganz deutlich der politischen Ordnung ihre Wertbindung auferlegt." Der Pluralismus ist neben dem Föderalismus ein zusätzlich wichtiger Faktor der Gewaltenteilung, die, nach Oberreuter, "mehr als die problematische Dreiteilung der Staatsorgane Macht hemmen und kontrollieren." Er fördert demnach die Stabilität des politischen Systems. Die Bedeutung des Pluralismus als Faktor der Gewaltenteilung beschreibt auch Bossle: "Im Sinne einer soziologischen Gewaltenteilungslehre gehören heutzutage die sozialen politischen Einflußkräfte zu den konstitutiven Faktoren eines demokratischen Verfassungsstaates. Neben den drei traditionalen Institutionsgewalten der Regierung, des Parlaments und der Rechtssprechung, sind in einem modernen Demokratieverständnis als dynamisch-soziologische Feldkräfte noch die drei folgenden Gewalten anzufügen:
- die öffentliche und veröffentlichte Meinung,
- die Gruppen und Verbände, eine Summe von Gestaltungsträgern höchst unterschiedlicher geistiger, sozialer und weltanschaulicher Sinngebung und damit auch unterschiedlicher organisations-soziologischer Binnenstrukturen,
3. die Parteien als die originären politischen Medienträger.
Nach Manfred Hättich ist der Föderalismus ebenfalls als ein pluralistisches Phänomen zu betrachten, d.h. ebenfalls Teil des Pluralismus. So schreibt er: "Im Zentrum dieser (Pluralismus-) Diskussion steht nach wie vor der neuzeitliche Nationalstaat. In dem Maße, in dem dieser nach innen regional differenziert, also etwa föderalistisch ist, kann sich die Pluralismuskritik dann auch auf solche Einheiten wie die Kommunen und die Gliedstaaten eines Bundesstaates beziehen. Und in dem Maße, in dem der Nationalstaat bereits in umgreifendere politische Einheiten eingebunden ist, wie etwa in Organisationen der europäischen Integration, können auch diese für die Pluralismusdiskussion aktuell werden."
Der Pluralismus - und hier gilt es einige Mißverständnisse auszuräumen - ist weder "wertneutral noch wertrelativistisch", ebenso wie unser weltanschaulich neutraler Staat nicht wertneutral ist. Er offenbart, so Oberreuter, als "formales Prinzip eine eigentümliche Dialektik: indem er den unterschiedlichsten Interessen und Wertvorstellungen Artikulations- und Entfaltungsspielraum gewährt, eröffnet er überhaupt erst einem breiten Spektrum normativer Orientierungen die Chance zur Inwertsetzung. Das Formale bildet also eine unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung inhaltlicher Konzeptionen, für die Entfaltung von Werten. Das formale Prinzip Pluralität erweist sich als unverzichtbare Voraussetzung für die Realisierung des demokratischen Zielwertes Freiheit." Pluralismus beruht durch die Möglichkeit von "Zusammenschlüssen letztlich gerade auf der Absicht individueller Ziel- und Wertverwirklichung."
Daß der Pluralismus aber gleichzeitig offensichtlich auch zum Abbau oder gar zur Auflösung von Normen und Werten unbezweifelbar führt, wird im Abschnitt "Defizite und Gefahren des Pluralismus" weiter unten dargelegt.
Real existierender Pluralismus führt zu einem weiteren Grundelement von zentraler Bedeutung für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung: zur Freiheit des Andersdenkenden. Unübertreffbar formuliert Oberreuter dies wie folgt: "Ob sich nun Individuen oder Gruppen in diesen Prozeß der Ziel- und Wertverwirklichung begeben - sie machen stets die Erfahrung auf Konkurrenz zu stoßen. Hier offenbart sich - nach der Bedeutung eines formalen Prinzips für die Inwertsetzung von Inhalten - eine zweite Dialektik: Freiheit, die geteilt werden muß, ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden und zwar des schlechthin Andersdenkenden, nicht nur die Freiheit zu Nuancierungen innerhalb der Binnenkommunikation einer ihren Geltungsanspruch ansonsten exklusiv durchsetzenden und sich nach außen immunisierenden Ideologie."
Real existierende Demokratie ist also immer auch, und vor allem, die Freiheit des Andersdenkenden. Nach Fichte erfahre ich meine eigene Freiheit nur in der Freiheit des anderen. Frei ist nur der, der alles andere um sich herum auch frei machen will. Von Voltaire stammt der Ausspruch: "Ihre Meinung ist das genaue Gegenteil der meinigen, aber ich werde mein Leben daran setzen, daß sie sie sagen dürfen."
Andererseits jedoch kann unsere wertgebundene Demokratie kein Selbstmordvertrag sein. Freiheits- und Verfassungsschutz ist unabdingbar zur Aufrechterhaltung einer freiheitlichen Gesellschafts- oder (besser formuliert) Gemeinschaftsordung. Aber was ist Freiheit - und kann es nicht auch einen Freiheitsmißbrauch der Herrschenden in einer sogenannten freiheitlichen Gesellschafts- oder (besser formuliert) Gemeinschaftsordnung geben?
Der an tragende Werte orientierte Pluralismus bedingt eine weitere zentrale Humanität: die Kardinaltugend >Toleranz<. Nach Voltaire ist die Toleranz "die humanitäre Substanz, von der wir zehren."
Pluralismus realisiert den Grundwert der Partizipation, der "Teilnahme und Einflußchancen unterschiedlichster Interessen und Meinungen beim Prozeß politischer Willensbildung." Pluralismus ist weiterhin die Aufforderung "Freiheit in Anspruch zu nehmen". Er fordert die Individuen und Gruppen auf „ihre Positionen profiliert in den pluralistischen Wettbewerb einzubringen.“ Dies offenbart eine weitere Wesentlichkeit und Notwendigkeit. Politische Innovation und politischer Wandel, im größeren Rahmen, ist möglich. Durch den Pluralismus können bisher unberücksichtigt gebliebene Interessen oder neue politische Ziele innerhalb der Gesellschaft präsentiert werden. Etwa auch bis zur Gründung neuer Parteien die im pluralistischen Rahmen die Durchsetzung ihrer Allgemeinwohl-Konzeption betreiben können.
D) Pluralismustheorie
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzipierte der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel in Deutschland die Grundzüge des Neopluralismus. Nach Fraenkel ist der Pluralismus eine "Theorie der autonomen Gruppenbildung ... weil er sich zum Prinzip der aktiven Mitwirkung autonomer Gruppen in den Prozeß der politischen Willensbildung bekennt." Dies wurde zu einer unabdingbaren Notwendigkeit freier Gesellschaftsgestaltung durch das Phänomen der Massengesellschaft im postliberalen 20. Jahrhundert. Durch diese Veränderung wurde es, so Fraenkel, "unmöglich, die sozialen und politischen Grundprobleme unserer Zeit in den Kategorien des Liberalismus erfassen zu wollen, der, weil er sein Hauptaugenmerk auf das Problem >Staat – Individuum< lenkte, dem Phänomen der Massengesellschaft hilflos gegenüber stand." Bei der Realität Massengesellschaft, und die liberal-demokratischen Staatsformen basieren auf der industriellen Massengesellschaft "als ihrem sozialen Substrat", ist es "unmöglich geworden, die Leitung des Staates rechtlich privilegierten Eliten und die Leitung der Wirtschaft rechtlich unkontrollierten Klassen zu überlassen." Und es reicht nicht aus, "sich im Bereich des politischen Rechts auf die Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Individuum zu beschränken."
Pluralismus ist die Antwort auf eine gesellschaftliche Gliederungsrealität, die soziale Pluralität insbesondere der gesellschaftlichen Gruppen. Dies wird noch einmal klar hervorgehoben wenn Fraenkel schreibt: "Der europäische Pluralismus geht nicht auf politische Theorien zurück, die ihn als Ideal erfanden; er beruht vielmehr auf politische Beobachtungen, die ihn als Realität entdeckten."
Die Gegebenheit ist, um es in den Aussagen von Fraenkel zu wiederholen und zu präzisieren: "Neben dem staatlichen Verband, dessen Souveränität von niemandem bestritten wird, besteht eine Vielzahl autonomer Verbände mit eigenständigen Funktionen, die im Rahmen der geltenden Gesetze einen Anspruch auf die Loyalität ihrer Mitglieder erheben. Sie sind autonome Verbände, weil ihre Gründung und ihre innere Organisation zwar rechtlich geregelt, aber nicht staatlich reglementiert, sondern frei sind. Keiner von ihnen ist von den politischen Machthabern gleichgeschaltet, keiner von ihnen ist aus dem Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung ausgeschaltet und jedem von ihnen steht es frei sich in ihn nach Belieben einzuschalten." (Fraenkel)
Die Ralität einer Vielzahl von Gesellschaftsgruppen oder Interessengruppen wird anerkannt und ihnen wird das Recht eingeräumt, „einen aktiven Anteil an der Ausgestaltung derjenigen öffentlichen Angelegenheiten zu nehmen, die sie am unmittelbarsten berühren und deshalb am intensivsten beschäftigen.“
Weitere zentrale Elemente in der Pluralismustheorie sind:
1. Keine Identität von Regierenden und Regierten
Als "vulgärdemokratisches Denken" bezeichnet Fraenkel die Definition der Demokratie als Identität von Regierenden und Regierten. "Die pluralistische Staatslehre lehnt die Identitätstheorie mit aller erdenklichen Entschiedenheit ab und betrachtet sich als ihre Antipodin. Vom empirischen Blickpunkt aus gesehen, ist sie in ihren Augen bestenfalls eine Fiktion. Vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, verwirft der Pluralismus die Identitätslehre mit der Begründung, daß sie das Phänomen der differenzierten Gesellschaft unbeachtet lasse - und wenn überhaupt - nur nach einer radikalen Revolution verwendbar sei."
Der Pluralismus eröffnet somit Raum für Partikular- und Sonderinteressen, die von der Einheitslehre des Totalitarismus entschieden negiert werden. Die Negation der sozialen Pluralität oder gesellschaftlichen Heterogenität kann nur durch Zwang und Gewalt erfolgen.
2. Realistische Anthropologie
Das politische Denken der Anhänger der pluralistischen Staatstheorie "ist an dem Bild des Menschen ausgerichtet, wie er ist, und nicht an der Vision eines Menschen, wie er hätte sein sollen oder wie er werden sollte. ... Von der Erkenntnis ausgehend, daß die Verfolgung von Eigeninteressen einen essentiellen Bestandteil der menschlichen Natur bildet ... halten sie es für unvermeidlich, daß der Mensch auch in seiner Eigenschaft als Staatsbürger nicht ganz >aus seiner Haut heraus kann<". (Fraenkel)
3. Realistische Annahme der Allgemeinwohlfindung
Fraenkel: "Der Pluralismus beruht auf der Vorstellung, daß die Entscheidung über die Grundfrage einer jeden Politik, was jeweils als das bonum commune (d.h. als das Allgemeinwohl oder das Interesse aller ; Anm. d.Verf.) anzusehen sei, in einer Demokratie nur autonom und in dem notwendigerweise heterogenen Staat einer zugleich freien und differenzierten Gesellschaft lediglich unter aktiver Mitwirkung der autonomen Gruppen zustande kommen kann." Das Gemeinwohl ist nicht a priori gegeben sondern entsteht durch einen Prozeß a posteriori. Dies beschreibt Fraenkel wie folgt: "Der Pluralismus beruht vielmehr auf der Hypothese, in einer differenzierten Gesellschaft könne im Bereich der Politik das Gemeinwohl lediglich a posteriori als das Ergebnis eines delikaten Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden."
Interessanterweise, und dies wurde bisher wenig beachtet, schreibt Fraenkel zur Eingliederung der Gruppen folgendes: Die "Interessen-
gruppen in den Prozeß der politischen Willensbildung einzugliedern obliegt den Parteien“. Denn: „Wer die Interessengruppen unmittelbar in den Prozeß staatlicher Willensbildung eingliedern will, endet notwendigerweise beim Ständestaat." Indem die Parteien "die gesteuerten Gruppenwillen" integrieren, somit an der Bildung des Volks- und Staatswillens mitwirken, stellen sie sich in den "Dienst der Aufgabe ... das Gemeinwohl im Wege eines dialektischen Prozesses zu verwirklichen."
Die Formung des Allgemeinwohls unter Mitbeteiligung und Mitbestimmung der "gesellschaftlichen Willensgruppen" (Otto Stammler) kommt deutlich in einem weiteren Fraenkel-Zitat zum Ausdruck: "Die Existenz eines Gemeinwillens wird unglaubhaft, die Vorstellung des Gemeinwillens verblaßt zu einer Ideologie, wenn nicht ausreichend in Rechnung gestellt wird, daß es weite Gebiete der Sozialordnung gibt, über die man abstimmen muß, weil sich die Bürger über ihre Ausgestaltung nicht einig sind."
Gemeinwohl steht für den Pluralismus im Gegensatz zur totalitären Staatsauffassung nicht fest, Gemeinwohl ist eine Aufgabe des erst noch durch allgemeinen Konsens zu Schaffenden: "Wenn wir von Gemeinwohl reden", so Fraenkel, "denken wir nicht in Kategorien der Macht, sondern in Kategorien des Rechts und der Gerechtigkeit; wir bewegen uns nicht im Bereich des Seienden, sondern des Sein-Sollenden. Gemeinwohl ist keine soziale Realität, sondern eine regulative Idee", d.h. eine steuernde, ausgleichende Idee.
Wenn sich das Pluralismuskonzept, so Oberreuter, "gegen den Herrschaftsanspruch politischer Heilslehren oder partikularer Zielentwürfe wendet, verabschiedet es nicht schlechthin das Gemeinwohl; dieses bleibt Handlungsmaxime zumindest der politischen Entscheidungsträger und es strukturiert als 'regulative Idee' den politischen Prozeß: So genießen etwa die Parteien ihre verfassungsrechtlich hervorgehobene Stellung durchaus um den Preis der verfassungspolitischen Verpflichtung zur - parteilich profilierten - programmatischen Gemeinwohlkonzeption, und soweit sie Regierungsmacht ausüben, erinnert der Amtsgedanke sie daran, daß sie dies im Auftrag, auf Zeit und für alle tun." (Oberreuter)
4. Allgemeiner Grundkonsens und Wertkodex als Voraussetzung für Pluralismus
Pluralismus ist nur dann möglich, wenn in grundsätzlichen Fragen der menschlichen politischen Daseinsweise Übereinstimmung besteht. "Eine jede pluralistische Demokratie geht davon aus, daß, um funktionieren zu können, sie nicht nur Verfahrensvorschriften und Spielregeln eines fair play, sondern auch einen allgemein anerkannten Wertkodex bedarf, der ein Minimum abstrakter regulativer Ideen generellen Charakters enthalten muß."(Fraenkel) Diesbezüglich bezeichnet Fraenkel in seinem Beitrag "Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung" eine Feststellung Hans Buchheims als "sehr treffend". Dieser hatte geschrieben: "Die Monarchie beruht auf dem was der König nicht anordnen, die Demokratie auf dem worüber man nicht abstimmen kann, sondern worin sich die Bürger ohne Abstimmung einig sind."
Zu einem generell als gültig akzeptierten Wertekodex, der Pluralismus erst ermöglicht, rechnet Fraenkel:
a) Die Anerkennung der Volkssouveränität als
Legitimationsgrundlage der bestehenden Verfassungsordnung.
b) Die Unterwerfung unter das Prinzip der Mehrheitsentscheidung.
c) Die Respektierung des Prinzips der Gleichheit
vor dem Gesetz.
d) Die Geltung der traditionellen fundamentalen
Freiheitsrechte.
e) Die unverbrüchliche Anwendung der Prinzipien der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der
Unparteilichkeit der Justiz.
f) Die Handhabung der Gebote der Fairneß bei der Verwendung der Spielregeln, die den Prozeß der politischen Willensbildung zu regeln bestimmt sind.
Der demokratische Pluralismus, der Verbände- und Parteienpluralismus, pluralistische Gesellschaft und pluralistische Demokratie, sind Konsens aller tragenden politischen Kräfte in unserem Lande, d.h. in Hinsicht seiner Aufrechterhaltung und der Respektierung seiner Verfahrensregeln. Ein für alle verbindlicher Grundkonsens ist Voraussetzung zur Funktionsfähigkeit des Pluralismus.
5. Die rechtliche Absicherung des Pluralismus
Der Pluralismus ist durch die Verfassung (Grundgesetz) und andere gesetzliche Festlegungen rechtlich abgesichert. Und zwar:
durch das Demokratieverständnis der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" und der Verankerung dieses Begriffes in der Verfassung (Artikel 18).
In seiner klassisch gewordenen Entscheidung aus dem Jahre 1952 definierte das Bundesverfassungsgericht diese Ordnung wie folgt: "So läßt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."
durch Art. 9 GG, der Vereinigungfreiheit
Der Artikel lautet: (1)Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern versuchen, sind nichtig hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig
durch die Grundrechte:
Art. 2 GG - Handlungsfreiheit, Freiheit der Person
Art. 3 GG - Gleichheit vor dem Gesetz
Art. 5 GG - Meinungsfreiheit
Art. 8 GG - Versammlungsfreiheit
Art. 17 GG - Petitionsrecht
Der Artikel 17 (Petitionsrecht) lautet: Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und die Volksvertretung zu wenden.
Der pluralistische Charakter unserer Gesellschaftsordnung wird desweiteren deutlich durch seine rechtliche Absicherung in den Geschäftsordnungen des Bundestages, der Bundesregierung und der Bundesministerien. Sie spielen "für die Einflußnahme der organisierten Interessengruppen eine erhebliche Rolle, weil sie die Einflußnahme der Interessengruppen auf die politische Willensbildung bestimmen." Artikel 70 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sieht vor, daß "ein Ausschuß öffentliche Anhörungen von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen vornehmen" kann.
Bethusy-Huc und Holzer bemerken in diesem Zusammenhang: "Die Verbände können auf diese Weise auf die Abgeordneten einwirken und ihre Standpunkte der Öffentlichkeit darlegen .... Außerdem soll der Bundestag nach § 69 der Geschäftsordnung (GO) bei all den Gesetzen die kommunalen Verbände hören, die in erster Linie von den Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden durchgeführt werden. ... Schließlich kann der Bundestag nach § 56 GO für besonders wichtige Angelegenheiten sogenannte Enquete-Kommissionen einsetzen."
Die pluralistische Staatsverfassung findet auch in der Geschäftsordnung der Bundesregierung ihren Ausdruck. Entsprechend §10 "sind die Spitzen der Verbände gehalten, sich mit ihren Spezialinteressen jeweils an die Fachminister zu wenden. Der Bundeskanzler soll auf diese Weise entlastet werden. Gleichzeitig will man damit erreichen, daß Interessen nicht hinter dem Rücken der einzelnen Bundesministerien mit dem Kanzler besprochen werden.“ (Bethusy-Huc/Holzer) Nach § 24 der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO II) wird den Verbänden Einfluß auf die Gesetzesvorbereitung eingeräumt. § 61 und 62 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien räumt den Ministerien die Möglichkeit ein "mit Experten - also auch mit Verbandsvertretern - zusammenzuarbeiten“. Die rechtliche Absicherung der Verbände an der Mitwirkung der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung zeigt deutlich die pluralistische Struktur unserer Gesellschaftsordnung.
6. Praktische Ausformung des Pluralismus
Im Kernbereich des sozialen Pluralismus, d.h. "im Mittelpunkt des pluralistischen Machtsystems der Gesellschaft" (Sontheimer), befinden sich die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände. Sie sind Ausdruck der "Interessen kapitalistischer Eigentümer und Manager von Produktionsmitteln einerseits und den Interessen der im kapitalististischen Produktionsprozeß arbeitenden und angestellten Arbeitnehmer andererseits." In jeder westlichen Industriegesellschaft ist "dieser Interessengegensatz und sein möglicher Ausgleich durch freie Vereinbarungen (z.B. Tarifautonomie) zwischen diesen Gruppen oder gegebenenfalls durch staatliche Intervention von elementarer Bedeutung ... für die Gesamtheit der gesellschaftlichen Ordnung und damit für den Staat..." Und zwar deshalb, "weil von der Funktionsfähigkeit und Produktivität der Wirtschaft die Reproduktion der Gesellschaft und die Leistungsfähigkeit der politischen Ordnung im Sinne der Befriedigung der wachsenden individuellen und kollektiven Bedürfnisse maßgeblich abhängt."
Ulrich von Alemann unterscheidet fünf unterschiedliche Teilbereiche in seiner Typologie der Interessengruppen:
Die organisierten Interessen im 1. Wirtschftsbereich und in der Arbeitswelt, 2. im sozialen Bereich, 3. im Bereich der Freizeit und Erholung, 4. Im Bereich von Religion, Kultur und Wissenschaft sowie 5. im gesellschaftspolitischen Querschnittsbereich (ideelle Vereinigungen, gesellschaftspolitische Vereinigungen). Die hier angedeutete Vielzahl der Interessengruppen machen die pluralistische Struktur unserer Gesellschaft aus.
Gräfin Bethusy-Huc und Susanne Holzer definieren Interessengruppen "als alle freiwilligen Vereinigungen von Menschen, Gruppen und Organisationen mit einer formalen Grundstruktur, die individuelle Bedürfnisse mit materiellem und immateriellem Nutzen gesellschaftlich verknüpfen und dies innerhalb der eigenen Organisation oder gegenüber anderen Gruppen und politischen Institutionen durch Mitwirkung und Einwirkung zur Geltung bringen wollen." Die Partizipation der gesellschaftlichen Gruppen an der staatlichen Daseinsgestaltung "bringt für alle Beteiligten", für die Präsentation der Partikularintressen und für die Findung des Allgemeininteresses Vorteile. Die Mitwirkung der pluralen Gruppen bei allen Entscheidungen von allgemeinem Interesse gewährt, nach Alemann, "der staatlichen Verwaltung bessere Information und Hilfen zur Kanalisierung von gesellschaftlichen Interessen; den Verbandsspitzen wirksame Durchsetzung ihrer Interessen" und ist somit für alle von Vorteil.
"Von den Verbänden wird die Tätigkeit des Staates und seiner Organe nicht nur kontrolliert sondern auch entlastet und erleichtert. So erfüllen sie eine große Anzahl von Aufgaben, die sonst vom Staat wahrgenommen werden müßten" zum Beispiel auf dem Gebiet der Jugendpflege, der Fort- und Weiterbildung, beim Umweltschutz, bei Sport, in der Fürsorge für Kranke, Alte, Arme und vieles andere mehr."
Der Pluralismus wendet sich gegen die Diffamierung oder "schematische Diskriminierung aller Interessenverbände als pressure groups oder lobbies, die im offenkundigen Widerspruch zu der Bedeutung steht, deren sich zahlreiche Spitzenverbände und Einzelorganisationen als Berater und Mitarbeiter staatlicher Behörden, parlamentarischer Funktionen und politischer Parteien erfreuen." (Brockhaus,1972)
7. Defizite und Gefahren des Pluralismus
Zum Pluralismus, zur pluralen Struktur unserer Gesellschaft gibt es - und als Einschränkung sei notwendig hinzugefügt - zur Zeit keine Alternative. Er ist, so Manfred Hättich, "eine der Bedingungen des erreichten Freiheitsgrades und unseres heutigen Freiheitsverständnisses. Eine Überwindung dieser Struktur scheint nicht möglich, ohne hinter dieses Freiheitsverständnis zurückzutreten. Anders formulierte Versuche, den Pluralismus aufzuheben, können nur als gewaltsame erfolgreich sein."
Mit Hättich möchte der Verfasser unterstreichen, daß diese Bejahung des Pluralismus "nicht schon von sich aus einem negativen Werturteil über frühere Epochen, die der pluralistischen Gesellschaft vorausliegen, gleichzusetzen" ist. Ebenso mit Hättich soll festgestellt werden, daß "man als geschichtlich denkender Mensch in der Lage sein (sollte), den Pluralismus zu bejahen, ohne sich dem Dogma hinzugeben" dies sei mit Gewißheit der Geschichte letzter Schluß, und es könne und dürfe keine anders geartete Gesellschaft in der Zukunft mehr geben. Darüber wissen wir sehr wenig. „Der PluraIismus ist unsere geschichtliche Lage, vorbereitet durch mancherlei Entwicklungen der Neuzeit, unter denen vor allem Aufklärung, Säkularisierung und Demokratisierung zu nennen wären".(Oberreuter)
8. Kritik am Pluralismus
Folgende Kritikpunkte am Pluralismus sind unabdingbar:
A) Pluralismus führt zu einer Erosion tragender Werte und Normen sowie Traditionen
Soziale Pluralität heißt auch, wie bereits dargelegt, Pluralität im Bereich der Werte und Normen. Wertepluralismus "zeigt sich in der Tatsache, daß der einzelne sich nicht mehr einem einzigen geschlossenen Normensystem gegenübersieht, sondern daß jeder mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Lebensführung und deren moralischer Bewertung konfrontiert wird."(Hättich) Dieser Autor gelangt in seinen Ausführungen zum Wertepluralismus zu der Aussage: "Immerhin wird man zumindest, von einer Verringerung der allgemeinen Gültigkeit umd Verbindlichkeit vieler Normen (und Werte;Anm.d.Verf.) sprechen können."
Der Werte- und Normenverlust durch den Pluralismus kann in seinem sich bereits jetzt schon abzeichnenden Verhängnis nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wo den Menschen nichts mehr heilig und ewig gultig ist, Lüge und Niedertracht >pluralistisch< neben Wahrheit und Offenheit tritt, könnte sich der Pluralismus einmal nicht als Segen sondern als Fluch herausstellen. Paul Noack bemerkte treffend: "In der Ära der Postmoderne, in der niemand daran gehindert werden darf, auf seine Fasson glücklich zu werden, fällt man geradezu aus der Zeit, wenn man sich auf solche Begriffe (Werte; Anm.d.Verf.) wie Ordnung, Gehorsam, Verantwortungsbewußtsein oder gar Tapferkeit und Pflichtbewußtsein bezieht."
Winfried Steffani stellt in seiner Pluralismusanalyse treffend fest: "Zutreffend beklagte Goetz Briefs in der These der Grenzmoral die permanente Gefahr des sittlichen Verfalls und warnt vor zunehmenden Integrationsschwierigkeiten, wenn tragfähige ethische Maßstäbe fehlen. Die These des Laissez-faire-Pluralismus (von Goetz Briefs;Anm.d.Verf.) unterstreicht die mangelnde Entscheidungspotenz des Staates aufgrund ethisch nicht limitierter Pressionen seitens ökonomisch befestigter Verbände und bemängelt, daß sich die staatliche Gemeinwohlpolitik auf die Vermeidung von Systemkrisen beschränkt."
B) Soziale Pluralität führt vielfach zur personalen Desintegration
Soziale Pluralität vermittelt dem Menschen vielfach keinen einheitlichen Sinnzusammenhang seiner Daseinsweise. Hättich weist auf den Begriff der "partiellen sozialen Integration" und versteht darunter, daß der Mensch im Gruppenpluralismus in verschiedene Gruppen integriert ist. Diese Gruppen beziehen sich jedoch "selten auf das ganze Leben oder auf seine ganze Person". Daraus folgt, so Hättich: "Partielle soziale Integration und Rollendifferenzierung sind Ansatzpunkte für Kritik, die einmal mehr psychologisch, ein anderes Mal mehr moralisch gemeint sind. Die Frage ist durchaus ernst zu nehmen, ob solche Lebensführung nicht zur Zerstörung der Persönlichkeit oder zumindest zu Identitätskrisen führen kann... die Frage kann gestellt werden, ob hier noch aus einer Mitte heraus gelebt wird, die der segmentierten, aufgefächerten Lebensführung einen Sinnzusammenhang gibt. Ein die ganze Person umgreifender Sinn des Lebens ist aber wohl in erster Linie gemeint, wenn von der Identität des Menschen mit sich selbst die Rede ist." Treffend gelangt Hättich zur unabdingbaren Schlußfolgerung: "daß in homogenen Gesellschaften etwas sozial, d.h. über die verschiedenen Gemeinschaften vermittelt wird, was dem Leben einen Zusammenhalt zu geben vermag ... In der pluralistischen Gesellschaft hingegen ist die Vermittlung von selbstverständlichen Normen (und Werten; Anm.d.Verf.) stark reduziert oder fällt ganz aus. Indikatoren für Pluralismus lassen sich also umformulieren in Indikatoren für personale Desintegration. Damit ist ein Problem, eine spezifische Gefährdung in dieser Gesellschaft bezeichnet."
C) Pluralismus birgt die Gefahr der sozialen Desintegration in sich
Wie bereits dargelegt,benötigt eine pluralistische Gesellschafts-
struktur eine übergeordnete Einheit um nicht im Terror sich widerstreitender Gruppen und Grüppchen zu entarten. "Pluralismus ...als Verneinung jeglicher Einheitsidee widerspricht der grundlegenden Erfahrung, daß die Menschen stets in irgendwelchen Gemeinschaften leben und auf Gemeinschaftsbildung (unabdingbar;Anm.d.Verf.) angelegt sind." (Hättich) Hättich weist wie folgt auf die Gefahr der sozialen Desintegration, die der Pluralismus in sich birgt: „So ist vielfach die Klage zu hören, daß die vielen Interessenverbände, von denen manche sehr mächtig sind, die staatlichen Organe letzten Endes daran hindern, eine Politik, die im Interesse aller ist, durchzusetzen. ... Damit ist aber die Frage gestellt, inwieweit der Verbandspluralismus die Gemeinwohlfunktion staatlicher Institutionen hemmt oder gar verhindert."
Pluralismus führt auch dann zur sozialen Desintegration, „wenn Regierungen in ihrem Handeln jeweils von einigen wenigen oder gar nur von einem Machtfaktor, also etwa von einem Interessenverband abhängig sind." Gefahren sozialer Desintegration werden auch dann sichtbar, wenn "die politischen Parteien von Interessengruppierungen durchsetzt" (Hättich) sind und ihnen so "die Integration immer zureichend gelingt“ oder wenn sie aus Eigeninteresse, etwa der Stimmenmaximierung, bestimmte Interessen-gruppen bevorzugen und somit Nachteile für andere Gruppen oder für alle Gesellschaftsmitglieder haben.
Politik ist immer auch wert- und normenbezogene Politik. Politische Entscheidungen, so Hättich, "sind immer auch abhängig von prinzipiellen Auffassungen über den Menschen und über die Gesellschaft." Daraus folgt: „... auch der Werte- oder Normenpluralismus kann als Bedrohung der politischen Einheit angesehen werden" und zur sozialen Desintegration führen.
D) Das Pluralismusmodell verkennt die geringeren Artikulations- und Durchsetzungschancen der sozial schwachen Interessen
Oberreuter weist darauf hin, daß man einem Irrtum verfallen würde, den Pluralismus "als wohlfunktionierenden Gleichgewichtsautomatismus zu begreifen". Auf Grund seiner Defizite müße der Pluralismus "stets auch als Aufgabe, als Herausforderung" verstanden werden. In seinem Abschnitt >Pluralismuskritik< verweist er zunächst auf eine Kritik innerhalb der amerikanischen Pluralismusauseinandersetzung, wo der Pluralismus als „reaktionäre Verteidigung des status quo, Verfestigung ungleicher Chancen, Verweigerung des Zutritts neuer Gruppen und Interessen zur Konkurrenz der Etablierten, ...Politik der Immobilität oder gar der Nichtentscheidung scharfer Kritik unterzogen wurde." Die Übernahme dieser Kritik auf die Bundesrepublik Deutschland weist er jedoch zurück, da die Praxis der „sozialstaatlichen Entwicklung und die Politik der sozialen Gerechtigkeit hierzulande in den Vereinigten Staaten auch nur im entferntesten ihresgleichen (hat)."
Namhafte Pluralismusanalytiker und grundsätzliche Pluralismusverteidiger weisen jedoch für den Pluralismus in der Bundeurepublik Deutschland auf die Vernachlässigung von allgemeinen oder die "Jedermanns-Interessen" (Ernst Forsthoff) in der pluralistischen Praxis hin. So etwa Oberreuter, Forsthoff und von Beyme.
von Beyme schreibt: "Die positive Würdigung der Leistungen von Verbänden für die Interessenartikulation und -aggregation ist jedoch häufig in einer unkritischen Unterstellung eines Pluralismusmodells steckengeblieben, welches die soziale Asymmetrie und die geringeren Artikulations- und Durchsetzungschancen der sozial schwächen Interessen verkannte ...“
Ebenso spricht Oberreuter davon, daß „unstrittig Wettbewerbsverzerrungen (bestehen) zugunsten der mächtig organisierten (etwa in der Tarifautonomie teilenden) und der hochkonfliktfähigen (etwa der ihre Dienstleistung verweigernden Fluglotsen) Interessen und zuungunsten der kaum artikulations-, geschweige denn organisationsfähigen an den Rändern der Gesellschaft.“ Oberreuter weist treffend auf die Möglichkeit der Defizitbeseitigung hin. Pluralismusdefizite lassen sich beseitigen, "wenn die Politik den Primat ausübt, der ihr kraft demokratischer Legitimation zukommt.“ Die Einwände der Katholischen Soziallehre entsprechen dem vorherigen, denn es „wird (.u.a.) festgestellt, daß der kritisierte Pluralisnus für die Problemlage der Hilfsbedürftigen, Konkurrenzunfähigen, schwer oder überhaupt nicht autonom organisierbaren >Randgruppen< kein hinreichendes Verständnis und schon gar keine befriedigende Lösung aufzeige." (Winfried Steffani)
E) Fundierte Neoliberale Kritik
In seinem Teil „Hauptrichtungen der Kritik“ weist Winfried Steffani in einer eigenen Unterteilung auch auf die „Neoliberale Kritik“ am Pluralismus hin.
Demnach gehören „die Neoliberalen von Alexander Rüstow über Walter Euken und Wilhelm Röpke bis hin zu Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard ... nach 1945 zur Gruppe mehr oder weniger prononcierter Kritiker >des< Pluralismus“. Er erläutert wie folgt die Kritik der Neoliberalen, d.h. der genannten hervorragenden Vertreter: "Indem der Pluralismus weitgehend als schlichte Fortsetzung des abgelehnten Laissez-faire-Liberalismus auf Gruppenebene gesehen, d.h. in seinem Begründungszusammenhang individualistisch interpretiert wurde, erfuhr er ebenso wie der bekämpfte >Paläoliberalismus< (paläo=alt) scharfe Kritik. Da der Marktwettbewerb zwar ein notwendiges, aber keineswegs hinreichendes Mittel zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens sei, vielmehr der sozialpolitischen Ergänzung und Korrektur durch den Staat bedürfe, mußte auch ein lediglich am >freien Marktwettbewerb< orientierter Gruppenpluralismus abgelehnt werden. Wie der Staat den Wettbewerb vor Monopol- und Kartellgefährdung zu schützen habe, so müsse er ebenso die freie Entfaltung aller Bürger vor Monopol- und Kartellbildungen im Gruppenpluralismus schützen.“ Daher sei die Ordnungsfunktion des Rechtsstaates „unbedingt sicher zu stellen.“ Dem ist absolut nichts hinzuzufügen.