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In dem von mir herausgegebenen Werk: >Die Tschechoslowakei. Das Ende einer Fehlkonstruktion, 1992/93. Die sudetendeutsche Frage bleibt offen<, Berg 1992 ff; mehrere Auflagen, befindet sich ein Beitrag zum tschechischen Staatsgründer von 1918, Thomas Garrigue Masaryk.
Dieser Beitrag ist von Univ.-Prof. Dr. Lothar Bossle. Einer der besten Beiträge zum wahren tschechischen Gesicht und Charakter!!
Besonders wenn es auch heute noch um die unsäglichen Benes-Dekrete der Entrechtung, Enteignung und Massenaustreibung der Sudetendeutschen geht.
Dieser Beitrag wird heute nun hier, nach über einem Jahrzehnt, nochmals für die Öffentlichkeit präsentiert. Erstmalig in dieser Form. Die Lektüre lohnt sich.
Jedoch zunächst:
Masaryk, Thomas Garrigue, * 7. 3. 1850 Göding (Hodonín, Tschechische Republik), † 14. 9. 1937 Lana bei Prag (Tschechische Republik), Philosoph, Soziologe, Staatsmann. Studierte an der Universität Wien, ab 1882 Professor an der Tschechischen Universität Prag, 1891-93 und 1907-14 im österreichischen Abgeordnetenhaus, ging 1914 in die Emigration nach England und in die USA. Von dort arbeitete er an einer nationalen Revolution der Tschechen (Tschechischer Nationalrat 1916, Legion in Russland 1917) und konnte im Pittsburgher Vertrag 1918 auch die Slowaken für einen gemeinsamen Staat gewinnen. 1918 gründete er eine Exilregierung, 1918-35 war er Präsident der ČSR.
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Karl Renners Untergangsprophetie über das Schicksal der Tschechoslowakei
(>>unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des tschechischen Staatspräsidenten Thomas Garrigue Masaryk)
Von Univ.-Prof. Dr. Lothar Bossle (+)
Die tragischen und zugleich undramatischen ETAPPENAGONIEN der 1918 durch Thomas G. Masyryk begründeten Tschechoslowakei haben eine eigentlich überflüssige internationale Verwunderung hervorgerufen. Vor allem die ehemaligen Siegermächte im Ersten Weltkrieg können es offenbar nicht fassen, daß ihren damaligen Staatsschöpfungen keine Bestandschaft beschieden ist. Während Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die eine geschichtliche Tradition aufweisen können, und nach der Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie ebenfalls in die "Neuordnung Europas" einbezogen wurden, die Stürme unseres Jahrhunderts dennoch überstanden haben, vermochten die damals geschaffenen künstlichen Staatsgebilde wie Jugoslawien und die Tschechoslowakei keine Existenzfestigkeit beweisen.
Der Zerfall dieser beiden Retortenstaaten stellt indessen ein unüberhörbares Warnsignal dar, daß man Völker und Menschen nicht zusammenzwingen darf, wenn sie nicht zusammengehören. Diese gebotene Vorsichtigkeit bei Staatsgründungen mag als eine späte Einsicht am Ende des 20. Jahrhunderts hingestellt werden, da nach der Auflösung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens auch noch der Vielvölkerstaat der Sowjetunion auseinandergebrochen ist. Staatsmänner, Diplomaten, Ideologen, Utopier und alle Reißbrettstrategen, die am grünen Tisch gern über das Schicksal der Völker entscheiden, würden ja ihre gestammelten Entschuldigungen, wären sie noch am Leben, mit keinen guten Gründen rechtfertigen können.
Was sagten sie doch damals bei den Friedenskonferenzen in Versailles, St. Germain und Trianon? Die Verfügungsmasse des aufgelösten Habsburgerreiches hätte doch in modernen Staatsbegründungen eben einen Unterschlupf finden müssen. Die der Gründung des Tschechoslowakischen und jugoslawischen Staates zugrundeliegende Theorie sei überdies die dem damaligen Zeitgeist entsprechende Idee des Selbstbestimmungsrechtes der Völker gewesen. -
Bis in unsere Tage geht es daher über das Fassungsvermögen britischer, amerikanischer und französischer Diplomaten hinaus, warum sich die Slowaken unter dem tschechischen Dach einfach nicht wohlfühlen wollen.
Es kann allerdings auch nicht vorgebracht werden, daß gegen die Staatsbegründung der Tschechoslowakei im Jahre 1918 keine mahnenden Bedenken zu vernehmen gewesen wären. Eine der bedeutsamsten Warnungen, die damals schon gehört werden konnten, ging zweifellos von Karl Renner (1870-1951) aus, 1918 - 1920 der erste Staatskanzler in der neuen Republik Österreich. Wie der Begründer des tschechoslowakischen Staates, Thomas Garrigue Masaryk (1850-1936) stammte er aus Mähren und beide waren sie als Mitglieder des Reichsrats in der Österreichisch-Ungarischen Donaumonarchie zu respektablen Ehren gekommen. Masaryk wie Renner kamen aus ärmlichen Verhältnissen und beide verkörperten den eigentlich seltenen staatsmännischen Typus, bei dem der Anspruch offensichtlich ist, das politische Handeln aus wissenschaftlichen Erkenntnissen abzuleiten. Und in ihrer vielfach bekundeten wissenschaftlichen Leidenschaftlichkeit legten sie beide einen großen Wert darauf, für ihre Prognosen und Diagnosen eine soziologische Sichtweise gewählt zu haben. Doch gerade auch deshalb gingen ihre Wege, trotz eines großen Vorrats an landsmannschaftlichen Gemeinsamkeiten, völlig auseinander.
Karl Renner, der österreichische Sozialist, nach 1945 wiederum wie nach dem Ersten Weltkrieg von Stalin eingesetzter österreichischer Staatskanzler und der erste Bundespräsident der Republik Österreich, wollte 1918 Österreich-Ungarn als föderale Republik gleichberechtigter Nationen unbedingt erhalten; Masaryk wollte aber das Reich der Habsburger um jeden Preis in seine Bestandteile auflösen. Vor sich selbst wie vor den Siegermächten des Ersten Weltkrieges und der Weltöffentlichkeit rechtfertigte Masaryk sein Werk der Zerstörung eines geordneten Donauraums als eine zeitgemäße Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. DOCH DIE VON IHM BEWIRKTE STAATSBEGRÜNDUNG DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ENTPUPPTE SICH ALS DAS AUSSCHLIESSLICHE PRODUKT EINES EXPANSIONSWÜTIGEN TSCHECHISCHEN NATIONALISMUS, DIE NACH DREI TODESKÄMPFEN IN DEN JAHREN 1938, 1948 UND IM JAHR 1992 (TRENNUNG ZWISCHEN TSCHECHEI UND SLOWAKEI; RJE) INFOLGE THERAPEUTISCH NICHT ZU BEHANDELNDER GENETISCHER WEBFEHLER ENDGÜLTIG ERLOSCHEN IST.
Dabei hatte Thomas Masaryk stets mit der Feststellung kokettiert, ein philosophischer Repräsentant moderner Staatsideen zu sein.
Es war ihm daher seit 1918 eine Genugtuung, einen ersichtlichen Beitrag zur Zerstörung der drei "Theokratien", dem Habsburgerreich, der Herrschaft der Hohenzollern und dem russischen Zarismus erbracht zu haben. Gegenüber dieser Höhe des Zeitgeistes, in welchem Masaryk so sicher zu schweben glaubte, befand sich sein mährischer Landsmann Renner hingegen nur auf dem Podest einer hausbackenen Rückständigkeit. Doch lediglich im Überlegenheitsrausch der Friedenskonferenz von St. Germain konnte Masaryk das Gefühl haben, als glücklicher Sieger im geschichtlichen Prozeß auftreten zu können.
Jacques Hannak, der 1951 die Soziologie Renners "Mensch und Gesellschaft" herausgegeben hat, bemerkte daher zu dieser Zeit noch: "... denn die Geschichte hat ja zunächst für Masaryk und gegen ihn entschieden". 1) Doch, gerade vor dem Ausgang des 20. Jahrhunderts müssen nach dem epochalen Ereignis des Zusammenbruchs des Weltkommunismus als Herrschaftssystem viele bisher geläufige Bewertungen zurückgenommen werden, die bis zu diesem Zeitpunkt noch den Anschein der Unumstößlichkeit erwecken konnten.
Mit dem lange sich hinziehenden Siechtum der Tschchoslowakei und dem undramatischen Abgang des von Masaryk gegründeten Gebildes von der Staatsbühne unseres Jahrhunderts ist jetzt nämlich die Zeit gekommen, an den prophezeiten Untergang der Tschechoslowakei zu erinnern, den Karl Renner bereits 1918 vorhergesagt hatte. Nicht mehr Masaryk und die Friedensmacher nach dem Ersten Weltkrieg stehen jetzt als die Sieger in der Geschichte des 20. Jahrhunderts da. Karl Renner und alle Warner vor unüberlegten Friedensbeschlüssen und nicht lebensfähigen Staatsbildungen haben vielmehr noch in unserem Jahrhundert ihre späte Rechtfertigungen erfahren.
Freilich hat Renner seine Zweifel gegen die Lebensfähigkeit der Tschechoslowakei nicht nur deshalb vorgebracht, weil er Österreich im Bestandsumfang der Donaumonarchie erhalten wollte. Als politischer Denker war er vielmehr davon überzeugt, daß DIE BILDUNG EINES NATIONALSTAATS OHNE BEACHTUNG DES VOLKSGRUPPENRECHTS KEINE LANGE LEBENSDAUER VERBÜRGEN KANN. Er war, obgleich ein hervorragender Vertreter der austromarxistischen Schule zwischen beiden Weltkriegen, völlig frei von einer theoretischen Orthodoxie, die sonst für Marxisten - und auch für Masaryk - kennzeichnend ist. Renner ging hingegen von der lebensweltlichen Nähe, damit nicht von Begriffen, sondern von Veranschaulichungen aus. Es lag daher nicht außerhalb seiner Vorstellungskraft, sondern ER WUSSTE SCHLICHTWEG, DASS ES MIT TSCHECHEN, SLOWAKEN, DEUTSCHEN UND MAGYAREN IN EINEM NATIONALSTAAT MIT TSCHECHISCHER HEGEMONIE EINFACH NICHT GUT AUSGEHEN KANN.
Mit diesen zwei unkorrigierbaren Erbfehlern war die Masaryksche Staatsgründung jedoch von ihrem Anfang an belastet. Masaryk gab zwar vor, ein europäischer Humanist und Demokrat zu sein - und als Professor der Philosophie an der Tschechischen Universität Prag, als Schüler von Franz Brentano an der Universität Wien und in seinen philosophischen Schriften legte er dafür unbezweifelbare Zeugnisse ab - JEDOCH HANDELTE ER WIE EIN HERRSCHSÜCHTIGER TSCHECHISCHER NATIONALIST, DER IN SEINEM STAAT GEGEN IHREN WILLEN FÜNF MINDERHEITENNATIONEN ZUSAMMENPRESSTE, DIE DEUTSCHEN, DIE SLOWAKEN, POLEN, MAGYAREN UND DIE KARPATORUSSEN. Renners Kritik richtete sich sogleich gegen diese Vermessenheit, daß Masaryk und Benesch meinten, "DER STAAT SEI ALS STAAT DER TSCHECHEN ZU BETRACHTEN UND ALLE ANDEREN, AUCH DIE DEUTSCHEN, SEIEN IHRE HINTERSASSEN." 2)
Die dreieinhalb Millionen Deutsche, die seit 1918 in dem Tschechoslowakischen Staatsverband leben mußten, hätten dagegen bei einer grundsatzfesten Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker eigentlich zu Deutsch-Österreich gehören müssen.
Die Einverleibung der Deutschen in den tschechoslowakischen Staatsverband war jedoch gerade das Kernstück der merkwürdigen Staatsphilosophie Masaryks, deren Grundlage in gradezu verblüffender Weise ein zynischer Machiavellismus war. Während es nämlich geboten gewesen wäre, die Sudetendeutschen 1918 bei Österreich zu lassen, stellt Thomas Masaryk in seinen 1925 noch in unverblümter Offenheit veröffentlichten Erinnerungen und Betrachtungen "Die Weltrevolution" mit nicht zu überbietender Dreistigkeit fest: "UNSERE DEUTSCHEN MÜSSEN SICH DABEI ENTÖSTERREICHERN." 3) Mit dieser unerhörten Zumutung an die Deutschen in Böhmen und Mähren zeigt Masaryk, der nicht selten seine Fähigkeiten für psychologische und soziologische Einblicke anprieß, daß er in Wirklichkeit vom Wesen des Menschen und den humanen Formen des sozialen staatlichen Zusammenlebens überhaupt nichts verstanden hat. Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes hat Masaryk damit verhöhnt, indem er die Hineinzwängung der Sudetendeutschen in seinen in St. Germain begründeten Staat mit der zynischen Feststellung rechtfertigt: "DESHALB WURDE IN DER FRIEDENSKONFERENZ BETONT, DASS DIE LOSREISSUNG DER DEUTSCHEN MINDERHEIT DIE TSCHECHISCHE MEHRHEIT SCHÄDIGEN WÜRDE." 4)
Karl Renner, ein Soziologe mit einem untrüglichen Instinkt, wußte hingegen, daß kulturelle, ethnische, religiöse und nationale Bindungen von einer lange nachwirkenden Kraft sind.
Darum stellt er bereits beim ersten Ende der Tschechoslowakischen Republik im Jahre 1938 in lapidarer Kürze fest: "Das System von Versailles - Saint Germain ist dahin." 5) Jetzt, nach dem wohl endgültigen Zerfall des 1918 erst begründeten tschechoslowakischen Staatsgebildes ( der Zerfall der Tschechoslowakei in Tschechei und Slowakei 1992/93; RJE) und dem Ende der Sowjetunion erlangt diese Einsicht Renners eine neue Aktualität. Moderne Staats-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik wie auch viele sozialwissenschaftlichen Lehrmeinungen, denen sich Masaryk in seinem angeblich rationalen Welt- und Menschenbild verschrieben hatte, gingen von einem Dominantwerden technischer, ökonomischer, ökologischer, funktionalistischer, systemtheoretischer, soziobiologischer und strukturalistischer Einflußfaktoren auf das geschichtliche Geschehen aus. Gegenwart und Zukunft konnten nur noch aus diesen Quellen entspringen. Und nun stellt sich, ganz am Endes des 20. Jahrhunderts, scheinbar urplötzlich die fortwirkende Kraft totgesagter, weil angeblich unmodernen Daseinswerte und Einflußfaktoren heraus. Im Zusammenbruch des von der Sowjetunion beherrschten Imperiums ist daher nicht eine neue Theorie oder Ideologie und auch keine politische Konzeption hervorgetreten. Es ist vielmehr der Aufstand unverlierbarer kultureller, ethnischer und nationaler Energien gewesen, über die hinwegzugehen wir kein politische oder wissenschaftlich begründetes Recht haben.
Dieses Vorrecht auf die Gewißheit, wie die Staatenordnung im 20. Jahrhundert aussehen soll, hatte sich allerdingst die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg herausgenommen. Zwar aus unterschiedlichen Gründen; AUS RACHSUCHT WIE BEI CLEMENCEAU UND MASARYK oder wider bessere Einsicht wie bei Woodrow Wilson.
Die Fehlentscheidungen auf den Friedenskonferenzen von Versailles und St. Germain haben in verhängnisvoller Weise unser ganzes Jahrhundert belastet. Ohne deren Ergebnisse, was auch einschließt, daß die Konstruktion der Tschechoslowakei niemals das Licht der staatlichen Existenz hätte erblicken dürfen, wäre uns schließlich die antagonistische Partnerschaft zwischen Stalin und Hitler erspart geblieben. Der Starrsinn Masaryks, aus den Ländern der Wenzelskrone einen TSCHECHISCHEN HEGEMONIALSTAAT zusammenzuschmieden, gehört daher in die Gefolgschaft jener Illusionen, die unser Jahrhundert zu seinem Unglück solange beherrschten.
Manche dieser Illusionen waren von einer unverkennbaren Naivität - so auch, daß die Menschen einmal ohne staatliche Regelungen friedlich und glücklich zusammenleben könnten. DIE ILLUSION MASARYKS VOM TSCHECHOSLOWAKISMUS HINGEGEN WAR ALLERDINGS NOCH VON EINEM UNVERKENNBAREN BRUTALEN ZYNISMUS BEGLEITET ... : "UNSERE POLITIK MUSS VOR ALLEM TSCHECHISCH SEIN, WAHRHAFT TSCHECHISCH, DANN WIRD SIE WAHRHAFT WELTPOLITIK SEIN UND DARUM AUCH SLAWISCH", schreibt Masaryk im Jahr 1925 als Präsident eines Staates nieder, in welchem fünf Minderheitennationen mit einer Mehrheitsnation zusammengezwängt leben müssen. 6)
Wer freilich ein so borniertes Sendungsbewußtsein offenherzig preis gibt, sollte nicht nur kein Präsident eines Mehrvölkerstaates sein; denn um diese ENGSTIRNIGE TSCHECHISCHE BESESSENHEIT zu rechtfertigen, mußte Masaryk so häufig wie zwangsläufig zum Mittel der GESCHICHTSKLITTERNDEN TÄUSCHUNG greifen.
Welche verhöhnende Haltung auf die geschichtliche Wahrheit spricht daher folgerichtig aus seinem erklärten Ziel der "Entgermanisierung" der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei, wenn er 1919 während eines Interviews IN DER FRANZÖSISCHEN ZEITUNG "MATIN" AUSFÜHRTE: "... UNSERE GESCHICHTLICHEN GRENZEN STIMMEN MIT DEN ETHNOGRAPHISCHEN GRENZEN ZIEMLICH ÜBEREIN. NUR DIE NORD- UND WESTRÄNDER DES BÖHMISCHEN DREECKS HABEN INFOLGE DER STARKEN EINWANDERUNG WÄHREND DES LETZTEN JAHRHUNDERTS EINE DEUTSCHE MEHRHEIT. FÜR DIESE LANDESFREMDEN WIRD MAN VIELLEICHT EINEN GEWISSEN MODUS VIVENDI SCHAFFEN, UND WENN SIE SICH ALS LOYALE BÜRGER ERWEISEN, IST ES SOGAR MÖGLICH, DASS IHNEN UNSER PARLAMENT, ZUMINDEST AUF DEM GEBIET DES ÖFFENTLICHEN UNTERRICHTS, IRGENDWIE AUTONOMIE BEWILLIGT. IM ÜBRIGEN BIN ICH DAVON ÜBERZEUGT, DASS EINE SEHR RASCHE ENTGERMANISIERUNG DIESER GEBIETE VOR SICH GEHEN WIRD." 7)
War es Masaryk hierbei nicht bewußt, eine nachweisbare Unwahrhaftigkeit gesagt zu haben, indem er die Sudetendeutschen als "Immigranten und Kolonisten" bezeichnete, von daher eine Übereinstimmung zwischen geschichtlichen und ethnographischen Grenzen zur Begründung seines Staates ableitete, OBGLEICH DIE SLAWISCHE ZUWANDEREUNG AUS DEM OSTEN NACH DER BESIEDLUNG VON BÖHMEN UND MÄHREN DURCH KELTISCHE UND GERMANISCHE STÄMME ERFOLGT WAR? Ungerührt durch diese geschichtliche Tatsache neigte Masaryk zu dem expanionistischen Kurzschluß, der einen erneuten Beweis für sein unverfrorenes Geschichtsverhältnis darstellt:
"Für das Verbleiben der deutschen Minderheit bei uns berufen wir uns auf das historische Recht und die Tatsache, daß unsere Deutschen niemals auf eine Vereinigung mit Deutschland Wert gelegt haben." 8)
Man kann in der Geschichte eines Staates manche nicht gerade bravourösen Ereignisse mit der Nachsicht, die erst die historische Nachträglichkeit erlaubt, in ein verklärendes oder zumindest mildes Licht rücken. Aber man kann keinen Staat auf einem Lügensyndrom aufbauen. Der Anfang, den der tschechoslowakische Staat 1918 genommen hat, trug deshalb schon die Keime des Zerfalls in sich. Das jetzige Ende der Tschechoslowakei (gemeint die Trennung zwischen Tschechen und Slowaken 1992/93; RJE) kann daher auch aus keinen historischen oder staatssoziologischen Gründen heraus beklagt werden; denn aus geschichtlichen Erfahrungen und soziologischer Strukturerkenntnis hätte dieser Staat gar nicht entstehen dürfen. Diese Klarsicht, daß Masaryk im Abschied der Habsburger von ihrem Reich unter Ausnützung seiner Konspiration, um nicht zu sagen landesverräterischen Beziehungen mit Frankreich, England, Rußland und den USA seinen Staat geschaffen hatte, ohne nach seiner Zukunftsfähigkeit zu fragen, ist schon gleich nicht nur Karl Renner aufgefallen. Die Errichtung einer tschechischen Gewaltherrschaft sah der Sonderberater der amerikanischen Friedensdelegatin A. C. Coolidge ebenfalls und sogleich als eine Gefahr für den neuentstandenen Staat an: "WÜRDE MAN DEN TSCHECHEN DAS GANZE GEBIET, DAS SIE BEANSPRUCHEN, ZUERKENNEN, WÄRE DAS NICHT NUR EINE UNGERECHTIGKEIT, ... SONDERN AUCH FÜR DIE ZUKUNFT DES NEUEN STAATES GEFÄHRLICH UND VIELLEICHT VERHÄNGNISVOLL." 9)
Was ist St. Germain mit der verhängnisvollen Begründung des tschechoslowakischen Staates geschehen war, kann nur als Selbstverrat Masaryks bezeichnet werden; denn er setzte sich in einen offenen Widerspruch zu seinen eigenen Auffassungen, die er vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit nicht zu übersehender Unbedingtheit vertreten hatte. So verweist Georg von Rauch auf die Feststellung Masaryks in seinen 1913 erschienenen Soziologischen Skizzen zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie, daß ein Nationalitätenstaat wie Rußland nicht lebensfähig ist, wenn in ihm "die Vorherrschaft eines Volkes" besteht. Masaryk spricht sich deshalb für die "grundsätzliche Ablehnung jeglicher nationaler Bedrückungspolitik" aus. 10) Genau diesen Sündenfall hat aber Masaryk selbst 1918 verursacht. Sein slawisches Sendungsbewußtsein durchrannte dabei seine eigenen theoretischen Einsichten. Erwin Hölzle chrakterisiert denn auch diesen Haltungsumfall Masaryks vor seinen eigenen wissenschaftlichen Erkenntnissen als "eine sonderbare auch historisch fragwürdige Argumentation des philosophischen Politikers". 11)
Mittlerweile ist uns ebenfalls durch andere nationalstaatliche Fehlkonstruktionen die geschichtssoziologische Erfahrung zugewachsen, daß eine Staatenbildung nicht von langer Dauer sein kann, wenn ein Bewußtsein der Gleichberechtigung aller Mitgliedsländer und ethnischer und kultureller Minderheiten nicht zu entstehen vermag. Alle Staatsgeburten des 19. Jahrhunderts und jene, die als Folge des Ersten Weltkrieges zustandegekommen sind, litten an der Hegemonie eines Teilstaates. Die erdrückende Stellung der Führungsmacht läßt dann keine föderative Staatsgesinnung zu. Die Idee des Nationalstaates und des Selbstbestimmungsrechts der Völker hat gegenüber einer dadruch zustande gekommenen Polarisierung lediglich nur noch eine theoretische oder gar pervertierte Bedeutung.
Die staatsbegründenden Ideen des 19. Jahhunderts waren viel zu illusionsbeladen, um Wirklichkeiten daraus entstehen zu lassen. Zur Herbeiführung von nationalstaatlichen Einigungsprozessen benötigte man daher emotionsergiebige Ideologien, die ein irrational mitreißendes Feuer der hingebungsvollen Begeisterung zu entfachen in der Lage sind. Als solche Ideologien traten im 19. Jahrhundert der Panslawismus, der Pangermanismus und - von minderer Schlagkraft - der Panromanismus in Erscheinung. Wie der Historiker Heinz Gollwitzer hervorhebt, wurde im 19. Jahrhundert ein solchermaßen gezüchteter Nationalismus zum Ersatz für eine sakrale Staatslegitimität, die seit der Französischen Revolution offensichtlich ihre Wirkkraft eingebüßt hatte. Das war jedoch zugleich der große geschichtliche Irrtum aller Ideologien, Utopien und auch Theorien, daß ihre Bannerträger die Dürftigkeit des Ersatzes mit der Festigkeit der Originalität verwechselt haben. Der Panslawismus wie der Pangermanismus glaubten, daß ein nationalistisches Nervenfieber von einer gleichen Beständigkeit wie die religiöse Frömmigkeit sein könnte. Mit der Entfachung nationaler Leidenschaftlichkeit bediente man jedoch nur den Nachklang metaphysischer Bedürfnisse. In dem von Karel Capek niedergeschriebenen Band "Masaryk erzählt sein Leben" enthüllt der geistige Begründer des Tschechoslowakismus diesen Imitationscharakter profaner Heilsbefriedigung: "Ganz ohne Metaphysik kommen wir nicht aus". 12)
Es mag Masaryk durchaus zugute gehalten werden, daß er in der geistigen Atmosphäre des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts noch keine Erfahrung im Umgang mit Ersatzreligionen haben konnte. Doch als Soziologe, was er ja so gern sein mochte, hätte er wissen müssen, daß alle säkularisierten Religionen durch die Fermente des heißblütigen Nationalimus und der denklosen Ideologie zusammengahalten werden. Wenn man eine religiöse oder philosophische Metaphysik durch Verweltlichungen relativiert, entstehen aus einem solchen Verdünnungsvorgang immer nur Ideologien.
ALS MASARYK DARAN GING, AUS TSCHECHENTUM UND PANSLAWISMUS EINE STAATSPHILOPHIE FÜR DIE NEUBEGRÜNDETE TSCHECHOLOWAKEI ZU ENTWICKELN, HÄTTE ER SCHON WISSEN MÜSSEN, DASS DARAUS NUR EINE IDEOLOGIE ERWACHSEN KANN. Es ist daher hier der würdigende Platz, um an den 1903 in Pilsen geborenen und 1976 in Wiesbaden verstorbenen sudetendeutschen Historiker und Bildungssoziologen Eugen Lemberg zu erinnern, der solcherart zustandekommende Ideologien schlichtweg als "notwendige Lebenslügen" bezeichnet hat. In seinem 1971 erscheinen Werk "Ideologie und Gesellschaft" beschreibt Lemberg recht genau die vermessene Absicht von Masaryk, aus verschiedenen soziologischen und sozialpsychologischen Motiven eine Ideologie des Tschechoslowakismus zusammenzuschmieden. So mußte er dem Multinationalitätenstaat der Tscheoslowakei ein charakteristisches Merkmal verliehen, das den Staat von seinem Umfeld abgrenzt: das war ein slawischer Tschechismus. Er mußte weiterhin die Tschechoslowakei mit einem Einheitsbewußtsein ausstatten, was mit der Leugnung ethnischer Spannungen verbunden war. Und er mußte schließlich das Gefühl einer Bedrohung von außen, eine Feindvorstellung erzeugen. Das zwang Masaryk aus Ressentiments wie aus Notwendigkeiten zur scharfen Gegnerschaft mit Deutsch-Österreich und Deutschland. 13)
Die Erfüllung dieser soziologischen und sozialpsychologischen Bedingungen für die Zusammenballung einer tschechoslowakischen Ideologie hat Masaryk gezwungen, mit einander unvereinbare Auffassungen zu einer Einheit zusammenzupreßen. Den Panslawismus machte er zum Leitbild und den Panergamnismus erhob er zu seinem Feindbild. Damit hatte er die Straße wissenschaftlichen Realismus, auf der zu laufen er vorgab, spätestens seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verlassen. Gelegentlich wies er zwar noch auf die Widersprüchlichkeit seiner Auffassungen hin. So gestand er "WÄHREND ICH NACH REALISMUS, NACH WISSENSCHAFTLICHER METHODE RIEF, RANG ICH MIT MEINER ROMANTIK". 14)
Diesem widerspruchsvollen eigenen Standort gab Masaryk allerdings eine geschichtsphilosophische Bedeutung, indem er daraus die geistesgeschichtliche Entstehung des tschechoslowakischen Nationalstaates abgeleitet hat. Diese Personifikation zwischen der eigenen wissenschaftlichen Postion und den Gründen der Staatbildung wird deutlich, wenn Masaryk feststellt: "Unsere nationale Erweckung ist ein Kind der Aufklärung und der späten Romantik, sie wurde aus den Humanitätsidealen des 18. und 19. Jahrhunderts geboren". 15)
Eine solche Gemengelage zwischen Aufklärung und Romantik lag jedoch weder in den Eigentümlichkeiten des Pangermanismus noch des Panslawismus vor.
Die Verortung des Tschechoslowakismus in dem Gesinnungshaushalt des 18. und 19. Jahrhunderts zeigt freilich die Berechtigung für eine Unterscheidung auf, die Jacques Hannak im Vergleich zwischen Masaryk und Renner anstellt. Danach dachte Masaryk, obgleich er im ersten Drittel unseres Jahrhunderts zu den Siegern gehörte, in "den Kategorien des neunzehnten Jahrhunderts", während Renners Denken "in den Katagorien des zwanzigsten Jahrhunderts" verlief. 16)
Masaryks Trachten galt nur der Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Umsetzung seines slawischen Tschechentums in einem Nachfolgestaat. DAS SCHICKSAL DES DONAURAUMS WAR IHM HINGEGEN GLEICHGÜLTIG. Karl Renner hingegen wußte recht genau, daß der südost- und osteuropäische Raum gefährlichen Erosionstendenzen ausgesetzt ist, wenn nur noch das kleine Deutsch-Österreich vom Reich der Habsburger übrigbleibt. Dabei war er sich vor dem Ersten Weltkrieg mit Masaryk und vielen Refromkritikern in der Betonung der Notwendigkeit einig, daß die österreichisch-ungarische Monarchie in ein föderatives System freier Nationen hinübergeführt werden muß. Im Gegensatz zu Masaryk sah er im Ausgang des Ersten Weltkriegs aber gerade die Möglichkeit zur föderativen Umbildung Österreichs. Daß sich Masaryk der Chance 1918 entzogen hat, die Gebiete der alten Monarchie als Republik gleichberechtigter Nationen und Völker zu erhalten, hat seither die Geschichte Europas in ihrem verhängnisvollen Verlauf bestimmt.
Ungeachtet der erheblichen Spannungen im österreichischen Vielvölkerstaat konnte Renner auch den Kernpunkt im Denken von Masaryk nicht verstehen, der von einer Unverträglichkeit in den Lebensverhältnissen der Tschechen im österreichischen Staatsverband ausgegangen war. In einer Rede im Reichsrat am 26. November 1909 beklagte er schon den nationalen Wettbewerbskampf der Deutschen und Tschechen in Böhmen und Mähren, "dessen berechtigten Kern in der Methode und in den Zielen sie weitaus übertreiben". 17)
Darum weiß Renner daran zu erinnern, nachdem es auch seine eigene Heimat war und er sich stets einen offenen Blick für politische, geistige und wirtschaftliche Strömungen bewahrt hatte, daß die Integration der Tschechen in der Donaumonarchie längst als gelungen bezeichnet werden konnten. Nicht nur, daß sich in den Ländern der Wenzelskrone schon vor 1914 eine erfolgreiche Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt hatte, auch im Zentrum der alten Monarchie, in Wien, waren die Tschechen keine Minderheit mehr, über die man hätte hinwegsehen können. Der Tatbestand, daß noch heute in Wien über eine Millione der Einwohner einen tschechischen Namen tragen, geht ja auf eine Einwanderungswelle zurück, die bereit vor der Begründung der Tschechoslowakei beobachtet werden konnte.
Renner hat daher die Wahrheit auf seiner Seite, wenn er darauf hinweist, daß die Tschechen schon in Altösterreich durch einen raschen Aufstieg in Prag und in Wien den Zustand der kulturellen und politischen Gleichberechtigung erlangt hatten. Die Auswirkungen dieser tschechischen Integrationserfolge können denn auch noch heute bis in die Kabinettslisten der österreichischen Regierung verfolgt werden: Vranitzky der Bundeskanzler, Busek der Vizekanzler, erinnern an einen tschechischen Familienursprung. Klestil ist tschechischer Abkunft. Und schließlich war auch General Radetzy, die liebenswürdigste Symbolfigut der romantisierten Donaumonarchie, ein Tscheche. 18)
Masaryk selbst hat entscheidende Jahre seines Lebens in Wien verbracht. Als Student wie als Privatdozent lebte er in Wien nach seinem eigenen Geständnis und unter Verweisung auf seine ungesellige Natur, ohne eine Berührung und Begegnung mit seinen tschechischen Landsleuten zu suchen. Und nach Prag, das er im Unterschied zu dem lebendigen Wien als eine langweilige Provinzhauptstadt ansieht, geht er - wiederum nach vielfach geäußertem Eingeständnis - gar nicht gern. Auch als Professor der Philosophie an der neugegründeten tschechischen Universität in Prag läßt er jegliche nationalistische Besessenheit vermissen. Noch als Präsident gesteht er: "Eigentlich war ich von klein auf halb ein Slowak". 19)
In dieser slowakischen Blutsverbundenheit durch seinen Vater mag vielleicht der Grund gelegen haben, daß Masaryk am Professorenstammtisch im Prager Hotel de Saxe die äußerst problematische Auffassung darlegte, daß sich die Tschechen mit den Slowaken vereinigen sollten. Dabei hatte er Gesprächspartner vor sich, die als Vertreter der Alttschechischen Partei die reine Absicht vertraten, in einem tschechischen Staat dürften nur die historischen Länder Böhmen, Mähren und Schlesien zusammengefaßt bleiben. Es war daher gleichsam die genetische Bipotentialität Masaryks, die am Anfang der Fehlkonstruktion eines tschechoslowakischen Staates gestanden hat.
Sowenig nun Karl Marx in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem unbeweglichen und autoritätsgesättigten Alhegelianismus in Berlin zufrieden war und darum zu den Junghegelianern ging, konnte sich Thomas Masaryk in Prag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der politischen Sterilität der Alttschechen begnügen und bevorzugte stattdessen "die radikale jungtschechische Simmung". 20)
Masaryk fand es erfreulich, daß sich insbesondere die "Schicht der Landadvokaten" dieses radikalen jungtschechischen Stimmungsaufschwungs bemächtigte. Vor allem aber befriedigte es ihn, daß sich die Jungtschechen zur Entfachung ihrer nationalstaatlichen Zielsetzung nicht nur auf das historische Recht, sondern noch obendrein auf das Naturrecht berufen haben.
In der Staatsbegründung der Tschechoslowakei kam zwar später weder der Ideen- und Anspruchgehalt des historischen Rechts noch des Naturrechts zur Geltung, sondern darin lag nur ein vielfacher Anlaß zur nationalistischen Verhöhnung vor. In der späteren Ideologie des Tschechoslowakismus waren sie lediglich Beglaubigungsinstanzen der Staatslegitimität. Solche juristischen und verfassungsgeschichtlichen Abstüzungen sind aber keine bewegenden Impulsfaktoren. Diese dynamische Komponente erhielt die Ideologie des Tschechoslowakismus durch die Erteilung eines panslawistischen Sendungsauftrags. Und auch diese Vermehrung ideologischer Elemente hat in Masaryk ihren Urheber.
Zwar gesteht er in einer kultursoziologischen Willkürlichkeit, die für einen Wissenschaftler weder eine Methode noch eine analysierendes Instrument sein sollte: "man konnte mir nicht verzeihen, daß ich an die tschechische Reformation anknüpfe UND AN DIE STELLE DER GEFÄLSCHTEN ALTEN SLAWISCHEN KULTUR die tschechische Heimatkultur setzte". 21)
Wäre es nur Masaryks Ziel gewesen, eine tschechische Heimatkultur wieder zu verlebendigen, hätte er besser jegliche Staatsgründung unterlassen. Ihre Pflege wäre nämlich im österreichischen Vielvölkerstaat viel besser aufgehoben geblieben. Entgegen seiner bescheidenen Absicht, die tschechische Heimatkultur zu pflegen, MACHTE ER JEDOCH DIE TSCHECHEI ZU EINER HERRSCHAFTSNATION, VERBUNDEN MIT DER UNTERDRÜCKUNG ANDERER VÖLKER UND LANDSMANNSCHAFTEN. Die Rolle, welche den Tschechen in der Masarykschen Staatsgründung zufiel, hat Otto Bauer, wie Renner ein führender österreichischer Sozialist, mit dem "IMPERIALISMUS DER KLEINEN" verglichen. Eine Nation wollte die andere beherrschen, - das war die Folge der Zerschlagung des österreichischen Vielvölkerstaates.
Masaryk hatte keine Phantasie, um sich vorstellen zu können, das geistige und ethnische Unvereinbarkeiten einen Staat polarisieren, aber nicht befriedigen. Darum spürte er auch nicht, wenn er andere Nationen mit seinen dilettantischen Mußmaßungen in ihrer Würde verletzt hat. Welchen wissenschaftlichen Stellenwert konnte darum seine völlig unrealistische Einschätzung beanspruchen, das "zukünftige Europa werde überwiegend slawisch sein", nur weil er auf einen deutschen Bevölkerungsschwund hofft: "UNSERE DEUTSCHEN SIND ETWAS WENIGER FRUCHTBAR ALS DIE TSCHECHEN." 23)
Die Annahme Masaryks, daß zu den unvermeidlichen historischen Tatsachen unseres Jahrhunderts der Vormarsch des Slawentums gehört und das Tschechentum die mitteleuropäische Speerspitze dieser Expansion ist, erscheint eine umso leichtsinnigere Grundlage darzustellen, als Masaryk durch seine mehrfachen Aufenthalte im zaristischen Rußland, seine Begegnungen mit Repräsentatanten des Panslawismus wie Leo Tolstoi, seine Beschäftigung mit der russischen und tschechischen Literatur des Slawentums, um die Schwäche dieser Erweckungsbewegung hätte wissen müssen. Dennoch erstrebte er einen TSCHECHISCHEN SLAWISMUS, der eine höhere Qualität als der von Rußland ausgegangene Panslawismus aufweisen sollte. Dabei waren für ihn die Voraussetzungen für die Entwicklung einer panslawistischen Konzeption noch weniger günstig als in Rußland.
Mochte die Zusammenbindung von Autokratie, Orthodoxie und Volkstum im Rußland des 19. Jahrhunderts allemal den Stoff dafür hergeben, um daraus das Progrmam für eine Erneuerung verheißende Ideenbewegung zu entwickeln. Doch solche günstigen Voraussetzungen lagen in einer um das slawische Tschechentum garnierten Sendungsidee überhaupt nicht vor; denn Masaryk wollte keine Autokratie, sondern eine Demokratie; keine Orthodoxie, sondern Profanisierung; kein Volkstum, sondern die pluralistische Gesellschaft. Um sich von der Gefährlichkeit des russischen Panslawistentum zu entfernen, glaubte Masaryk die nach dem russischen Unterrichtsminister Uwarow zum panslawistischen Dekalog erhobene Trintität durch die Hinzunahme westeuropäischen Ideengutes unschädlich machen zu können. 23)
Der Unübertragbarkeit des russischen Panslawismus auf den europäischen Raum glaubte Masaryk entgangen zu sein, indem er in einer bei ihm schon nicht mehr verwunderlichen Kühnheit bemerkt: "EBENSO ZWANG ICH DURCH ANGELSACHSENTUM DEN SLAWISCHEN ANARCHISMUS IN MIR NIEDER". 24)
Eine Ideologie kann gewiß mehrere Ideengehalte in sich vereinigen. Doch was Masaryk an Ideen, Theorien und politischen Absichten zusammenfließen lassen wollte, mußte als Staatsbegründung schließlich ein untauglicher Versuch bleiben.
Der russische Panslawismus des 19. Jahrhunderts verträgt freilich nicht nur keine Übertragung in andere Länder - er ist ja auch in Rußland selbst gescheitert. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es, wie Fedor Stepun sehr umfassen beschreibt, in Rußland vier Erneuerungsbewegungen, eine davon war der Panslawismus. Während jedoch drei dieser Bewegungen als Reformgruppen angesehen sind, die Rußland nach englischem, französischem und deutschem Vorbild in einem Zustand der industriegesellschaftlichen Modernisierung hineinführen wollten, war es das erklärte Ziel des Panslavismus, das alte Rußland vor westeuropäischen Vergiftungen zu bewahren.
Die westeuropäischen Ideen kamen "bereits kritisch zersetzt und sündenbelastet nach Rußland", wie Fedor Stepun beklagt. 25)
Und auch die Lehre von Marx erschien zuerst ein Produkt zu sein, das man aus Westeuropa nach Rußland transportiert hatte. Jules Monnerot wies schon darauf hin, daß 1917 der "russische Bolschewismus wie eine Verwestlichung Rußlands" in Erscheinung getreten wäre. 26)
Doch bald sollte sich zeigen, daß der Marxismus-Leninismus von Frankreich nur das Pathos der Revolution, von England die Marxsche Kapitalismuskritik und von Deutschland den philosophischen Materialismus übernommen hatte. Das war dann freilich nur noch eine Perversion des Anliegens der russischen Reformgruppen am Vorabend des Ersten Weltkrieges.
Was stattdessen zu einer Symbiose in Rußland nach 1917 zusammenwuchs, war das Bündnis der autokratischen und orthodoxen Ideologie des Marxismus-Leninismus und des auf gleichen Grundlagen beruhenden Ideenkonzentrats des Panslawismus. Durch das Medium der weltrevolutionären Strategie und Taktik des Marxismus-Leninismus begünstigt, kam der Panslawismus hierdurch nahe an die Masaryksche Prophetie heran, ihm werde die Zukunft Europas gehören.
In ihrer etwas über siebzigjährigen Geschichte konnte die Tschechoslowakei von der durch Masaryk erweckten slawischen Kultur keinerlei staatsintegrierenden Impulse empfangen, sondern nur innerstaatliche Konflikte auslösen. Das Feindbild des Pangermanismus nützte der Tschechoslowakei daher überhaupt nichts.
Mobilisierende Affekte löste hingegen das Feindbild aus, welches Masaryk gegen Österreich und Deutschland geschnitten hatte. ...
aber auf Haß und Feindbildern kann man keinen eigenen Staat errichten.
Sein verheerendes Wort, in welchem er die historische Sinngebung der Tschechoslowakei erblickte: "SICH ENTÖSTERREICHERN, DAS BEDEUTET, DEN SINN FÜR STAAT UND STAATLICHKEIT, FÜR DIE DEMOKRATISCHE STAATLICHKEIT GEWINNEN", ist deshalb von einer unüberbietbaren staatsmännischen Ahnungslosigkeit. 27)
Gegen Ende unseres Jahrhunderts kann man als Ergebnis der von Masaryk ausgerufenen Ausräuberungskampagne gegen Österreich festhalten: die von Masaryk 1918 im Stich gelassene Republik Österreich Karl Renners hat wieder einen bedeutenden Platz in der europäischen Staatenwelt eingenommen, TSCHECHEN UND SLOWAKEN HABEN ALLEN ANLASS, MASARYK ZU VERFLUCHEN, WEIL ER IHNEN IN SEINER NATIONALISTISCHEN BESSENSENHEIT EIN TRAURIGES STAATSSCHICKSAL AUFGEBÜRDET HAT. Und das Österreichertum als Lebensart und freiheitliches Staatsbewußtsein, das Masaryk einem Prozeß der Entäußerung ausgeliefert sehen wollte, hat heute einen geradezu mythischen Glanz, früher viel geschmäht, noch mehr besungen und heute aufs neue bewundert.
Das ist Österreichs Gang durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden.
MASARYKS LEBENSWERK HINGEGEN IST ZERRONNEN. SEIN SCHEITERN ZEIGTE, DASS EIN STAAT FESTGEFÜGT IST, WENN ER AUF TRADITIONEN UND ETHNISCHEN WIE RELIGIÖSEN GEMEINSAMKEITEN BERUHT, ABER NICHT, WENN ER AUF DURCH HASS ERZEUGTE ANTIBILDERN WIE FRAGWÜRDIGEN THEORETISCHEN UND IDEOLOGISCHEN KONSTRUKTIONEN - UND AUSLÄNDISCHEN BEZIEHUNGEN - AUFGEBAUT IST. Die große Arglist Masaryks war es freilich, daß ihm der Aufbau der Legende gelungen war, sein gesamtes politische Handeln sei der vornehmste Ausdruck der humanistischen Philosophie Europas. Wie er sich in enthüllender Weise gelegentlich selbst in seinem Nimbus dabei erblickte, bekennt er: "Heute sehe ich, daß man auch durch Haß bekannt und eine Autorität wird". 28)
Offenbar ist der Haß und der dadurch bei Anhängern erzeugte blinde Gehorsam die psychologische Voraussetzung um eine "Erwecker-Politik" zu betreiben und auf die Denkart der Menschen zu wirken. Politische Ausarbeitungserfolge mögen sich für kurze Zeit einstellen, wenn man sich eine solche Strategie der emotionalen Mobilisierung zu eigen macht. Unser Jahrhundert kennt nicht wenige Tragödien, dadurch daß Lenin, Hitler, Stalin und auch Masaryk den Fluß des historischen Geschehens gelenkt und beschleunigt haben.
Sollte indessen noch ein Verständnis für Haß vorliegen, mit dem Masaryk Österreich verfolgte, SO ZEIGTEN SEINE GEHÄSSIGKEITEN GEGEN DEUTSCHLAND, DASS FÜR IHN DER HASS SCHLICHTWEG EINE ERKENNTNISLEITENDE KATEGORIE SEINES DENKENS GEWESEN IST. Seine geradezu krampfhaften Versuche, die "Wiedergeburt" des Tschechentums in den Rang einer "Weltfrage" zu erheben, mußten IHN ZUM SOZIOLOGISCHEN UND GESCHICHTSPHILOSOPHISCHEN WINKELADVOKATEN werden lassen. Er mußte seine Argumentationskette zur Begründung der Renaissance des Tschechentums gleichsam beim Schmied anfertigen lassen, um dann eine wissenschaftliche Bankrotterklärung abzugeben: "meine gesamte publizistische Arbeit und meine Werke verfolgten das Ziel, unsere Nation sozusagen dem Organismus der Weltgeschichte und -politik einzufügen." 29)
DIE TSCHECHOSLOWAKEI WAR KEIN PRODUKT DER SEHNSUCHT DER TSCHECHEN UND SLOWAKEN, SONDERN WURDE VON MASARYK UND BENESCH MIT DEN MITTELN DER POLITISCHEN AGITATION KONSTRUIERT. Der Pangermanismus, das Feinbild, erkannte nach Masaryk kein Selbstbestimmuhngsrecht der Völker an. Was Masaryk freilich den nichttschechischen Minderheiten in seinem Staat auch vorenthalten hat.
Er warf den Deutschen vor, daß sie das Naturrecht ablehnten und es durch das historische Recht ersetzten. 30)
Aber er selbst berief sich doch bei dem Vorrecht der Tschechen, einen Staat unter ihrer Führung zu begründen, ja gleichfalls auf das historische Recht. Als die Sudetendeutschen mit ihrem Minderheitenschicksal im tschechisch dominierten Staat ihre Unzufriedenheit äußerten, sprach der Selbstbestimmungstheoretiker Masaryk von "SEPARATISTISCHEN VERSUCHEN". Und seine Urteile über Gestalten der deutschen Geschichte zeigen eine IDEOLOGISCH VERRANTE BÖSARTIGKEIT: "Richard Wagner ist eine geniale Synthese von Dekadenz und Preußentum" für ihn. Den an sich von Masaryk geschätzen deutschen Philosophen Leibniz sieht er von "pangermanistischen Chauvinisten" verleumdet, die in seinen humanitären Bestrebungen nur "die Wirkung des in Leibniz fließenden slawischen Blutes" erkennen wollen. 31) Nach Masaryk leiden die Deutschen an einer diabolischen Gegensätzlichkeit, wie sie nach seiner ungeheuerlichen Meinung durch Bethoven und Bismarck verkörpert wird. 32)
UM SEIN POLARES WELTBILD IN EINER IDEOLOGISCH BRAUCHBAREN SCHLACHTORDNUNG ZU HALTEN, WAR ER AUSSERSTANDE, AUS WISSENSCHAFTLICHER REDLICHKEIT GEBOTENE UNTERSCHEIDUNGEN VORZUNEHMEN. LETZTLICH ERWEIST SICH SEINE PHILOSOPHIE ALS EIN UNVERDAULICHES GERICHT AUS TSCHECHISCHER RASSENIDEOLGIE UND ROMANTISCHEN DEMOKRATIEVORSTELLUNGEN, DEREN HINTERGRUND DAS PERSÖNLICHKEITSBILD VON MASARYK SEHR BELASTEN MUSS.
Die Siegermächte England, Frankreich und die USA waren ursprünglich nicht der Meinung, daß Österreich zerschlagen werden soll. Sie sahen in diesem Vielvölkerstatt vielmehr eine notwendige Ordnungsmacht im Donauraum und eine ausgleichende Kraft in Mitteleuropa. Karl Renner schildert seine Enttäuschung, die 1918 bei ihm eintrat, als er von der Wühlarbeit Masaryks im westlichen Ausland erfahren mußte. Masaryk erklärte ja selbst, daß er bei seinen guten Kontakten mit Präsident Wilson und Clemenceau vor allem habe darauf hinweisen müssen, daß es notwendig sei, Österreich-Ungarn zu zerschlagen. 33)
SOLCHE SÄTZE ENTSPRINGEN DER MANIER EINES GEHEIMAGENTEN, DER BEI AUFTRAGGEBERN UNENTBEHLRLICH BEDEUTSAMKEIT UNTERSTREICHEN WILL. MASARYK GESTEHT IN SEINEN ERZÄHLUNGEN SELBST EIN, DASS ER SICH 1914 SOFORT MIT SEINEN ENGLISCHEN FREUNDEN WICKHAM STEED UND SETON-WATSON ZUR PLANUNG DER ZERSTÖRUNG ÖSTERREICHS IN HOLLAND IN VERBINDUNG GESETZT HABE. UND ER RÄUMT AUCH EIN, DASS ER SCHON VOR DEM AUSBRUCH DES ERSTEN WELTKRIEGES MIT DEM AMERIKANISCHEN INDUSTRIELLEN CRANE ZUR ORGANISATION EINER SLAWISCHEN UMSTURZTAKTIK IN DER DONAUMONARCHIE ZUSAMMENGARBEITET HAT. CRANE WAR ES DANN, DER IHM DAS GEHÖR VON WILSON VERSCHAFFT HAT.
AM ANFANG DER TSCHOSLOWAKEI STAND DAHER NUR EINE FRAGWÜRDIGE STAATSPHILOSOPHIE MASARYKS, ZUR GEBURTSSTUNDE DER TSCHECHOSLOWAKEI STAND AUCH DER VERRAT. Nur durch die damit verbundenen Beziehungen konnte auf der Konferenz in St. Germain die entwürdigende Situation entstehen, daß Karl Renner, der Leiter der österreichischen Verhandlungsdelegation, auf dem Platz der Besiegten für alle Schuld der Donaumonarchie verantwortlich sein sollte, während die Vertreter der neugegründeten Tschechoslowakei bereits an der Seite der Sieger gesessen haben.
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Anmerkungen:
1) Jacques Hannak, in: Karl Renner, Mensch und Gesellschaft, Grundriß einer Soziologie, Wien 1952, S. 12
2) Karl Renner, Österreich vor der Ersten zur Zweiten Republik, Wien 1953, S. 212
3) Thomas G. Masaryk, Die Weltrevolution, Berlin 1925, S. 463
4) Thomas G. Masaryk, a.a.O:, S. 462
5) Karl Renner, Mensch und Gesellschaft, Wien 1952, S. 218
6) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 460
7) Zit. Nach Wenzel Jaksch, Patriot und Europäer, München 1967, S. 13
8) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 461
9) Oskar Böse/Rolf-Josef Eibicht: Die Sudetendeutschen, München 1989, S. 49
10) Georg von Rauch, Rußland: Staatliche Einheit und nationale Vielfalt, München 1953, S. 173/174
11) Erwin Hölzle, Die Revolution der zweigeteilten Welt, Reinbek 1963, S. 107
12) Karel Capek, Masaryk erzählt sein Leben, Berlin o.J., S. 56
13) Vgl. Jürgen Busche, Welt-Orientierung durch Geschichte, Zum Tode von Eugen Lemberg, in: FAZ, 5. Januar 1977
14) Karel Capek, a.a.O., S. 134
15) Karel Capek, a.a.O., S. 351
16) Jacques Hannak, in: Karl Renner, Mensch und Gesellschaft, S. 11
17) Heinz Fischer (Hrsg.): Karl Renner, Portrait einer Evolution, Wien, Frankfurt, Zürich 1970, S. 47
18) Vgl. Alfred Payrleitner, Tschechen und Österreicher, Gar nicht so ferne Verwandte, in: Das Parlament, Nr. 36, 28. August 1992
19) Karel Capek, a.a.O., S. 110
20) Karel Capek, a.a.O., S. 120
21) Karel Capek, a.a.O., S. 124
22) Karel Capek, a.a.O., S. 344/345
23) Vgl. Georg von Rauch, a.a.O., S. 76/77
24) Karel Capek, a.a.O., S. 134
25) Fedor Stepun, Der Bolschewismus und die christliche Existenz, 2. Aufl., München 1962, S. 190 vgl. auch Lothar Bossle, Beethovens Sieg über Lenin, Paderborn 1992, bes. S. 91ff.
26) Jules Monnerot, Soziologie des Kommunismus, Köln-Berlin 1952, S. 9
27) Karel Capek, a.a.O., S. 349
28) Karel Capek, a.a.O., S. 99
29) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 335
30) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 351
31) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 354
32) Thomas G. Masaryk, a.a.O., S. 353
33) Karel Capek, a.a.O., S. 142<<