12.10.2006 17:31 Uhr
Behördenversagen
"Die Tat war nicht absehbar"
Erst ein Fall von Kindsmord in Bremen, einen Tag später ein ähnlicher Fall in München. Das Sozialreferat steht unter Druck: Hat die Behörde versagt?
Von Sven Loerzer
Kevin war ein ganz normales Kind, heißt es jetzt, in der städtischen Krippe gab es weder sichtbare Zeichen für Verwahrlosung noch gar für Misshandlungen.
Die Mutter wirkte fürsorglich, sie habe alle Kinderarzttermine wahrgenommen und sich an der Elternarbeit der Krippe beteiligt. Und doch hat sie den kleinen Kevin nun durch Messerstiche beinahe getötet.
Nun steht die städtische Sozialarbeit vor einer bangen Frage: Hat sie versagt, wie es offenbar bei den Behörden in Bremen der Fall war? Erst ein Fall Kevin in Bremen, dann, einen Tag später, ein Fall Kevin in München, nur mit dem Unterschied, dass der Junge knapp überlebt hat?
Die Alkoholprobleme der Frau waren bekannt
Das Münchner Sozialreferat steht unter Druck. Es verweist darauf, dass die 46-jährige Mutter keineswegs als gewalttätig bekannt war. "Die Tat war nach den uns vorliegenden Unterlagen nicht absehbar", sagt die Vizechefin im Sozialreferat, Angelika Simeth. Ein Motiv für die Tat sei nicht ersichtlich, so Simeth, offenbar habe es sich um "eine Kurzschlusshandlung nach exzessivem Alkoholgenuss" gehandelt.
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Die zuständige Bezirkssozialarbeiterin im Sozialbürgerhaus Berg am Laim wusste wohl von Alkoholproblemen der Frau, aber nicht von dem gravierenden Ausmaß ihrer Sucht. Zuletzt hatte sich die Mutter Ende August bei der Bezirkssozialarbeiterin gemeldet, um zu berichten, dass sie wieder einen 400-Euro-Job gefunden habe.
Vor vier Jahren hatte die Mutter dreier Söhne nach SZ-Informationen erstmals Hilfe benötigt, dabei sei es um den zweitältesten, heute 17-jährigen Sohn, gegangen.
Ein Bruder war im Heim
Wegen schwerwiegender Erziehungs- und Schulprobleme kam er im April 2003 mit Zustimmung der Mutter in ein Heim. Im März 2004 wurde Kevin geboren, Vater ist der Lebensgefährte der Mutter, der arbeitslos war und Alkoholprobleme hatte.
Auch bei der Mutter hielt die Sozialarbeiterin immer wieder fest, "dass sie nach Alkohol roch" und ambulante Angebote der Suchtkrankenhilfe besuchte. Die Familie gehörte zu den 665 Münchner Haushalten mit Kindern, die wegen Alkoholproblemen von Sozialarbeitern betreut werden.
Dreimal pro Woche kamen nach der Geburt die Kinderkrankenschwestern vom Gesundheitsreferat zum Hausbesuch. Dabei handelt es sich um ein Unterstützungs- und Beratungsangebot für mit Problemen überforderten Familien, das das Entstehen von Gewalt und Vernachlässigung verhindern soll.
"Keinerlei Auffälligkeiten" bei dem Kind
Bei drohender Gefährdung wegen Suchtproblemen erstellen die Sozialarbeiter eine Gefährdungsanalyse und informieren den unmittelbaren Vorgesetzten. Im regionalen Fachteam des zuständigen Sozialbürgerhauses werden dann die geeigneten Jugendhilfemaßnahmen besprochen, die in einem Hilfeplan festgeschrieben werden.Ist das Kindeswohl nur latent gefährdet, wird versucht, ein Hilfenetz aufzubauen.
Kevin bekam deshalb einen Platz in einer Krippe, die auf den familiären Hintergrund sowie den Hilfeplan hingewiesen wurde und den Kontakt zur Bezirkssozialarbeiterin hielt.
Nach den bisherigen Erkenntnissen zeigte Kevin in der Krippe "keinerlei Auffälligkeiten", berichtet Angelika Simeth. "Familiengerichtliche Maßnahmen", wie eine Herausnahme des Kindes aus der Familie und die Unterbringung in einem Heim oder einer Pflegefamilie, seien daher nicht veranlasst worden.
(SZ vom 13.10.2006)
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/531/88443/