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Fortsetzung, Teil II:
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Das Geschichtsbild eines derart erfreulich unbefangenen Menschen ist vor- oder unwissenschaftlich, wenn man die Forderungen der heutigen Geschichtswissenschaft und ihr Pochen auf Mindestforderungen an Genauigkeit dagegenhält. Im Unterschied dazu gibt es Geschichtsbilder, die den Anspruch erheben, wissenschaftlich begründet zu sein. Schließlich kennen wir nicht nur die Geschichtsbilder von Einzelpersonen, sondern auch diejenigen von Gruppen, Großgruppen, Völkern und Nationen.
Wie entsteht ein Geschichtsbild? Sehr einfach: durch das Erzählen von historischen Ereignissen oder durch zusammenhängende Berichte vom Verlauf der Geschichte. Dabei spielt es eine wesentliche Rolle, wer von der Geschichte erzählt: Eltern, Verwandte, Schullehrer, Dozenten an den Universitäten, Politiker, Medienmoderatoren oder wortkundige Sachbuchautoren. Ein Geschichtsbild entsteht immer auch mit Rücksicht auf bestimmte Prägungen der jeweiligen Gegenwart. Wer nach 1945 aus seiner Heimat vertrieben wurde, der wird aufgrund der persönlichen Erfahrung eines grausigen Stückes Nachkriegsgeschichte ein anderes Geschichtsbild besitzen als etwa ein Rhein-Pfälzer, dem möglicherweise zur selben Zeit die Weinernte wichtiger war als das Weinen derjenigen, die aus der Heimat gejagt wurden.
Geschichtsbilder können mithin in einem beträchtlichen Ausmaß selbst das Ergebnis der Geschichte sein, das Ergebnis eines Geschichtsprozesses. Sie hängen in einem solchen Fall wesentlich vom Gegenwartsbewußtsein des einzelnen oder der Völker ab. Zu den Grundelementen eines Geschichtsbildes gehört deshalb auch die historische Selbsteinschätzung, das politische Selbstverständnis, gehören aber auch die Motive des Verhaltens und Handelns und ebenso die Rechtfertigungen, die man für die Gesamtheit der Zielsetzungen zur Verfügung hat. Für diese abstrakten Umschreibungen gibt es mehr als genug praktische Beispiele.
Haben wir ein Geschichtsbild?
Die Situation des Geschichtsunterrichts ist bei uns seit Jahrzehnten kurios. Daran haben wir uns so sehr gewöhnt, daß wir die gegensätzlichen Meinungen des Für und Wider hinsichtlich eines Geschichtsbildes als Normalzustand ansehen und sogar behaupten, es würde sich um das Nonplusultra einer wissenschaftlichen Erkenntnis handeln. Nach 1945 setzte ein offiziell verordnetes Bemühen um »Revision des Geschichtsbildes« ein. Gerhard Ritter, damals der große alte Mann der deutschen Geschichtsforschung, skizzierte 1948 den Bedarf mit dem Satz: »In solcher Lage wird das Bemühen deutscher Historiker um eine nüchterne, gründliche, nach beiden Seiten vorurteilsfreie Revision des herkömmlichen deutschen Geschichtsbildes zu einer unmittelbar politischen Pflicht.«
Mit diesem Satz wurde einerseits das bis 1945 gültige Geschichtsbild verworfen, dasselbe Geschichtsbild im übrigen, für das dieselben Historiker mitverantwortlich zeichneten, die nunmehr die Ärmel für seine Revision aufkrempelten, allen voran Gerhard Ritter selbst. Andererseits lag in dem Wort Revision keineswegs die Intention beschlossen, die Gültigkeit eines allgemeinen Geschichtsbildes überhaupt zu verwerfen. Trotzdem wurde von maßgeblicher Seite diese Revision bis zur völligen Ablehnung eines Geschichtsbildes überhaupt vorangetrieben. So heißt es etwa in einem besonders weit verbreiteten »Handbuch des Geschichtsunterrichts«, das erstmals 1956 erschien, in den folgenden Jahrzehnten viele Auflagen erlebte und noch immer als gültig angesehen wird: »Der Pluralismus unserer heutigen geschichtlichen Sichtweisen, die üblen Erfahrungen mit der Ideologisierung des Geschichtsunterrichts, die größere kritische Potenz der modernen Geschichtswissenschaft, die Skepsis gegenüber jeder Gesamtdeutung der Geschichte und nicht zuletzt unser wohl empfindlicher gewordenes pädagogisches Gewissen schließen ein allgemein verbindliches Geschichtsbild heute aus. Das mag hie und da beklagt werden, bleibt aber ein Faktum. Wo weder Philosophie noch Geschichtswissenschaft ein Gesamtbild der Geschichte vorlegen können, wäre es vermessen, wollte die Schule ein derartiges Ziel ansteuern.«
Deutlicher kann man die Notwendigkeit eines Geschichtsbildes kaum ablehnen. Wenige Seiten später aber heißt es in demselben Handbuch: »Es ist zu wünschen, daß das im Unterricht erworbene Wissen nach und nach zu einem geordneten Ganzen zusammenwächst. Damit ist ganz gewiß nicht ein perfektes, in sich abgerundetes Gesamtbild der Geschichte gemeint und auch nicht die Interpretation des Geschichtsverlaufs mit Hilfe handfester Leitlinien und Schemata. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als den Erwerb verläßlicher Kenntnisse und Vorstellungen vom großen Gang der Geschichte, von der Abfolge und Eigenart der Zeitalter, ihrem besonderen historischen Kolorit, den Wendepunkten und Umbruchzeiten.« Daß hier die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, sollte man dem Verfasser nicht ankreiden. Denn dieser Kurzschluß findet sich bei allen erklärten Gegnern eines Geschichtsbildes: daß sie nämlich nicht umhin können, mit einem wie auch immer gearteten Geschichtsbild zu operieren, wenn sie Geschichtsunterricht und ebenso Geschichtsforschung nicht mit einem stumpfsinnigen Anhäufen von Geschichtsmaterial verwechseln.
Deshalb sind auch in den Jahrzehnten nach 1945 in schöner Mehrgleisigkeit zahlreiche Bücher und Artikel erschienen, die ebenfalls von kompetenten Geschichtslehrern stammen und die in bewunderungswürdiger Naivität das »Geschichtsbild der Jugend« untersuchen, um festzustellen, wie verheerend es damit steht. Im wesentlichen wird zwar auf das lückenhafte Wissen und die zu einem Großteil auch katastrophale Unkenntnis von der Geschichte verwiesen, die sich bei vielen gründlichen Untersuchungen herausgestellt hat. Aber die Verfasser machen auch besorgt auf die Konsequenzen aufmerksam. So wird in einem Buch des »Deutschen Jugendinstituts«, das 1964 unter dem Titel »Das Geschichtsbild der Jugend« veröffentlicht wurde, vom »Mangel an Leitbildern« gesprochen, von der »Anpassung als genereller Leitidee, von der >Entstaltung<, vom Pluralismus, der Konstanz und dem Wechsel in den Vor- und Leitbildern der deutschen Jugend« als einer gegenwartsbezogenen Variante der historischen Sicht.
Karl Jaspers hatte 1951 entschieden die Ausformung eines deutschen Geschichtsbildes gefordert. Er stand damit in der Arbeitslinie all derjenigen, die sich nach 1945 der totalen Revision unseres Geschichtsbildes angenommen hatten. Etwas moderater wurde diese Notwendigkeit auch von der Kultusministerkonferenz verkündet. Ihre Empfehlung vom 17. Dezember 1953 lautete: »Der Geschichtsunterricht soll dem jungen Menschen helfen, ein eigenes Welt- und Menschenbild zu gewinnen sowie seinen Standort und seine Aufgaben im Geschehen zu erkennen. Die Einsicht in die Zusammenhänge vergangenen und gegenwärtigen Geschehens muß wissenschaftlich begründet und wertbestimmt sein. Sie soll sich nicht nur in Urteilsfähigkeit erweisen, sondern sich auch in Verantwortungsbewußtsein und Tatbereitschaft für Gesellschaft, Staat, Volk und Menschheit bezeugen.«
Das klingt nicht nur anspruchsvoll, sondern ist es auch in hohem Maß. Wichtig aber ist das Plädoyer für ein Geschichtsbild, das die »jungen Menschen« als Ergebnis des Unterrichts entwickeln sollten. Das geschah im selben Atemzug, da von so vielen, die sich für kompetent erklärten, ein »allgemein verbindliches Geschichtsbild« abgelehnt wurde. Dieser Verwirrung in Westdeutschland gegenüber war die frühere DDR von Anfang an stolz auf ihr »neues, fortschrittliches Geschichtsbild«. Da gab es kein Wenn und Aber, da gab es keine Zweifel im Unterricht und an den Universitäten. Im Staat der SED wurde das in sich geschlossene marxistisch-leninistische Geschichtsbild vermittelt.
Auf dieses marxistische Geschichtsbild muß in der heutigen Situation der Deutschen nicht näher eingegangen werden. Erheblich interessanter ist das westdeutsche Durcheinander in Sachen Geschichtsbild, das in den letzten fünf Jahrzehnten geherrscht hat - fast ein volles Halbjahrhundert geherrscht hat. Wie gesagt: Offiziell war bei uns, also in erster Linie im Geschichtsunterricht, ein allgemein verbindliches Geschichtsbild verpönt. Andererseits wurde in den Rahmenrichtlinien der Kultusminister als Ziel des Geschichtsunterrichts trotzdem ein geschichtliches »Gesamtbild«, also ein Geschichtsbild, anvisiert. Drittens schließlich hat es für niemanden, der sich mit diesem Thema befaßt hat, den geringsten Zweifel daran gegeben, daß trotz aller anarchischen Freudigkeit der Schulen, den Unterricht an ein jeweils eigenes Schulgeschichtsbuch zu binden, das sich von denen der Nachbarschulen unterschied, in Westdeutschland ein bestimmtes Geschichtsbild vermittelt wurde.
Wechsel der Systeme
Geschichtsschreibung und Geschichtsunterricht sind heute ein Politikum. Sie sind es nicht von sich aus, also ihrem Wesen nach. Das heißt auch, daß vor allem die Historiographie nicht unweigerlich in politischen Diensten stehen muß, obwohl gerade sie mit besonderer Vorliebe in Dienst genommen wird. Denn keine wissenschaftliche Disziplin läßt sich leichter in Dienst nehmen und manipulieren als die Geschichtswissenschaft. In den letzten einhundertfünfzig Jahren haben in Deutschland die politischen Systeme wiederholt gewechselt. Das nationale Erwachen der Völker hatte im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert der Geschichte ein außerordentliches Gewicht gesichert. Die Geschichte wurde als ein unüberbietbarer Garant und Beweis des Selbstwertes, der überragenden Eigenständigkeit jedes Volkes gewertet. Auf diese Weise entstanden die jeweiligen nationalen Geschichtsbilder. Sie lieferten auch die maßgebliche Rechtfertigung für das politische Selbstbewußtsein der Menschen und Völker.
Die national ausgerichteten Geschichtsbilder differenzierten sich noch zusätzlich in verschiedene Formen, in konfessionelle, konservative, nationalliberale oder sozialistische Geschichtsbilder. Der erwähnte Wechsel der politischen Systeme hat uns Deutschen nun nicht nur vier unterschiedliche Regierungsformen beschert, sondern auch entsprechende Geschichtsbilder. Wir hatten bis 1918 die Monarchie, dann folgte die liberalste Demokratie, die wir kennen, nämlich die Weimarer Republik. Sie wurde abgelöst von den zwölf Jahren des Nationalsozialismus und seinem Geschichtsbild. Anschließend herrschten vier Jahrzehnte lang, von 1949 bis 1989, in West- und Mitteldeutschland unterschiedliche Regierungssysteme und gegensätzliche Geschichtsbilder.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war es also keineswegs vorbei mit den indoktrinierten und indoktrinierenden Geschichtsbildern. Denn auch das demokratische Staatsgebilde in Westdeutschland verzichtete nicht darauf, im Geschichtsunterricht das parlamentarisch-demokratische System als höchstes historisches Ziel des fortschrittlichen Strebens nach der besten Lebensform zu propagieren. Daß der Staat über die Hebel der Kultusministerien seinem Einfluß die Wege bahnt, liegt zweifellos in seinem Interesse. Ob sich aber dieses Interesse der wissenschaftlichen Objektivität - und sagen wir ruhig: der Wahrheit unterordnet, ist eine ganz andere Frage.
Der Wechsel der Staatsformen bedeutete keinen totalen Wechsel der Geschichtsbilder, sieht man einmal vom marxistisch-leninistischen ab. Bei der jeweiligen Umwertung der historischen Sicht blieben zahlreiche Elemente der Geschichtsbilder, die bis dahin gültig waren, erhalten; sie wurden übernommen oder nur leicht variiert. Anderes wiederum wurde verworfen oder bewußt ausgeblendet. Am charakteristischsten dafür ist bei uns das nahezu völlige Versacken der spätmittelalterlichen Ostkolonisation ins Niemandsland des Vergessens nach 1945. Wenn sie überhaupt erwähnt wurde, dann im Zeichen eines frühdeutschen Imperialismus und krimineller Expansionsgelüste.
Generell muß man sagen, daß der Umwertung der Geschichtsbilder ein breites Spektrum fließender Manipulation zugrunde liegt. Das reicht von belanglos scheinenden Subjektivismen über verbogene, schiefe und verzerrte Darstellungen bis zu bewußter Falschmünzerei und krassen Lügen. Wer sich die Mühe macht, dieselben Personen oder Prozesse der Geschichte in ihrer Bewertung durch west- und durch mitteldeutsche Historiker in den Zeiten des SED-Regimes zu vergleichen, dem bleibt das Kopfschütteln nicht erspart. Und sofern er das Geschäft der Geschichte ernst nimmt, hat er alle Hände voll zu tun, um nicht tiefen Depressionen zu erliegen.
Lügen im Dienst der Wahrheit?
Gründliche Geschichtsforschung pocht auch heute noch darauf, daß aller Anfang der Historiographie auf der Feststellung von Tatsachen beruht. Diejenigen Sprecher, die sich der politisch geprägten Volkspädagogik verschrieben haben, messen der Feststellung von Tatsachen einen anderen Stellenwert zu. Wenn überhaupt, dann dient ihnen der Besitz von Tatsachen nur dazu, sie zu manipulieren. Sie nehmen dabei für sich in Anspruch, daß ihr Appell an die Tatsachen den Anschein erweckt, als wäre die Einstellung genauso korrekt wie die Unumstößlichkeit der Tatsachen. Die beste Aussicht auf Erfolg besteht dabei in dem Verfahren, Informationen zu unterschlagen oder den Zugang zu ihnen einfach zu blockieren. Es gibt bei uns in Deutschland ein Gesetz, das es aus Gründen einer befürchteten Volksverhetzung untersagt, den wesentlichsten aller Schuldsprüche, der auf den Deutschen lastet - nämlich den Komplex der Konzentrationslager und die Judenverfolgung -, auch nur in der Fragestellung aufzugreifen. Wer dagegen verstößt, der riskiert es, aus der Sphäre der garantierten wissenschaftlichen Forschungsfreiheit in die existenzbedrohende Sphäre des Staatsanwalts zu geraten.
Für das Verzerren des Geschichtsbildes gibt es bei uns wahre Sturzbäche von Beispielen. Am deprimierendsten sind diejenigen, an denen sich die Vorherrschaft politischer Opportunität zeigt. Hermann Eich hat in einem Buch über historische Schuld- und Freisprüche einen besonders krassen Fall geschildert: »Zu Beginn der siebziger Jahre einigte sich nach vielen Anläufen eine deutsch-polnische Schulbuchkommission auf gemeinsame historische Empfehlungen. In der Bundesrepublik Deutschland stießen sie auf Widerspruch. Das bayerische Kultusministerium meinte, der Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung zuliebe sei von deutscher Seite >aus Tagesopportunität< einer Unterdrückung von Tatsachen zugestimmt worden. So sollte zur Schonung Warschaus das geheime Zusatzabkommen im Hitler-Stalin-Pakt über die Teilung Polens vom Herbst 1939 unerwähnt bleiben. Mit Rücksicht auf den sowjetischen Nachbarn, der jede Zeile der deutsch-polnischen Vereinbarung mit Argwohn las, blieb in den Empfehlungen auch die Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn unerwähnt. Daß Polen im Osten Gebiete an die Sowjetunion abtreten mußte, sollte ebenfalls übergangen werden.
Die deutschen Bearbeiter der zwischen Warschau und Bonn vereinbarten Empfehlungen nannten sie 'einen Ausdruck politischen Wollens, nicht aber wissenschaftlicher Erkenntnisse'. Diese Definition des Mainzer Professors Josef Joachim Menzel besagte, daß es um einen Wiedergutmachungsakt ging, eine historische Reparation für das Leid also, das Deutsche über Polen gebracht haben.
Auf polnischer Seite verstand man nicht, warum die deutschen Schulbücher nicht sofort den Empfehlungen entsprechend korrigiert wurden. Dem Hinweis, daß Schulbücher in der Bundesrepublik Deutschland Ländersache sind, Landesregierungen sich diese Bücher also nicht von der Bundesregierung vorschreiben lassen, hielt man in Warschau für eine Ausrede. Das deutsch-polnische Kulturabkommen verzögerte sich, verpflichtete bei seinem Zustandekommen im Jahre 1976 dann aber beide Regierungen, den Vereinbarungen Geltung zu verschaffen. Die von der CDU und CSU gebildeten Landesregierungen begründeten ihre Weigerung damit, daß polnischen Geschichtsvorstellungen in unvertretbarer Weise nachgegeben worden sei. Eine Prüfung polnischer Schulbücher ergab im Jahre 1981, daß die Empfehlungen bis dahin ignoriert worden waren. In Warschau nahm man sich also Zeit. Ungeduld wurde nur gegenüber dem deutschen Schulbuchpartner an den Tag gelegt.«
Interessant an diesen und den vielen anderen Beispielen, die man fast endlos aneinanderreihen könnte, ist nicht nur die unterschiedliche Sicht der Deutschen und der Polen. Nicht weniger interessant ist die Voraussetzung, die für die Gesprächspartner der Schulbuch-Kommission als selbstverständlich angenommen wurde: daß man sich auf ein gemeinsames Geschichtsbild einigen könnte. Was ja nichts anderes heißt, als daß die Notwendigkeit eines solchen Geschichtsbildes anerkannt und als unerläßlich eingeschätzt wurde.
Irrweg und Erbschuld
Lassen wir einmal sämtliche Varianten beiseite, die sich in den Geschichtsbildern der deutschen Schulbücher und bei unseren Geschichtswissenschaftlern nachweisen lassen. Sehr viel einfacher ist es nämlich, klarzustellen, worin diese Geschichtsbilder übereinstimmen. Da entsteht, in groben Zügen, etwa folgendes Bild: Ein erster, grundsätzlich verbindlicher Rahmen wurde nach 1945 von den Siegeralliierten durch das Prinzip der Umerziehung der Deutschen abgesteckt. Unsere gesamte Geschichte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zu einem Irrweg erklärt. Diesem Urteilsspruch gliederte sich die erwähnte »Revision des Geschichtsbildes« unmittelbar nach 1945 ein. Seitdem stampfen wir Deutschen vor allem im offiziellen und öffentlichen Bereich geduldig, mit der melancholischen Schwermut von Rindern, über die von den Siegern vorgezeichneten Wege unserer Geschichte.
Hauptkategorie war dabei das Wort von der deutschen Schuld, der Kollektivschuld oder Erbschuld. Die Geschichtsschreibung legt sich aber selbst den Strick um den Hals, wenn sie sich dem Diktat moralischer Richtweisung beugt. Wenn überhaupt, dann sind Werturteile erst nach der faktenbezogenen Klarstellung der Sachverhalte aufgrund zuverlässiger Informationen am Platz. Deshalb hat auch eine Kategorie wie diejenige von der »Ewigen Schuld« Deutschlands und der Deutschen im neuen Geschichtsbild nichts zu suchen. Michael Wolffsohn hat dies jüngst auf die kürzeste Formel gebracht: »Schuld wird nicht durch Gene vererbt.« Das zwingt zu erheblichen Konsequenzen sowohl für das neue Geschichtsbild als auch für das Verhalten in der aktuellen Politik; sie stellen sich im übrigen zwangsläufig ein. Mit der Politik im Büßergewand, für die Kanzler Brandt und die sozialliberale Koalition der siebziger Jahre ein unvergeßliches Beispiel oder vielmehr Schauspiel geliefert hat, ist es ein für allemal vorbei. Das hat nichts mit einer Verniedlichung der Geschehnisse vor einem halben Jahrhundert zu tun. Es hat mit der Sachlichkeit historischer Arbeit zu tun.
Unterschlagungen
Die Experten im Auffinden deutscher Untugend gingen in ihrem Eifer so weit, daß sie die Geschehnisse, die sie anprangerten, allein schon deshalb begrüßt und notfalls auch konstruiert und erfunden haben, um sie verdammen zu können. Wie sollte man anders die vielen Fälschungen und Lügen erklären, die sich in unserer Zeitgeschichtsforschung finden? Auf der Krimkonferenz in Jalta im Februar 1945 bezifferte Stalin die sowjetischen Kriegstoten mit fünf Millionen. Ein knappes Jahr später, im Nürnberger Prozeß, wurde diese Zahl von den Russen auf sieben Millionen erhöht. Kurze Zeit später galt dann plötzlich die Zahl von zwanzig Millionen Toten als verbindlich; sie wurde immer wieder genannt. Bis heute ist der Verdacht nicht beseitigt, daß dabei - wenn diese Zahl wirklich zutreffen sollte - die von der sowjetischen Führung in den dreißiger Jahren ermordeten Russen dazu gezählt wurden. In deutschen Schulbüchern finden sich im übrigen noch höhere Zahlen, und dies unbeschadet der Tatsache, daß inzwischen in sowjetischen Veröffentlichungen die Statistik der Kriegsverluste erneut um viele Millionen gesenkt wurde.
Ein anderes Beispiel ist charakteristisch für unser zutiefst konfuses Verhältnis zu den Polen. Die Zeit der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg wurde zum Teil zu Recht und zum Teil aus eindeutig politischen Gründen, die im wesentlichen mit der beabsichtigten Annexion der deutschen Gebiete jenseits der Oder und Neiße zusammenhängen, als Jahre der schlimmsten Greuel geschildert. Selbst die Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn wurde von offizieller polnischer Seite wider besseres Wissen den Deutschen angelastet. Dabei wurde aber das Schicksal der achtzehntausend polnischen Soldaten und Offiziere, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, vollständig unterschlagen.
Ihre Behandlung hielt sich nicht nur im allgemeinen korrekt an die Bestimmungen der Genfer Konvention über die Kriegsgefangenen, sondern ging beträchtlich darüber hinaus. Den polnischen Offizieren wurde sogar gestattet, eigene Lager-Universitäten einzurichten und sich auf diese Weise fortzubilden, und zwar bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Alfred Schickel hat die deutsche Öffentlichkeit durch seine Arbeiten mit als erster wieder an diese Tatsachen erinnert. Er schreibt unter anderem: »Zu den nachmalig prominenten Dozenten dieser Hochschulen gehörte auch der spätere polnische Außenminister Adam Rapacki, der seinen Kameraden im Offizierslager Dössel (bei Warburg/Westfalen) schon damals seine Vorstellungen von einem künftigen sozialistischen Volkspolen vortrug. Von ihren deutschen Bewachern blieben ihnen zahlreiche als 'anständige Menschen' in Erinnerung. Manche deutsche Gefangenenseelsorger spendeten ihnen nicht nur geistlichen Trost, sondern suchten ihnen auch noch eine zusätzliche Freude zu machen, indem sie die Gottesdienste in polnischer Sprache abhielten, was ihnen eigentlich untersagt war und auch gelegentlich Rügen der vorgesetzten militärischen Stellen eintrug.«
Die Sowjetführung hatte beabsichtigt, durch Ermordung der polnischen Offiziere die polnische Elite möglichst auszurotten. Daß dies nicht gelang, ist im wesentlichen der Behandlung der kriegsgefangenen Offiziere durch Deutschland zu verdanken. Ein polnischer Kapitänleutnant, der vom Alltag des Lagerlebens in den zwölf deutschen Offizierslagern für die Polen berichtet und die Universitäten, Sportplätze, Bibliotheken, Orchester und Prozessionen über die großzügigen Lagergelände an hohen kirchlichen Feiertagen erwähnt hatte, faßte das Ergebnis in dem Satz zusammen: »Wir sollten der göttlichen Vorsehung dankbar dafür sein, daß wir nicht die Gefangenen der Russen waren.« Anders gesagt: Polen hat das Überleben seiner Elite dem Deutschland des Dritten Reiches zu verdanken. Neben Außenminister Rapacki waren unter anderem auch der erste Verteidiger von Warschau, General Julius Rómmel, Professor Wasilkowski, der Rektor der Warschauer Universität . nach dem Krieg und General Tadeusz Bór-Komorowski, der den Warschauer Aufstand geleitet hatte, in deutschen Kriegsgefangenenlagern. Sie bestätigten ebenfalls die erstaunlich zuvorkommende Behandlung. Hitler hatte übrigens eigens angeordnet, General Bór-Komorowski aufgrund seiner Tapferkeit wie einen Ehrengefangenen zu respektieren. Warum erwähnt diese Tatsachen kein einziges deutsches Geschichtsbuch?
Recht auf Objektivität
Werte, Normen, Beziehungsmarken oder wie man die Koordinaten nennen will, die für den einzelnen unerläßlich sind, wenn er nicht fähig ist, allein mit seinen An- und Ausfällen des Ichs fertig zu werden, mit seinem eigenen Ungenügen oder gar seiner inneren Leere, die er entweder sinnvoll oder in mehr oder minder geschmackvoller Weise zu füllen versucht - hinsichtlich dieser Koordinaten also beruft sich der parlamentarisch-demokratische Staat auf die Wahrung der Freiheit der Person, auf seine Liberalität und lehnt es deshalb ab, inhaltlich etwas zu den »Werten« zu sagen. Seine Zurückhaltung, die er als »Toleranz« ausschildert, ist so entschieden, daß er sich dem Verdacht aussetzt, er sei der Meinung, es gäbe solche Werte, Normen, Beziehungsmarken nur in den Gebetbüchern und den Anthologien von »Spruchweisheiten der Völker«. Die intensivste Verbindung zwischen dem Staat und dem Bürger bildet in Deutschland die Steuergesetzgebung, der Wehrdienst und die Straßenverkehrsordnung.
Nun sind die früheren Identifikationsmuster zwischen dem Staat und seinen Bürgern, zwischen dem Volk und dem Vaterland samt seiner Geschichte, ist eine Vokabel wie »Deutschsein« bestimmt kein Metaphysikum. Was wir von der Geschichte wissen müssen, ist sicherlich nicht dazu da, um unsere Selbstgefälligkeit zu hätscheln. In diesem Punkt haben wir den Nationalstolz des neunzehnten Jahrhunderts hinter uns. Geschichtsschreibung heißt also auch nicht, Erinnerungen nachzuträumen, die wir gerne gehabt hätten.
Gerade deshalb ist für das neue Geschichtsbild nichts wichtiger als der radikale Bruch mit dem Grundsatz der Selbstgeißelung in der historischen Arbeit. Das Flagellantentum ist uns seit Jahr und Tag von allen möglichen parteipolitischen Sprechern, von unseren Experten in der »Trauerarbeit« und vom Bundespräsidialamt nahegelegt worden. In dieser Frage gibt es heute keine Vermittlung, keine Konzessionen. Hier ist in Zukunft nicht einmal ein Entweder-Oder möglich. Uns sollte dabei ein Mann wie Mahatma Gandhi einiges lehren, der doch als Verkörperung der Absage an Gewalt und Überheblichkeit gilt. Gandhi hatte festgestellt: »Ich sähe Indien lieber zu den Waffen greifen, als daß es ein hilfloser Zeuge seiner eigenen Entehrung würde und bliebe.« Waren wir nicht seit 1945 lange genug Zeugen sowohl unserer eigenen Entehrung als auch einer beschämenden Selbstaufgabe?
Die verantwortlichen Politiker, die bei ihren Entschlüssen mit einer Vielzahl offener oder verkappter Pressionen fertig werden müssen und deshalb genötigt sind, Kompromissen zuzustimmen, haben es schwerer als die Historiker. Gerade deshalb aber sind Historiker dazu verpflichtet, strikt zu trennen zwischen unumstößlichen Tatsachen und den Konsequenzen, die von den Politikern daraus gezogen werden - strikt zu trennen auch zwischen Recht und Politik, und das heißt zunächst einmal: dem Recht zur Objektivität. Wer diese beiden Bereiche nicht auseinanderhält, sondern miteinander vermischt, der verewigt die Manipulation der Geschichte.
Das Recht ist eine Richtmarke, die den Schwankungen und Wellenschlägen der Tagespolitik nicht ausgesetzt ist, die also auch unberührt bleibt von den wechselnden politischen Interessen. Damit unterliegt insbesondere das Völkerrecht und speziell das Recht der Selbstbestimmung weder dem Zugriff der Politiker noch dem der Historiker. Nichts hat zur Zeit klarer bewiesen als der Golfkrieg und die geschlossene Ablehnung des irakischen Zugriffs auf Kuwait durch die Vereinten Nationen, daß am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts dem Völkerrecht mehr Gewicht zukommt als dem Raubgriff eines mächtigeren Staates. Daran haben sich auch die Historiker bei ihrer Arbeit zu halten, vor allem, insofern sich das Recht auf die Gestaltung des Geschichtsbildes auswirkt, ebenso wie politisches Handeln heute den rechtlich begründeten Notwendigkeiten unterliegt.
Die deutschen Ostgebiete
Was sich dabei möglicherweise abstrakt und allzu theoretisch gibt, das hat beachtliche Konsequenzen für die Bewertung der deutschen Situation nach der Zusammenführung West- und Mitteldeutschlands im Jahre 1990 - beachtliche Konsequenzen vor allem für die historische Bewertung der Abmachungen der »Zwei-plus-vier-Gespräche«, bei denen sich die deutschen Verhandlungspartner dazu nötigen ließen, auf die deutschen Ostgebiete und damit auf mehr als ein Viertel des Territoriums Deutschlands zu verzichten.
Unter welchem Zwang dieser Regelung zugestimmt wurde, wird sich in den nächsten Jahren noch deutlicher herausstellen, als es zur Zeit der Fall ist. Auf unser Geschichtsbild wird dies jedoch weniger Auswirkungen haben, als im Augenblick zu befürchten ist. Dafür sorgt der Veränderungs- und Auflösungsprozeß der östlichen Staaten, der seit Jahren vor sich geht. Nicht ohne eine gewisse Genugtuung sind die Sezessionsbemühungen der baltischen Staaten zu verfolgen, die bis an den Rand der Existenzgefährdung auf ihr Recht auf Selbstbestimmung pochen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang stets die geographische Lage dieser Gebiete vor Augen halten: Gelingt es Litauen, wiederum die völlige Selbständigkeit zu gewinnen, dann wäre der nördliche Teil Ostpreußens von Sowjetrußland abgeschnitten. Boris Jelzin, Präsident der Sowjetrepublik Rußland, der sich reformerischer gibt als der Reformer Gorbatschow, wäre zwar bereit, Litauen die volle Souveränität zu gewähren, doch bei seinem letzten Besuch in Königsberg versicherte er mit allem Nachdruck: »Ostpreußen ist und bleibt russische Erde.«
Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts haben wiederholt die Grenzen verändert. Für den Historiker ist es nicht einfach, eindeutig die Frage zu entscheiden, ob sich etwa durch den Ausgang des Zweiten Weltkriegs Schlesien, Pommern und Ostpreußen nur dem Anspruch der Sieger nach in polnische und russische Erde verwandelt haben, oder ob das tatsächlich der Fall war. Rußland könnte sich darauf berufen, daß es durch das Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Paktes nur seine Gebiete jenseits von Bug und San zurückgeholt hat, die Polen während des Bürgerkrieges zwischen Weiß und Rot nach dem Ersten Weltkrieg widerrechtlich an sich gerissen hatte. Stalin beharrte nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebietszuwachs, den er 1939 mit Hitler ausgehandelt hatte. Die deutschen Territorien jenseits der Oder-Neiße-Linie samt dem Süden Ostpreußens überließ er Polen als Kompensation. Polen besaß also nicht einmal den Schein eines Rechtsanspruchs. Dies um so weniger, als es sich vom SED-Staat schon 1950 im Görlitzer Abkommen den Raub der ostdeutschen Gebiete legalisieren ließ. Aus tagespolitischen Gründen mag man heute die Annexion von 114 000 Quadratkilometern deutschen Territoriums - das Sudetenland nicht mitgerechnet - als unvermeidlich ansehen. Der Historiker aber kann nicht umhin, diese politischen Gründe als einen der krassesten Verstöße gegen das Völkerrecht zu bezeichnen, den es in unserem Jahrhundert gegeben hat. Vor dem Hintergrund des Golfkrieges heißt das: Die Kuwaitis erhielten zur Wahrung ihres Rechts die Waffenhilfe der Weltgemeinschaft; uns Deutschen wird dies vorenthalten.
Boris Jelzin und die polnische Regierung können sich zweifellos auf das Raubrecht der Sieger des Zweiten Weltkriegs berufen. Können wir Deutschen demgegenüber nicht nur die Geschichte bemühen, sondern auch das Völkerrecht? Beides würde uns dazu ermächtigen, unverändert von Ostpreußen, vom ehemals deutschen Distrikt Danzig, von Pommern, Schlesien und den Sudetengebieten als von deutschen Gebieten, deutscher Erde zu sprechen - nicht anders, als es die Südtiroler durch das ganze zwanzigste Jahrhundert beharrlich von ihrem Land getan haben und sich darin bis heute durch keinerlei politischen Wetterwechsel haben beirren lassen, - auch nicht davon, daß sie im Ringen um den Erhalt ihres Volkstums von deutschen Regierungen schmählich im Stich gelassen wurden.
Diesen Tatsachen wird ein herausragender Stellenwert in unserem Geschichtsbild zukommen. Die Ostgebiete rücken sowohl in der historischen Sicht, als auch dank der veränderten Rolle Deutschlands aufgrund der neuen politischen Situation seit 1990 wieder ins Gesichtsfeld. Für Polen und die Tschechoslowakei wird es zu einer Frage von Sein oder Nichtsein, daß sie sich dem Prozeß der europäischen Einigung eingliedern. Welche Hürden und Barrieren dabei noch im Wege stehen mögen: er wird als Ganzes eine staatliche Lockerung und ständig zunehmende Möglichkeiten durch Durchdringung mit sich bringen. Dieser Annäherungsprozeß wird im Praktischen die umfassende Gleichstellung sämtlicher europäischer Völker und Volksgruppen, sprich Minderheiten, bewirken.
Das neue Schwergewicht
Im Falle Polens und der Tschechoslowakei heißt das: Die Sieger des Zweiten Weltkrieges mögen in der Lage gewesen sein, uns entgegen dem Recht dazu zu nötigen, auf deutsche Gebiete zu verzichten. Sie konnten aber weder die Polen noch die Tschechen dazu zwingen, den in den annektierten Gebieten noch immer lebenden Deutschen ihren Status als Volksgruppenminderheiten, die auf Schutzrechte Anspruch haben, abzuerkennen. Nicht ohne Ironie dürfen wir seit 1990 feststellen, daß, zumal in den Distrikten jenseits der Oder und Neiße, die deutschen Volksgruppen mit Nachdruck auf ihre Rechte zu pochen beginnen. Es handelt sich um dieselben Volksgruppen, die von der Warschauer Regierung und dem polnischen Klerus jahrzehntelang vehement als inexistent bezeichnet wurden.
In Westdeutschland hatte sich seit Bundeskanzler Adenauer eine fast vollständige Ausrichtung auf Westeuropa und die Vereinigten Staaten durchgesetzt. Die Entwicklung in der damaligen DDR und das Leben der siebzehn Millionen Deutschen jenseits von Elbe und Werra wurde weitestgehend ausgeblendet, zumal im Schulunterricht und der öffentlichen Information durch die Medien. Sendungen wie die TV-Reihe »Kennzeichen D« dienten in erster Linie der Anprangerung des SED-Regimes. Das praktische Leben der Landsleute in Mitteldeutschland verschwand jedoch ins Nebelhafte. Selbst die geographischen Kenntnisse wurden schütter bis zum Lächerlichen. Im Zweifelsfall wußten unsere Schüler über Lyon oder Genf besser Bescheid als über Erfurt, Rostock, Halle, Dresden, Leipzig oder Frankfurt an der Oder.
Die Wiederherstellung Deutschlands hat schon jetzt eine Verlagerung der politischen Brennpunkte mit sich gebracht. Das Ende der Politik Westdeutschlands als vornehmliche Westbezogenheit ist in Sicht. Das bedeutet eine Berichtigung der Schlagseite. Deutschland ist wieder die Mitte Europas. Damit hat die Westorientierung ihre Grundlage eingebüßt. Deshalb existiert auch nicht mehr die Begründung für unsere frühere Westbezogenheit, die von der CDU auf ihrem Wiesbadener Parteitag im Oktober 1972 mehr als deutlich formuliert wurde: »Wir haben unsere Zukunft endgültig auf den Vorrang der Politik der Vereinigung des freien Europa gesetzt.«
Vom »Westen«, der in den letzten Jahrzehnten so oft zitiert wurde, bleibt nicht viel übrig, wenn die Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas genauso frei sind wie die Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß selbst das Industriegefälle und die Unterschiede des Bruttosozialprodukts nichts über das Schwergewicht aussagen, das dem neu formierten Europa zukommen wird. Und das neu formierte Europa wird das Europa der Geschichte sein. Diese Tatsache bringt auch eine neue Orientierung der Außenpolitik Deutschlands und damit eine Richtungskorrektur mit sich. Rußland und Deutschland werden ihre historische Partnerschaft, die durch das ganze neunzehnte Jahrhundert bestanden hatte, wiederbeleben. Unsere europäische Brückenfunktion zwischen Ost und West wird erneut zu einem unübersehbaren Politikum.
Für den Geschichtsunterricht und damit für das neue Geschichtsbild zeichnet sich schon heute eine klare Zuwendung zum Gebiet der früheren DDR ab. Diese Richtung wird sich zwangsläufig auch auf die deutschen Ostgebiete erstrecken. Ostpreußen, das Land, seine Städte werden im Geschichtsunterricht unweigerlich dieselbe Bedeutung erhalten wie Krakau oder Thorn, Posen oder Bromberg, Breslau oder Kolberg. Und zwar keineswegs aus aktuellen Gründen, sondern weil sie zentral zu unserer und der europäischen Geschichte gehören.
Vom Reich
Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Grundvertragsurteil vom 31. Juli 1973 erklärt, daß trotz des Jahres 1945 und der Kapitulation der deutschen Wehrmacht das »Deutsche Reich« fortbestehe; es sei lediglich zur Zeit handlungsunfähig. Auf dem Fortbestand des Deutschen Reiches baue auch das Bonner Grundgesetz auf. Die Siegeralliierten hätten dies anerkannt, da sie sich hinsichtlich der Rechte und Verantwortlichkeiten für »Deutschland als Ganzes« als zuständig erklärten. Zusätzlich stellte das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 1975 fest, daß Polen und die Sowjetunion auch in den deutschen Ostgebieten nur die Verwaltungshoheit besäßen, nicht jedoch die »territoriale Souveränität«. Unser höchstes Gericht hat schließlich in seiner Entscheidung vom 21. Oktober 1987 nochmals bestätigt, daß das Deutsche Reich, der deutsche Gesamtstaat völkerrechtlich fortexistiere.
Wir müssen die Rechtslage und die Frage der tatsächlichen Existenz des Deutschen Reiches zur Zeit nicht diskutieren. Für das neue Geschichtsbild ist etwas anderes wesentlicher. In der deutschen Geschichte hat das »Reich« durch ein Jahrtausend die oberste Richtkategorie dargestellt. Das Reich war nicht nur ein Telos, sondern auch ein Faktum. Selbst Goethe stellte, da das Erste Reich schon zerfallen war, die Frage: »Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewunderungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reiches gleichmäßig durchdrungen hat?«
Immer stand die Reichsidee über ihren konkreten Ausformungen, über der Existenz des Reiches - ob es sich um das Heilige Römische Reich handelte oder jenes Deutscher Nation, ob es seine Verstümmelung nach dem Westfälischen Frieden 1648 war, die sich dem Juristen Samuel von Pufendorf der staatsrechtlichen Formulierung entzog oder jenes politisch total ausgehöhlte Reich, das 1806 aufgelöst wurde: die Reichsidee war stets mehr als ihre materielle Form, nicht zuletzt deshalb, weil sie - im Fadenkreuz von Europas deutscher Mitte - das einzig sinnvolle Moment der Ordnung einschloß.
Deshalb schätzte, neben allen berechtigten und zu Unrecht ausgebeuteten Mythen, auch Bismarck in erster Linie die Gliederungsfunktion des Reiches: »In einem geordneten Gemeinwesen soll jede Person und jedes Bekenntnis das Maß der Freiheit genießen, welches mit der Freiheit der übrigen und der Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes vereinbar ist. In dem Kampfe für diesen Grundsatz wird Gott das Deutsche Reich auch gegen solche Gegner schützen, welche seinem heiligen Namen einen Vorwand für ihre Feindschaft gegen unseren inneren Frieden entnehmen.« Und als Achtzigjähriger, drei Jahre vor seinem Tod 1898, erinnerte er daran, daß es kein Leben ohne Kampf gebe. Deshalb sei er überzeugt, daß man in allen Kämpfen »immer einen Sammelpunkt haben muß, und das ist für uns das Reich«.
Zur Zeit ist Deutschland dabei, sich erneut als Staat und als europäische Mitte zu restituieren. Dieser Tatsache gegenüber rückt die Frage, wie es mit seinen Grenzen im Zeichen des zwingenden Völkerrechts steht, in den Hintergrund. Sie verliert an Bedeutung gegenüber dem Ordnungsprinzip, das sich in Deutschland ausdrücken wird - jenes Prinzip universaler, übernationaler Gliederung, das dem Alten Reich zugrunde lag und um das sich das neue Geschichtsbild zentrieren wird. Vor einigen Jahrzehnten umriß Eugen Rosenstock-Huessy die künftige Funktion Deutschlands, er präzisierte: »Ganz Deutschland, aber nicht sich selbst überlassen, nicht autonom oder souverän, ganz Deutschland, aber nicht in Parteien aufgelöst, sondern als Reichskörper wirksam.« Der österreichische General Heinrich Freiherr Jordis von Lohausen definierte vor knapp eineinhalb Jahrzehnten Deutschland politisch als »Heimat des übernationalen Reichsgedankens« und konstatierte wenig später im gleichen Zusammenhang in einer seiner kühlen Analysen die »Unentbehrlichkeit eines Vierten Reiches«.
Immer wieder hörten Historiker das Zweifelnde: Was läßt sich aus der Geschichte lernen? Eine Frage von gnadenloser Schlichtheit. Sie war von jeher falsch gestellt. Es geht nicht darum, was die Geschichte lehren kann und lehrt, sondern um das Problem, warum man nicht aus ihr lernt, nichts lernen kann oder lernen will. Was Nutzanwendungen betrifft, verhält es sich mit der Geschichte nicht anders als in jeder Sparte, in der es um unsere Lernbereitschaft und Lernfähigkeit geht.
Die Restitution Deutschlands gegen Ende unseres Jahrhunderts bedeutet auch die Restitution des historischen Europas aufgrund der modernsten Entwicklung. Die Neuordnung ist angewiesen auf die zentripetalen Kräfte Deutschlands inmitten des Kontinents. Welchen Namen man dieser Tatsache geben wird, ist belanglos, denn der Sache nach wird es sich um eine renovatio der Reichsidee handeln. Dies eben verklammert Deutschlands neues Geschichtsbild mit seiner aktuellen Lage. Wer fähig ist, die Wirkungen der früheren Ereignisse und Phänomene bis in seine Zeit zu verfolgen, der begreift sowohl ihren Sinn als auch denjenigen der heutigen Geschehnisse. Deshalb muß derjenige, der aus der Geschichte nichts lernen will, seiner Gegenwart das Lehrgeld bezahlen."
(Quelle: Hellmut Diwald, Ein Querkopf braucht kein Alibi, Frankfurt/M. 1991, S. 313 - 319; 375 - 394)
RJE