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Univ.-Prof. Dr. Michael Wolffsohn: Deutschland ist wieder die Heimat von Juden!
In Deutschlands größter Tageszeitung mit täglich 5 Millionen Auflage, der BILD, kam es am 15. Oktober 2008 zu einem Interview mit Michael Wolffsohn (61), dem Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München:
BILD: Herr Wolffsohn, Sie sagen, nach dem Holocaust hat sich in Deutschland zum ersten Mal seit 200 Jahren ein Judentum entwickelt, das selbstbewusst auftritt. Das klingt paradox.
Michael Wolffsohn: "Nach 1945 haben die Juden gelernt, dass Anpassung oder Flucht nichts hilft. Sie haben sich neu zum Judentum bekannt. Sie sehen es heute als Gemeinschaft, der sie gerne angehören wollen. Das ist etwas Neues."
BILD: Was war vor 1933 anders?
Wolffsohn: "Im Kaiserreich und der Weimarer Republik wollten die meisten Juden in Deutschland vor allem eins sein: gute Deutsche. Wir haben eine lange Tradition, Musterbürger sein zu wollen. Bis 1933 ging das fast bis zur Selbstaufgabe. Als der Massenmord durch die Nationalsozialisten begann, starben Juden für etwas, was ihnen selbst gar nicht mehr wichtig war."
BILD. Intellektuelle wie Tucholsky oder Schönberg haben sich vom Judentum abgewandt und darüber gesprochen. Woher wissen Sie, wie die Masse der Juden dachte?
Wolffsohn: "Wir vergleichen: Welche Vornamen haben die deutschen Juden ihren Kindern in der Zeit zwischen 1860 und 1938 gegeben, welche wählen sie heute? Mit den Namensgebungen verraten Eltern viel über ihre Lebenseinstellung. Wenn vor 100 Jahren Juden ihren Sohn ausgerechnet `Siegfried´ nannten, wie die Eltern der Literaten Kracauer oder Jacobsohn, dann bettelten sie ja geradezu um Liebe und Anerkennung der Mehrheit. Wir haben festgestellt: Unter den 20 beliebtesten Vornamen vor dem Zweiten Weltkrieg waren nur zwei traditionell jüdisch. Heute tragen 50 Prozent der deutschen Juden orthodox jüdische Vornamen."
BILD: Aber auch nichtjüdische Deutsche schätzen jüdische Vornamen wie Sara oder David.
Wolffsohn: "Das widerspricht nicht unserem Befund. Die wachsende Beliebtheit solcher Namen zeigt auch, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft gegenüber der jüdischen Gemeinschaft geöffnet hat."
BILD: Worin besteht das neue jüdische Selbstbewusstsein?
Wolffsohn: Das ist noch gar nicht eindeutig klar. Es muss nicht der regelmäßige Synagogenbesuch sein. Das kann auch ein jüdischer Fußballverein sein oder nur das Gefühl der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft."
BILD: Sie haben ihr Buch "Deutschland, jüdisch Heimatland" (Untertitel: Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute, Mitautor: Thomas Brechenmacher, München 2008, RJE) genannt. Ist das wirklich so?
Wolffsohn: "Der Titel beschreibt ein Faktum. Deutschland ist wieder die Heimat von Juden. Unmittelbar nach dem Holocaust war das anders. Juden haben sich auf sich selbst konzentriert, ihre Identität entwickelt. Seit der Zuwanderung aus Russland 1991 sind sie beidem zugewandt: dem Judentum und der deutschen Gesellschaft."
BILD: Haben Juden sich noch einmal als Musterbürger gezeigt - als Vorbilder für Integration?
Wolffsohn: "Die jüdische Geschichte in Deutschland zeigt: Sprache allein garantiert keine Integration, denn jüdische und nichtjüdische Deutsche hatten vor 1933 dieselbe Sprache. Integration kann nur gelingen, wenn beide Seiten ihre Herzen zueinander öffnen."