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Hellmut Diwald
Zum 8. Mai 1945
Witikobrief Nr. 3, 1985
"Gedenktage sind Tage der Besinnung, der Erinnerung, der Bilanz. Der 40. Jahrestag der militärischen Kapitulation Deutschlands beschäftigt die bundesrepublikanischen Medien seit Monaten. Die Unverfrorenheit des Versuchs, uns den 8. Mai 1945 als Datum der Befreiung schmackhaft zu machen, wird nur durch die Schamlosigkeit der Begründungen dafür übertroffen. Der 8. Mai scheint des Schicksals sicher zu sein, im Öffentlichen ein Tag der Heuchelei zu werden. Am 8. Mai 1945 wurde in Europa der Krieg beendet. Wer diesen Tag mit Bewußtsein erlebt hat, wer sich an ihn erinnert ohne die Beschönigungen, Verzerrungen, Beflissenheiten und Lügen, mit denen seit Jahrzehnten unsere Geschichte und insbesondere unsere jüngere und jüngste Vergangenheit ungenießbar gemacht wird, der weiß es besser. Daran muß jeder von uns festhalten, ohne Konzessionen an das, was bequem ist, was gern gehört wird von denjenigen, die den politisch-offiziellen Beifall spenden. Opportunisten sind die Totengräber der deutschen Selbstbehauptung.
Der 8. Mai 1945 war ein Tag des Elends, der Qual, der Trauer. Deutschland, das deutsche Volk hatten sechs Jahre lang im gewaltigsten Krieg aller Zeiten um die Existenz gekämpft. Die Tapferkeit und Opferbereitschaft der Soldaten, die Charakterstärke und Unerschütterlichkeit der Frauen und Männer im Bombenhagel des alliierten Luftterrors, die Tränen der Mütter, der Waisen, wer die Erinnerung daran zuschanden macht, lähmt unseren Willen zur Selbstbehauptung. Daran sollten wir am 8. Mai denken.
Die Sieger von 1945 erklären, für die Rettung der Humanität einen Kreuzzug gegen Deutschland geführt und gewonnen zu haben. Geführt auch mit den Mitteln eines Bombenkrieges, der das Kind, die Frauen, die Flüchtenden, die Greise genauso als Feind behandelte wie den regulären Soldaten. Der Tag der militärischen Kapitulation der deutschen Armee brachte den Alliierten den Frieden. Abermillionen von Deutschen brachte er die Hölle auf Erden. Haben die Sieger von 1945 keinen Anlaß danach zu fragen, mit welchen Verbrechen sie dem Triumph ihres Kreuzzuges für die bedrohten Menschheitswerte das Siegel aufgedrückt haben? In jenen Friedensjahren nach der Kapitulation, in denen von Ostpreußen bis nach Jugoslawien Deutsche erschlagen, hingemetzelt, vergewaltigt, gefoltert, vertrieben wurden - in jenen Jahren, die man uns jetzt zumutet, als Zeit der Befreiung und Wiege einer Zukunft zu feiern, die uns zum ersten Mal in unserer tausendjährigen Geschichte „Freiheit, Recht und Menschenwürde“ gebracht haben soll? Denken wir daran am 8. Mai.
Wer im 20. Jahrhundert einen Krieg verliert, wird vom Sieger zum Schuldigen und Verbrecher erklärt. Wie soll man das Wertesystem derjenigen einschätzen, die mit denselben Urteilskategorien dem deutschen Volk 1945 jede Moral und alle Rechte bestritten und wenige Jahre später, als deutsche Männer wieder als Soldaten gebraucht wurden, das deutsche Volk plötzlich als würdig erachteten, westliche und östliche Interessen mit der Waffe zu verteidigen? Auch daran sollten wir am 8. Mai denken.
Der 8. Mai erinnert uns daran, daß wir besiegt wurden. Ja, wenn es nur die militärische Niederlage gewesen wäre. Es hätte nicht einmal das uralte Muster jener Kriege sein müssen, bei denen die Niederlagen kaum weniger ehrenvoll waren als die Siege. Aber Schuld eines ganzen Volkes für Verbrechen, die es als Volk nicht begangen hat, weil ein Volk keine Verbrechen begehen kann, sondern immer nur der Einzelne? Wenn von Schuld die Rede ist, dann auch von jener Schuld, daß wir nicht die Kraft und den Mut besaßen, uns gegen die generelle Herabsetzung zu wehren und uns nicht die Würde rauben zu lassen. Standfestigkeit und Unbeirrbarkeit wären um so nötiger gewesen, als uns das Gift der moralischen Selbstzerstörung Jahr für Jahr eingeträufelt wurde. Und wir wußten davon - denken wir daran.
Wir haben keinen Grund, den 8. Mai zu feiern. Feiern sollen diejenigen, die sich für die Sieger halten. Wie unsere früheren Gegner, die sich heute als unsere Freunde bezeichnen, ihre Feiern am 8. Mai mit dieser Freundschaft 1945 in Einklang bringen, ist allerdings nicht nur ihr eigenes Problem. Für uns ist es eine Gelegenheit, daran zu erinnern, daß die neue Zukunft, die uns von den Siegern 1945 beschert wurde, für unser Reich das Grab und für Deutschland und das deutsche Volk die Katastrophe seiner Zerstückelung bedeutete. Die Siegesparaden der früheren Alliierten werden uns nur zeigen, daß wir noch immer die Besiegten von 1945 sind, daß unser Land besetztes Land ist und unsere regionale Souveränität eine von Gnaden der Sieger mit Vorbehalten gewährte Souveränität. Daran müssen wir denken.
Die 40. Wiederkehr des 8. Mai 1945 ist das Fest der Sieger. Es ist nicht unser Fest. Uns dagegen steht die Erinnerung an Wahrheiten zu, deren Gehalt von keinem Datum abhängt. Zur Lebensgeschichte des Einzelnen wie zur Geschichte eines Volkes gehören die Niederlagen genauso wie die Triumphe. Nur dann, wenn sich der Einzelne, wenn sich ein Volk selbst aufgibt und sklavisch unterwirft, geht alles verloren - in der Variante einer Feststellung des römischen Kaisers Mark Aurel: »Laß dir die Vergangenheit, laß dir die Zukunft nicht verfälschen. Du wirst, wenn es nötig ist, schon hinkommen, mit Hilfe derselben Geisteskraft, die dich das Gegenwärtige ertragen läßt.«
(Quelle: Hellmut Diwald, Zum 8. Mai, Witikobrief Nr. 3,1985)
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Hellmut Diwald
Der Kampf um die Weltmeere
A) Pax Britannica
"Die Besonderheit des politischen Privilegs, das Großbritannien auf dem Wiener Kongreß vertraglich abzusichern vermochte, bestand darin, daß es einerseits seine ganze Schwerkraft auf die Weltmeere verlagerte, andererseits aber imstande war, als Garant und hellhöriger Wächter der kontinentaleuropäischen Ordnung aufzutreten, ohne selbst dieser Ordnung so anzugehören, daß es bestimmten Verpflichtungen unterworfen gewesen wäre.
Englands Alleingewalt auf den Meeren, die mit dem Wiener Kongreß zu einem festen Element der Weltpolitik wird, drückt sich in einer bemerkenswerten Zahl aus: 120000 französische Seeleute waren in britischer Gefangenschaft. Nicht nur der Umfang der Schiffseinbuße, sondern auch dieser Mannschaftsverlust zeigt, in welchem Ausmaß die französische Marine in diesem Krieg verheert wurde.
Das britische Monopol läßt sich durch eine Reihe weiterer Zahlen noch zusätzlich verdeutlichen. Obwohl seit Trafalgar keine andere Streitmacht zur See außer der englischen eine Rolle spielte, baute Großbritannien seine Kriegsflotte konsequent weiter auf. 1815 waren schließlich 214 Linienschiffe sowie 792 Kreuzer und Fregatten, Briggs und kleinere Kriegsschiffe im Einsatz. Noch deutlicher spricht allerdings der riesenhafte Umfang der britischen Handelsflotte; er ist charakteristischer und wichtiger, denn auf diesen Schiffen ruhte in der Friedenszeit die Wohlfahrt, der Reichtum, die politische Kraft Englands. 1815 übertraf die britische Handelstonnage um ein Viertel die Gesamttonnage aller übrigen Staaten der Welt zusammengenommen.
Die Kontinentalsperre hatte sich am empfindlichsten auf den Überseehandel ausgewirkt. Die Folgen für England waren zwar außerordentlich schädigend, aber auch höchst belebend, bis hin zur landwirtschaftlichen Produktion. Die Blockade und der langanhaltende Krieg erzwangen eine ununterbrochene Erhöhung der Rüstungsausgaben und beschleunigten die industrielle Produktion in einem Umfang, der durch die neuen technischen Verfahren von der Eisenverarbeitung bis zur Dampfmaschine allein niemals möglich, weil nicht bitter notwendig gewesen wäre. Keine Industrie ließ sich nach dem Krieg so komplikationslos in die Produktion für friedliche Zwecke überleiten wie der Schiffbau. Und die Folge: England, die erste und führende See-Großmacht der Welt, wurde nunmehr auch die erste und führende Industrie-Großmacht der Welt. Ihre Überlegenheit gegenüber den anderen Staaten der Erde wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgeglichen.
Die britischen Staatsmänner dieser Epoche verfolgten ihre Politik konsequent innerhalb der Interessenkonstellation, die für die Gesamtsituation Englands charakteristisch war, ob sie zu den liberalen Whigs zählten wie die Außenminister Stewart Castlereagh und George Canning, oder zu den konservativen Tories wie Benjamin Disraeli oder ob es sich um Wanderer zwischen beiden Welten handelte wie William Gladstone.
Für die erneuerte Gleichgewichtspolltik wurde jetzt die britische Oberhoheit auf den Weltmeeren zeichensetzend. Englands Beitrag zur kontinentalen Ordnungsrestauration auf dem Wiener Kongreß erhielt von dieser Sachlage her seine Akzente. Das Inselreich blieb seiner kaum merklich herablassenden Reserve gegenüber dem Festlandseuropa treu, England lehnte es folgerichtig als einziges europäisches Königreich ab, der Heiligen Allianz beizutreten.
Die Idee dieses Zusammenschlusses aller Monarchen zwecks gegenseitiger brüderlicher Hilfe und Bewahrung von Religion, Frieden und Gerechtigkeit wurde von Zar Alexander eifrig propagiert, aber erst von Metternich, dessen skeptischer Realitätssinn sich von Schwärmertum jeglicher Art am schnellsten alarmieren ließ, mit politischem Gehalt versehen und dadurch zu einem Abkommen ausgestattet, das die bestehenden Regierungsformen zusätzlich absichern sollte.
Und England war es auch, das der Heiligen Allianz den Boden unter den Füßen entzog, indem es 1826 die Unabhängigkeit der südamerikanischen Kolonien anerkannte.
Dennoch war das Interesse an der Erhaltung des Bestehenden in England grundsätzlich dasselbe. Außenminister Castlereagh distanzierte sich zwar unter offensichtlichen Vorwänden vom Beitritt zur Heiligen Allianz, die er als »ein Stück von erhabenem Mystizismus und erhabenem Unsinn« bezeichnete, begründete das aber mit dem charakteristischen Satz: »Man wird England an seinem Platz finden, wenn wirkliche Gefahr das System Europas bedroht, aber wir können nicht und werden nicht nach abstrakten und spekulativen Prinzipien der Vorsicht handeln«, denn das wäre eine Politik ohne zuverlässige Grundlagen.
Dem englischen Interesse an der Bewahrung des Status quo kamen am stärksten handfeste Vereinbarungen entgegen. Deshalb erneuerte Castlereagh beim Abschluß des Zweiten Pariser Friedens am 20. November 1815 auch den Viererbund mit Österreich, Preußen und Rußland als das zweckmäßigste Überwachungsreglement für die Sicherung der europäischen Verhältnisse und damit des Gleichgewichtssystems der europäischen Staaten. Das Prinzip des Wägens der politischen Kräfte und Schwerkräfte in Europa, dessen Ergebnisse sich nur im britischen Foreign Office ermitteln ließen, wurde konsequenter denn je zu den Bürgschaften von Großbritanniens Vorrang gerechnet.
Damit waren die Bauelemente vorhanden für eine Weltordnung, die das Metternichsche System der kontinentalen Restauration überwölbte: die »Pax Britannica« als Friedensordnung der Welt, die auf der ozeanischen Vorherrschaft Englands beruhte. Die Fürsten und Staatsmänner des Festlands betrachteten den Wiener Kongreß als Geburtshelfer der kontinentalen Restauration. Für England wurde der Kongreß zum Auftakt des Zeitalters der Pax Britannica, in der die Leitlinien der globalen Politik Großbritanniens als unbestritten verbindlich jahrzehntelang von den übrigen Mächten akzeptiert wurden.
Niemals in der Weltgeschichte war der Begriff der Ozeanität mit soviel politischer Substanz erfüllt wie im Jahrhundert der Pax Britannica. Lord Byron brachte das in die poetische Wendung: »England, oberste Herrin der Erde, liebliche Königin der Meere.« England war sich bewußt, daß es das Zepter der Weltherrschaft in den Händen hielt - in aller Nüchternheit und Gefühlsruhe, selbstbewußt und mit dem Vorsatz, alle erforderlichen politischen Maßnahmen in erster Linie als eine Sicherung dieser Herrschaft zu betrachten: den Einsatz für die »Freiheit der Meere«, der um so entschiedener sein konnte, als der britische Überseehandel und die Flotte Englands von keinem Konkurrenten behindert waren;
die Propagierung des Freihandels, dessen Grundsätze allen Staaten Vorteile brachten, England aber die meisten; der jahrzehntelange Kampf gegen den Sklavenhandel, an dem Länder wie Spanien, Portugal, Brasilien und Frankreich genauso hartnäckig festhielten wie die Vereinigten Staaten.
In diesem Fall ging es England zweifellos um die Ausmerzung einer besonderen Schändlichkeit, aber dabei boten sich auch die häufigsten Möglichkeiten, durch die Flotte die britische Allgewalt auf den Meeren und an den afrikanischen, arabischen, persischen und indischen Küsten zu bekunden und weitere Flottenstützpunkte anzulegen. Das eindrucksvollste Exempel war die Besetzung des nigerianischen Lagos - seit dem 18. Jahrhundert der wichtigste Ausfuhrhafen für die Yoruba-Sklaven. Durch seine Annexion 1861 machte England dem Menschengeschäft ein Ende und gewann nebenbei eine seestrategisch unschätzbar wichtige Flottenbasis.
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B) Die Diktatur des Freihandels
Englands unbehelligte Übermacht beruhte auf seiner hochentwickelten Industrie, auf dem Monopol seines Handels mit den transozeanischen Gebieten - sowohl mit den eigenen Kolonien als auch mit den übrigen außereuropäischen Ländern und Staaten der ganzen Welt - und drittens auf der außerordentlichen Größe seiner Handelsflotte. Die britische Schiffstonnage war ein Gradmesser für das Ausmaß der industriellen Produktion in England, sie übertraf bis zum Jahrhundertende konstant die Gesamttonnage aller übrigen Staaten der Erde.
Die Produktion von Eisen und Stahl, von industriellen Fertigwaren, die Förderung von Kohle, die Entwicklung des Maschinenbaus ging derart rasch und mit solchen Steigerungsquoten vor sich, daß Englands Wirtschaft binnen kurzem vollständig abhängig war vom Export und damit von der Erschließung der Märkte, von der Steigerung des Welthandels allgemein. »Freihandel« war das Zauberwort dafür.
Die alte Streitfrage, was zuträglicher sei: freier Handel ohne jeden Zoll oder Zollpolitik zum Schutz der Binnenwirtschaft, notfalls auch durch Protektionismus, ist seit den Tagen des beginnenden Welthandels bis in unsere jüngste Gegenwart aktuell. Für das Britische Empire im 19. Jahrhundert und die kapitalistische Ausrichtung ist der Grundsatz des Freihandels - also der von sämtlichen Zöllen und sonstigen Behinderungen befreite Warenaustausch und -handel zwischen den Staaten - nichts anderes gewesen als das Funktionsprinzip einer Weltwirtschaft, die vollständig auf England ausgerichtet und von seinen speziellen Interessen bestimmt war.
Die Ereignisse und Überlegungen, die dazu geführt hatten und die den früheren Überzeugungen, wie sie sich in der Navigationsakte ausdrückten, vollständig entgegengesetzt waren, schienen verhältnismäßig einfach zu sein. England, der größte Industrieexporteur der Erde und mit der Londoner City das Finanzzentrum der Welt, produzierte in einem solchen Übermaß, daß sich jede Beschränkung des Imports durch andere Länder auf seine Wirtschaft negativ auswirken mußte. Es produzierte weit mehr, als für den eigenen Bedarf nötig war, und es produzierte in so hoher Qualität, daß die Einfuhr britischer Waren anderen Ländern verlockender erscheinen mußte und erscheinen sollte als die Mühe, eigene Industrien aufzubauen. England beherrschte außerdem den Zwischenhandel mit Produkten der Kolonien und Überseegebiete in einem Ausmaß, daß jede Absatzbeschränkung für Großbritannien ebenfalls negativ zu Buche schlug. Je freier, je unbehinderter der Welthandel sich abspielte, um so stärker profitierte England davon.
Der englische Export in die Vereinigten Staaten und in die Industrieländer blieb während der ersten Jahrhunderthälfte relativ konstant. Nach Zentral- und Südamerika dagegen - ebenso nach Asien - nahm er ununterbrochen zu; nach Asien kletterte er von 2 340 4I7 Pfund Sterling im Jahre I814 auf 10 931 305 im Jahr 1849, nach Afrika von 372 212 auf 2 464 8I1.
Den revolutionären Abfall der spanischen und portugiesischen Kolonien in Südamerika und ihre Verwandlung in selbständige Verfassungsstaaten unterstützte England keineswegs nur aus politisch-fortschrittlichen Liberalitätserwägungen und wegen der öffentlichen Meinung. Wenn Südamerikas Befreiungsheld Simon Bolivar versicherte, daß »nur England, die Herrin der Meere, uns gegen die vereinte Macht der europäischen Reaktion schützen kann«, so konnten diese 14 neuen, souveränen Staaten ihrerseits wiederum die Handelspolitik Englands weit nutzbringender unterstützen, als es die beiden Kolonialmächte Spanien und Portugal getan hatten.
Der Übergang Englands zum völligen Freihandel begann I846 mit der Beseitigung der Kornzölle. Drei Jahre später wurde Cromwells Navigationsakte von 1651 aufgehoben; allen Staaten war jetzt der Handel mit den britischen Überseegebieten möglich. Anders ausgedrückt, jeder potentielle Kunde des Mutterlandes sollte angelockt, statt abgeschreckt werden. Die Propagierung des freien Handels traf bei den Kontinentalstaaten so lange auf geschärfte Ohren, solange dies für sie die einzige Möglichkeit war, sich in den Welthandel einzugliedern, sei es auch zunächst nur als Nehmende. Ihre Zustimmung drückte sich in der Senkung der Importzölle aus. Das änderte sich erst, als die eigene Produktion groß genug war, um erkennen zu lassen, wo die Grenzen des Freihandelsprinzips lagen. Sie begannen mit Sicherheit dort, wo die Sprache der nationalen Wirtschaftsinteressen deutlich genug wurde, um durchzudringen mit ihrer Forderung nach einem Spielraum gegenüber der britischen Konkurrenz, der es nicht so sehr um die Freiheit an sich zu tun war, sondern um die Freiheit, dank des eigenen Vorsprungs die Konkurrenz auszuschalten.
In Deutschland war dieser Punkt erreicht, als mit der Einführung des Zolltarifs im Jahre 1879 Bismarck der britischen Freihandelspolltik eine Absage erteilte. Andere Staaten hatten sich zu derartigen Sperren schon erheblich früher entschlossen; die Vereinigten Staaten von Amerika und ebenso Rußland hatten sich überhaupt geweigert, jemals vom Grundsatz des Schutzzolls zugunsten des Freihandels abzugehen.
Europa und den USA gegenüber taktierten die britischen Freihandelspropheten überaus behutsam. Erheblich ungenierter ging es bei anderen Staaten und Herrschaftsgebieten zu, denn das britische Wirtschaftspotential und die Beständigkeit des Außenhandels bildeten ein siamesisches Zwillingspaar. Die zunehmende Verflüchtigung völkerrechtlicher und moralischer Prinzipien mit steigender Entfernung von der Mutterinsel und den sättigenden Gepflogenheiten Europas, von der sich schon Edmund Burke irritieren ließ, wurde zu Ehren des Freihandels im 19. Jahrhundert von Großbritannien nach wie vor als selbstverständlich hingenommen.
Ein Modell dafür war der Opiumhandel, den die britische East India Company seit langem mit höchsten Profiten betrieb und deshalb weitmöglichst auszudehnen versuchte. Sie allein sorgte für die unrechtmäßige, verbotene Einfuhr von Opium aus Indien und Burma nach China, sie steigerte die Mengen von Jahr zu Jahr. Die Auswirkungen waren so alarmierend, daß der Ärger der chinesischen Regierung in Empörung umschlug. Nach Jahren der Geduld entschloß sie sich zur Gewalt und ließ 1839 in Hongkong von den Behörden 20 000 Kisten Opium vernichten.
England erklärte den Krieg, er dauerte von 1840 bis I842 und lehrte den Kaiser, den »Sohn des Himmels«, daß die britischen »Söhne des Meeres« ihre eigenen und eigentümlichen Vorstellungen von der Freiheit des Handels hatten: Sie reichte weit genug, um bei anderen Staaten auch den Zwang zum Import des Unerwünschten einzuschließen. Die Dauer dieses Erkenntnisprozesses wurde mit Hilfe von Artillerie und Gewehrfeuer verkürzt.
China gab auf. Im Frieden von Nanking, der am 29. August 1842 zustande kam, trat es an Großbritannien Hongkong ab, das zur Kronkolonie erklärt wurde. Fünf Häfen, darunter Schanghai, wurden dem britischen Handel geöffnet, Kaufleute und Missionare erhielten Privilegien, kurzum: England schreckte auch vor der Entfesselung eines Krieges nicht zurück, wenn es die Interessen seines Überseehandels ratsam erscheinen ließen. Das hieß in diesem Fall, daß es keineswegs im Belieben der chinesischen Regierung stand, sich gegen die Einfuhr des unheilvollen Opiums zu wehren.
In direktem Zusammenhang mit dem Opiumkrieg entwickelte sich der Taiping-Aufstand, der 1850 in China ausbrach und England dazu brachte, unter dem Vorwand, die britische Flagge sei mißachtet worden, China erneut im Jahre 1857 den Krieg zu erklären. Diesmal beteiligte sich auch Frankreich, 1860 marschierten die verbündeten Truppen bis Peking, plünderten und zerstörten als Repressalie für die grausame Behandlung europäischer Gefangener den berühmten Sommerpalast des Kaisers. Der Vertrag von Peking 1860 beendete diesen sogenannten Lorcha-Krieg. China gestattete die Errichtung europäischer Gesandtschaften, ließ unbehindert christliche Missionen zu, gewährte dem europäischen Handel außerordentliche Vergünstigungen und erlaubte die freie Schiffahrt auf dem Jangtsekiang.
Die Dreieinigkeit von Militär, Macht und Mission - Kainszeichen des klassischen Imperialismus - hatte sich in China bewährt. Die Ergebnisse für die britische Wirtschaft waren so vorteilhaft, daß auch die englischen Kritiker rasch verstummten und rückwirkend selbst die brutalsten Maßnahmen Lord Palmerstons billigten.
C) Amerikas Freiheit der Meere
Als Großbritannien den Kampf um die Weltmeere für sich entschieden hatte, beherrschte es die Welt und errichtete sein Imperium - das letzte für viele Jahrzehnte, das nicht mit Hilfe diktatorischer Gewalt zusammengehalten wurde. Unter den zahlreichen Veränderungen, die den Zerfall des Britischen Empire bewirkten, war die industrielle Revolution eine der wesentlichsten.
Der Prozeß, in dessen Verlauf England einsehen mußte, daß es sich auf dem Rückzug befand und das Empire nicht halten konnte, dauerte genauso lange wie der Zerfall selbst. Die Richtung der Auflösung zeigte sich im Wechsel von der Bezeichnung „Empire“ zur Staatengemeinschaft des »Commonwealth« zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der letzte Versuch, den Auseinanderfall des Empire zu stoppen, wurde im Zweiten Weltkrieg gemacht. England mußte sich aber schließlich zwei bittere Einsichten bestätigen lassen: daß Deutschland, so wie schon im Ersten Weltkrieg, nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten zu besiegen war und daß die Ordnungsfunktion, die es - als Zentrum, als Nabel der Welt - so lange ausgeübt hatte, von den USA übernommen wurde. Daß Amerika dabei mit der Selbstgefälligkeit des Stärkeren auftrat, die von vornherein Zweifel daran nährte, ob der Stärkere auch der Fähigere sei, milderte nicht die Bitterkeit der Erkenntnis. England konnte sich bestenfalls damit trösten, daß ihm vom Empire immerhin das geblieben war, worauf es einst das Empire gegründet hatte: seine Flotte. Zusammen mit den Streitkräften der USA handelte es sich bis heute unverändert um die größte Seemacht der Welt.
Großbritannien mußte schon nach dem Ersten Weltkrieg mit einer unheimlichen Lage fertigwerden. Es gehörte zu den Siegern, die nichts weiter gewonnen hatten als die Illusion, nichts verloren zu haben: der schlimmste Albtraum des Sieges, der denkbar ist. Ohne Hilfe der USA hätten die alliierten Staaten, die 1914 gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn angetreten waren, den Krieg nicht gewonnen. Sie wurden gerettet von einer Macht, die selbst von niemandem bedroht oder angegriffen wurde, von einer Macht, die den Krieg nicht wegen des Schutzes der eigenen Territorien führte, von einer Macht schließlich, die durch ihr Eingreifen den Krieg erst zum Weltkrieg ausgeweitet hatte. Je weniger die Engländer diesen Sachverhalt wahrhaben wollten, um so verbissener hielten sie an dem Anspruch fest, der für sie so viele Jahrzehnte ein politisches Dogma gewesen war: daß Großbritannien die einzige Seemacht der Welt war, von Gott zum Königtum über die Meere bestimmt - und um so heftiger klammerte es sich an das Sichtbare, an seine Flotte.
Der amerikanische Präsident Wilson legte in seiner Jahresbotschaft vom 8. Januar 1918 ein Programm vor, dessen 14 Grundsätze nach Beendigung des Weltkrieges das Fundament der Friedensordnung sein sollten. Wilson meinte es mit diesen Vierzehn Punkten außerordentlich ernst; hier wurde tatsächlich ein Wechsel von der alten Gleichgewichtspolitik zu einer Politik der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Nationen proklamiert. Das aber bedeutete eine durchgreifende Entwertung liebgewordener Legitimationen unter den Szeptern der politisch-militärischen Macht. Im 19. Jahrhundert war ein Krieg durchaus gerechtfertigt, falls er zwecks Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts dienlich erschien. In der Einkreisung Deutschlands und dem Aufmarsch gegen die Mittelmächte vor I914 sind zahlreiche Elemente einer Politik enthalten, die im 19. Jahrhundert beheimatet war, nicht aber in der anhebenden Epoche unserer jüngsten Zeit, die im Imperialismus alter Prägung nichts anderes mehr sehen konnte als eine Haut, die so rasch wie möglich abzustreifen war.
Präsident Wilson hatte schon im zweiten Punkt seines neuen Programms die »absolute Freiheit der Schiffahrt auf den Meeren außerhalb der Hoheitsgewässer in Frieden und Krieg« gefordert. In dieser schlichten Formulierung gaben die Vereinigten Staaten, verkörpert in ihrem Präsidenten, dem Blockade- und Kaperkrieg seinen Todesstoß, sie ächteten den U-Boot-Krieg, sie sparten den Raum der Weltmeere als eine politisch-militärische Freiheitszone aus und verneinten damit von Grund auf den Gedanken und die Existenz der Oberherrschaft eines einzigen Staates auf den Ozeanen. Für das imperiale Denken der Briten war das ein Schlag ins Gesicht, vor allem deshalb, weil ihnen damit Amerika nachdrücklich die Erinnerungen an ihre eigenen Argumente ins Gedächtnis rief, mit denen sie sich 16. und I7. Jahrhundert in den Kampf um die Weltmeere gestürzt hatten: mit dem Schlachtruf nach »Freiheit der Meere«."
(Quelle: Hellmut Diwald, Der Kampf um die Weltmeere, München 1980, S. 349-352, S. 354-358, S. 413-417)
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Hellmut Diwald
Rotchinas Heldenepos:
Der lange Marsch des Mao Tse-tung
"Das militärische Schwergewicht des Ersten Weltkrieges lag in Europa und dem Vorderen Orient. Doch seine Bezeichnung als eines "Welt-Krieges" war nicht nur dadurch gerechtfertigt, daß sich fast alle bedeutenden Mächte und Völker der Erde beteiligten - mehr als dreißig Staaten. Der Kriegsschauplatz umspannte den ganzen Globus. Im Fernen Osten war der Beginn des Weltkrieges für Japan das Signal, sich eines Gebietes zu bemächtigen, dessen künftigen Besitz es sich von England schon im Jahr 1911 hatte garantieren lassen.
Tokio bekam damals von den Briten das Vorrecht an dem deutschen Pachtgebiet Kiautschou auf der Halbinsel Shangtung mit dem Hafen Tsingtau bestätigt. Am 16. August 1914 richtete Japan an Deutschland die Aufforderung: Das Gebiet solle umgehend geräumt werden. Begründet wurde das Verlangen damit, daß Tokio "alle Anlässe zur Friedensstörung in Ostasien beseitigen und die im Bündnisvertrag zwischen Japan und Großbritannien vorgesehenen allgemeinen Interessen gewährleisten" wolle. Das Ultimatum wurde nicht beantwortet, daraufhin erklärte Japan am 23. August Deutschland den Krieg.
Zu den „allgemeinen Interessen“ gehörte in erster Linie Japans Interesse an Shantung. Die Tatsache, daß Tokio von Deutschland in keiner Weise provoziert worden war, hatte mit Japans Interesse nichts zu tun. Am 7. November 1914 mußte die deutsche Besatzung Tsingtaus kapitulieren, die Japaner besetzten das Pachtgebiet und bei dieser guten Gelegenheit auch die pazifischen Inseln des Deutschen Reiches. Nachdem die Operationen abgeschlossen waren, stellte Japan seine aktive Teilnahme am Ersten Weltkrieg ein. Es konzentrierte sich auf China, und dabei ließ es sich auch nicht durch den heftigen, aber wohlweislich gut gedämpften Zorn Englands beeindrucken.
Kiautschou war nur die erste Etappe, es war ein Sprungbrett. Japans Augen blieben starr auf China gerichtet. Nach dem russisch-japanischen Krieg 1904/1905 war die Mandschurei zwischen beiden Mächten in Einflußsphären aufgeteilt worden. Die Mandschurei aber war das Stammland des Kaiserhauses Chinas. Um den Bestand der Dynastie zu retten, entschloß sich der Hof zu Peking, die schon seit langer Zeit verlangten Reformen durchzuführen. Doch, wie üblich, wurde die Sache halbherzig angegangen. Die Maßnahmen schürten nur die Spannungen, statt sie zu dämpfen. 1911 erfaßte eine Revolte des Militärs, von Wuhan im Herzen Chinas ausgehend, das ganze Land. Am Ende des Jahres etablierte sich in Nanking eine neue Regierung. Kurze Zeit lag die Führung in der Hand des Revolutionärs Sun Yat-sen. Als China zu einer Republik erklärt wurde, dankte der letzte Kaiser Puyi ab.
Dem Zusammenbruch des Kaiserreiches folgte eine lange Phase von Machtkämpfen im Inneren. Schließlich konnte Marschall Yuan Shikai die Zentralgewalt an sich bringen. Er verbot die Partei Sun Yat-sens, die Kuomintang, und ließ sich 1914 zum Präsidenten auf Lebenszeit wählen. Nach seinem Tod war es jedoch mit der Zentralgewalt vorbei, China wurde von einem permanenten Bürgerkrieg geschüttelt, an dem sich die unterschiedlichsten Gruppen und Lokalherren in den verschiedenen Regionen beteiligten. Sun Yat-sen gelang es in dieser Zeit, in Südchina mit dem Schwerpunkt Kanton ein neues System der Herrschaft zu errichten, mit dem Ziel, es auf ganz China auszuweiten.
Nutznießer dieser Selbstzerfleischung war Japan. Es setzte 1915 ultimativ seine »Einundzwanzig Forderungen« durch. Sie liefen darauf hinaus, China militärisch, wirtschaftlich und politisch unter die Hegemonie Japans zu zwingen. Die Vereinigten Staaten versuchten zwar, den Expansionsdrang Japans zu bremsen, doch Tokio war nur bereit, die Forderungen ein wenig zu mildern. Der neue Katalog wurde in Peking mit der Drohung überreicht, daß sich Japan "alle weiteren Schritte vorbehalte", falls die Regierung von Präsident Yuan Shikai nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden unterschreibe.
Um die Gefahr einzudämmen, zu einem Satelliten Japans herabzusinken, trat China am 1. August 1917 auf der Seite der Alliierten in den Krieg gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn ein. Es hoffte, sich bei den Friedensregelungen nach dem Sieg auf die "Vierzehn Punkte" des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson berufen zu können. In ihnen war das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" festgeschrieben, und deshalb hätte Japan das deutsche Pachtgebiet von Kiautschou und damit Shantung an China zurückgeben müssen. In einem solchen Fall wäre der Griff Japans beträchtlich geschwächt worden.
China den Chinesen
Ein Vergleich mit den geschlagenen Mittelmächten zeigt, daß China, obwohl es formell ebenfalls zu den Siegern des Ersten Weltkriegs gehörte, ähnlich zerrüttet war wie Deutschland und sich vor demselben Zerfall befand wie das Habsburger und das Osmanische Reich. Die Regierung in Peking besaß im wesentlichen nur noch dekorative Funktionen. Im Inneren des Landes hatten sich während des Bürgerkrieges Provinzialtyrannen festgesetzt, die durchweg eigene Ziele verfolgten. Geeint waren sie lediglich dank der Feindschaft aller gegen alle, geeint waren sie freilich auch durch den Ausländerhaß. Denn in die landesweite Anarchie waren die Niederlassungen der fremden Mächte behaglich eingebettet; sie fühlten sich seit dem neunzehnten Jahrhundert im Reich der Mitte überaus wohl. England, Japan, Frankreich, Italien, ja selbst die Vereinigten Staaten hatten in diesen Territorien Truppen stationiert. Ob sie als ein unerläßlicher Schutz der Enklaven bezeichnet oder als ein Charakteristikum der Ohmacht Chinas betrachtet wurden, war eine Frage der Perspektive. Die Kuomintang, die Stimme des chinesischen Nationalismus, prangerte die ausländischen Konzessionen besonders leidenschaftlich als Schmach und unerträgliche Minderung der chinesischen Souveränität an. Die Befreiung von den Fremden und ihrem Einfluß, dem letztlich nur wirtschaftliches Profitstreben zugrunde lag, hatten sich selbst die schwächsten und abseitigsten der vielen revolutionären Gruppierungen in China zum Ziel gesetzt. Die kleinste von ihnen bestand aus ganzen zwölf Mitgliedern. Dieses Dutzend Männer gründete am 1. Juli 1921 die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Ihr Kopf hieß Shen Tu-ksin, sein begabtester Adept und Mitarbeiter war Mao Tse-tung. Mao war damals knapp dreißig Jahre alt. Den Marxismus kannte er noch nicht lange. Er hatte die Lehrschriften gründlich studiert, war fasziniert und bekannte sich rasch offen zu den kommunistischen Thesen und Dogmen.
Die Parolen der Kommunistischen Internationale wecken in China allerdings kein Echo. Leicht zu verstehen, denn China leidet seit bald einem Jahrhundert unter der internationalen Einmischung: vom Opiumkrieg bis zum „Prinzip der offenen Tür“, dem amerikanischen Schlagwort des Wirtschaftskolonialismus. Deshalb setzt Wladimir Iljitsch Lenin auf den chinesischen Nationalismus. Wenn er ihn als Instrument benutzen kann, ist ein weit schnellerer Erfolg zu erwarten als durch eine offene, unmittelbare Unterstützung der chinesischen Kommunisten. Außerdem war die Basis der Nationalisten unvergleichlich breiter als bei den jungen Parteigängern von Karl Marx und Friedrich Engels.
So kam es, daß der sowjetische Pragmatismus einen seiner ersten und wichtigsten Erfolge verzeichnen konnte. Die Sowjetrussen arrangierten sich mit den Kuomintang. In einem gemeinsamen Manifest wurde erklärt, daß sich „die kommunistische Ordnung und auch das Sowjetsystem als solches nicht auf China übertragen“ lassen, gleichzeitig bekundete Rußland seinen Willen, den Befreiungskampf der Kuomintang selbstlos zu unterstützen. Nach dieser Erklärung gestattete Sun Yat-sen, daß auch Kommunisten in seine Partei eintreten dürften. Allerdings wurde ihr Anteil in den Führungsgremien der Kuomintang auf höchstens ein Drittel begrenzt. Die "selbstlose Unterstützung" Moskaus bestand zunächst darin, daß Lenin den erfahrenen General Wassilij Blücher als militärischen Instrukteur sandte und den Funktionär Michail Borodin als politischen Berater.
Die führenden Politiker auf beiden Seiten waren sich über die eigentliche Natur dieses Bündnisses völlig im klaren. Die Motive waren auch durchsichtig genug, ebenso eindeutig waren die Ziele. Nach dem Tod des „kleinen Doktors Sun" im März 1925 wurde Tschiang Kai-schek sein Nachfolger als Führer der Kuomintang. Der General hatte seine Ziele in Rußland auch zu sorgfältigen Studien genutzt. Seine Meinung ließ nichts zu wünschen übrig: „Der Kommunismus ist nichts anderes als das Zarentum unter einem anderen Namen. Seine Politik in Asien zielt darauf ab, die Mandschurei, Mongolei und Tibet, sowie Sinkiang zu Vasallen der UdSSR zu machen.“ Allerdings wußte der hochqualifizierte Offizier Tschiang Kai-schek sehr gut, daß nur die Sowjetunion in der Lage und auch bereit war, der Kuomintang bei der Aufstellung und Ausbildung einer Armee zu helfen - derjenigen Armee, die Tschiang Kai-schek so dringend benötigte und die er führen wollte.
Flucht der Sowjets nach Sibirien
Im Juli 1926 bricht Tschiang Kai-schek von Kanton aus mit einhunderttausend Mann zu dem „Großen Feldzug" auf, um den Norden Chinas zu erobern. Eine Serie von glänzenden Siegen bringt ihn schon nach einem dreiviertel Jahr bis vor Schanghai, dem "Symbol des westlichen Imperialismus in China“. In Sowjetrußland wird bereits über den Sturm auf diese "Bastille des Kapitalismus" triumphiert. Aber die ausländischen Mächte sind auf der Hut. Sie konzentrieren Kriegsschiffe, landen zusätzlich zwanzigtausend Mann, sie sichern ihre konzessionierten Gebiete wie Festungen.
Tschiang Kai-schek hat über die Prioritäten keine Zweifel. Inmitten des Feldzuges stellt er die Partei auf eine Zerreißprobe. Es wird darum gerungen, ob die Kuomintang in eine sowjetische Tochterpartei verwandelt werden soll oder nicht. Tschiang Kai-schek fackelt nicht lange. Er beseitigt in seinem Herrschafts- und Einflußbereich alle Kommunisten auf dem schnellstmöglichen Weg, nämlich mit Pistolen, Gewehren, Schnellfeuerwaffen. Höhepunkt ist das Kommunistenmassaker am 12. April 1927 in Schanghai. Die Zahl der Ermordeten geht in die Hunderte. Nach wenigen Wochen zeichnet sich der Kurs von Tschiang Kai-schek wie mit dem Messer geschnitten ab: China den Chinesen, Abzug aller Fremden, doch nicht mit bloßer Gewalt erzwungen - Abzug aller Russen, notfalls auch mit Gewalt. Moskau reagiert auf diese Provokation verblüfft, hölzern, ungeschickt. Vor allem bringt es durch den Befehl, in ganz China umgehend marxistische Grundsätze in der Moskauer Variante durchzusetzen, auch wohlwollende Gruppierungen gegen sich auf. Die sowjetischen Berater, Ausbilder, Funktionäre müssen das Land Hals über Kopf verlassen. Sie fliehen nach Sibirien.
Nach einem Rückschlag in Shantung rüstet sich Tschiang Kai-schek zur Eroberung Pekings. Bevor es allerdings soweit ist, hat seine Armee den ersten Zusammenstoß mit einem Gegner, der zwar von den Chinesen ebenfalls zu den Ausländern gezählt wird, der aber im Grunde mit den Fremden genausowenig zu tun hat wie China selbst. Daß Japan keineswegs zu den weißen Imperialisten gehört, weiß Asien spätestens seit dem diskriminierenden Einwanderungsverbot, das Amerika im Jahre 1924 erlassen hat. Japan bleibt für China allerdings trotzdem eine imperialistische Macht. Die Erwartung, daß die Japaner die Mandschurei verlassen würden, hat Tokio nicht erfüllt; auch Shantung ist von ihnen nicht völlig geräumt. Sie kontrollieren nach wie vor sämtliche mandschurischen Eisenbahnen. Im gleichen Jahr 1927 übernimmt in Japan der General und Baron Tanaka Giichi die Regierung. Er gibt den Auftakt zu Japans aktiver Asienpolitik. Die Zukunft des Landes der aufgehenden Sonne, so verkündet er, hänge von seiner Ausdehnung auf dem Festland ab. Diese Expansion würde mit oder ohne chinesische Billigung stattfinden. Tanaka verfolgte deshalb den Siegeszug der Kuomintang mit größter Aufmerksamkeit. Die Absichten Tschiang Kai-scheks richten sich offenkundig nicht nur auf Peking, sondern erstrecken sich auf den Norden Chinas. Damit läßt sich der Termin, wann es in der Mandschurei zu einem Zusammenstoß mit Japan kommen muß, von jedem ausrechnen.
Als sich die Truppen Tschiang Kai-scheks im Sommer 1928 Peking nähern, empfiehlt der japanische Botschafter dem chinesischen Oberbefehlshaber und Diktator in der Mandschurei, Tschang Tso-lin, sich nach Mukden zu begeben. Auf der Fahrt wird der Wagen seines Sonderzuges durch eine Bombe in die Luft gesprengt, Tschang Tso-lin getötet. Offiziere der japanischen Garnison in der südlichen Mandschurei haben das Attentat geplant. Sie sehen in dem chinesischen Befehlshaber das Haupthindernis für die vollständige Besetzung der Mandschurei durch japanische Truppen. Außerdem argwöhnen sie, daß Tschang Tso-lin im Zweifelsfall eine Vereinigung mit den nationalrevolutionären Kuomintang nicht ablehnen würde. Seine Ermordung soll das Signal zur Eroberung Mukdens durch japanische Truppen sein.
Doch die Armeeführung ist anderer Meinung als die Verschwörer. Der Plan des Jahres 1928 wird erst im September 1931 ausgeführt, die Mandschurei gewaltsam besetzt. Fünf Tage nach dem Attentat auf Tschang Tso-lin, am 8. Juni, erobert die Armee der Kuomintang die Hauptstadt Peking. Damit hat Tschiang Kai-schek China geeint. Die letzten Widerstände, die in den folgenden Jahren noch aufflackern, kann er brechen.
Die roten Rebellen
Nicht brechen kann er allerdings im Südosten eine Opposition, die sich im wesentlichen dank der Arbeit von Mao Tse-tung formiert hat und die eine wachsende Unterstützung durch die Bauern findet. Das Programm läuft auf einen lockeren Putschismus und ständige Guerillaaktionen hinaus. Überall in den Städten und auf dem Land sollen Aufstände organisiert werden, um das Volk wachzurütteln und die Bedingungen für die allgemeine Revolution zu schaffen. Der wichtigste Stützpunkt liegt im Gebiet um Kiangsi. Allerdings widerspricht es völlig den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels und ebenso den Thesen der Moskauer Orthodoxie, die kommunistische Revolution mit Hilfe einer roten Bauernarmee durchzuführen. Doch bei den chinesischen Bauern liegen deshalb alle Hoffnungen auf eine Erhebung, die das ganze Land ergreift, weil sie aufgrund der Unterdrückung durch die Grundbesitzer und wegen der ständigen Eintreibungen von Geld am meisten verbittert und deshalb auch bereit sind, sich sogar zu aussichtslosen Aktionen hinreißen zu lassen.
Mao bleibt zunächst allein, aber seine Agitation und der Einfluß seiner Bauernarmee breitet sich in Sprengseln und zum Teil festen Widerstandsnestern bis in den Norden aus. Wo die roten Rebellen die Macht erobern, vertreiben sie die Grundbesitzer, verteilen den Boden neu, führen eine Ordnung ein, die nichts mit den traditionell korrupten Verhältnissen zu tun hat. Diese Territorien erhalten eine Selbstverwaltung, die chinesischen Kommunisten bezeichnen sie deshalb auch als „Sowjetgebiete“. Im Februar 1930 gründet Mao den Zentralsowjet in Kiangsi, die Stadt Juikin wird der Hauptsitz. Neben Mao ist besonders Tschou En-lai unermüdlich aktiv. Die chinesischen Sowjetgebiete sind freilich recht schwankende Inseln, etliche zerfallen nach kurzer Zeit, einigermaßen stabil erweist sich nur Kiangsi.
Beträchtlich erschwert wird die Lage durch die innere Zerrissenheit der chinesischen Kommunisten. Grund dafür war der Gegensatz zwischen der orthodoxen Linie Moskaus und derjenigen Mao Tse-tungs, also zwischen dem russischen Rat und der chinesischen Realität. Die Führung im Kreml war überzeugt, daß die Revolution nur von einer städtisch-proletarischen Basis aus gelingen konnte; so forderte es die Theorie. Mao aber hielt sich an die alte Tradition der chinesischen Bauernaufstände, denn wenn in China überhaupt ein „revolutionäres Potential“ zu finden war, dann bei dem unübersehbaren Heer der geschundenen und ausgepreßten Pächterbauern. Mao Tse-tung erklärte kategorisch: "Der Kampf der Bauern um Land ist der Grundzug des antiimperialistischen und antifeudalistischen Kampfes in China. Die chinesische bürgerlich-demokratische Revolution ist im wesentlichen eine Bauernrevolution. Die Hauptaufgabe des chinesischen Proletariats in der bürgerlich-demokratischen Revolution ist folglich, dem Kampf der Bauern Führer zu geben.“
Trotz aller Rückschläge wird Maos "Ketzerei« durch die tatsächliche Entwicklung bestätigt. Sie gibt ihm recht. Fast alle Versuche der chinesischen Kommunisten, bei den Arbeitern in den Städten Fuß zu fassen, waren gescheitert. Ende 1928 findet sich in einem Rundschreiben der Partei die Klage: „Unglücklicherweise wurden unsere Parteieinheiten in den Großstädten pulverisiert und isoliert. Nirgends in China können wir eine solide industrielle Zelle finden.“ Trotzdem halten die orthodoxen Theoretiker an ihrer Meinung fest. Für sie ist Mao ein "Rechtsabweichler". Li Li-san dekretiert: "Die Bauernschaft ist kleinbürgerlich und kann keine richtigen Ideen hinsichtlich des Sozialismus haben. Ihr Konservatismus ist besonders stark, außerdem fehlen organisatorische Fähigkeiten. Nur eine proletarische Mentalität kann uns auf den richtigen revolutionären Weg führen. Wenn die Partei den Standpunkt von Mao Tse-tung akzeptiert, daß das flache Land vor den Städten erobert werden muß, werden unsere Haare weiß geworden sein, bevor die Revolution siegreich ist."
Doch wieder einmal richtet sich auch in China die Wirklichkeit nicht nach der Theorie. Während des Jahres 1929 kann die Gruppe um Mao mit Hilfe der bäuerlichen Rebellenkontingente die „Sowjetgebiete“ in China zunehmend erweitern. Immer größere Bereiche gelangen unter ihren Einfluß. Schließlich wird die Mao-Gruppe auch von den früheren Gegnern unter den Kommunisten als "die Fraktion der wirklichen Macht« bezeichnet. Nun aber begeht das Zentralkomitee den Fehler, sich der Bauernarmeen Mao Tse-tungs und Tschu Tehs zu bedienen. Mao, in Verkennung der Kräfteverhältnisse, widersetzt sich nicht. Die Rote Armee soll im September 1930 von Kiangsi aus nach Norden vorstoßen, Industriestädte besetzen und dadurch die große Erhebung auslösen. Ob schon vor Beginn des Angriffs ernste Zweifel daran bestehen, wie sinnvoll dieser Befehl ist, muß offen bleiben. Ein Gedicht Maos während des Vormarsches dokumentiert seine Überzeugung von dem bevorstehenden Sieg. Später aber erklärte Tschu Teh, daß sie die Maßnahme für falsch gehalten hätten: "Mao und ich fühlten das, aber wir besaßen keine ausreichenden Informationen, um den Plan ablehnen zu können; wir standen mit unseren düsteren Befürchtungen praktisch allein."
Die Feldzüge der Umzingelung Tschiang Kai-scheks
Noch weit einsamer fühlten sie sich allerdings, als die roten Bauernarmeen von der schweren Artillerie und den Flugzeugen der Kuomintang zusammengeschossen wurden. Das Desaster hatte den einzigen Vorteil, daß es nun nicht mehr zweifelhaft war, in wessen Händen die Führung der Kommunisten Chinas lag: in den Händen Mao Tse-tungs. Doch der Trost war schwach, denn nunmehr entschloß sich Tschiang Kai-schek, rücksichtslos mit den roten Rebellen aufzuräumen. Kurz nach dem Erfolg im Herbst 1930 beginnt eine Reihe von Operationen, die sämtlich als Feldzug der Umzingelung und Einkreisung angelegt sind mit dem Ziel, die Rote Armee zu vernichten. Die erste Aktion dauert bis Ende Januar 1931. Die Kuomintang greift mit einhunderttausend Mann an, doch Mao und Tschu Teh lassen die Truppen tief in das eigene Gebiet, greifen dann mit überlegenen Kräften schwächere Einheiten an, vernichten sie, ziehen sich zurück, konzentrieren sich rasch an einer anderen Stelle und greifen die Regimenter Tschiang Kai-scheks erneut und entschlossen an. Die Bauerntruppen Maos bestehen glänzend die Generalprobe der Guerillataktik.
Bei dem zweiten Einkreisungsfeldzug im Frühjahr 1931 setzt Tschiang Kai-schek eine doppelt so starke Armee ein. Das Unternehmen wird erneut zu einem reinen Fehlschlag. Maos Truppen machen nicht nur zwanzigtausend Gefangene, sondern sie erbeuten auch deren Waffen. Den dritten Umzingelungsfeldzug im Sommer 1931 führt Tschiang Kai-schek persönlich. Die Truppen der Kuomintang treten in einer Stärke von dreihunderttausend Mann an, ein Vielfaches von Maos Armeen. Eine Niederlage, ja die fast sichere Vernichtung des Kiangsi-Sowjet bleibt Mao nur deshalb erspart, weil Tschiang Kai-schek das Unternehmen im Oktober abbrechen muß: Die Japaner besetzen die Mandschurei.
Zu diesem Zeitpunkt läßt sich die Bilanz durchaus sehen. Die Bauernarmee Maos und Tschus hat eine Stärke von zweihunderttausend Mann, sie verfügt über einhundertfünfzigtausend Gewehre, sie kontrolliert ein Gebiet, in dem zweieinhalb Millionen Menschen leben. Der "Erste All-China-Sowjetkongreß" im November 1931 bestätigt, wenn auch mit Vorbehalten der noch immer nicht eines Besseren belehrten, orthodoxen Funktionäre, die führende Rolle Mao Tse-tungs. Allerdings bleibt unausgesprochen auch das Konzept der inneren Gegner erhalten, sich Maos zu bedienen als eines Mittels zu Zwecken, die mit seinen eigenen Vorstellungen nichts zu tun haben.
Sein einflußreichster Gegenspieler war damals der hochintelligente Tschou En-lai. Der Gegensatz nahm zeitweilig die Form eines offenen Machtkampfes an. Im Mai 1933 gelang es Tschou En-lai, während der Auseinandersetzungen um die Strategie der Kriegsführung Mao die Führung der Roten Armee abzunehmen. Mao war damit so gut wie entmachtet. Sein Plädoyer für den Guerillakrieg wurde als romantisch und mittelalterlich verspottet, als "ultra-vorsichtiger Guerillaismus« verhöhnt. Mao war zu dieser Zeit körperlich gehandicapt. Wegen einer schweren Krankheit mußte er vier Monate in eine Klinik.
Das Zerwürfnis wurde noch beträchtlich verschärft durch die heftigen Auseinandersetzungen in der Frage, wie sich die Kommunisten gegenüber den Japanern verhalten sollten. Mao riet zu einer neuen Koalition mit den Kuomintang, Tschou En-lai wollte davon nichts wissen und verwarf Maos Gesamtkonzept als »Rechtsopportunismus«. Zunächst schien Tschou En-lai bestätigt zu werden, denn der vierte Umzingelungsfeldzug Tschiang Kai-scheks, der im Juni 1932 begann, wurde ein Erfolg der roten Truppen; sie konnten sämtliche Angriffe abwehren, die Kuomintang, die eine Viertelmillion Mann ins Feld geschickt hatte, erreichte keines der gesteckten Ziele. Damit erhielten die Parteigänger Tschou En-lais Wasser auf ihre Mühlen.
Auf der anderen Seite hat sich Tschiang Kai-schek nach dem Einmarsch der Japaner schnell entschieden, wer sein Hauptgegner ist: Ein Krieg mit Japan hat, wenn überhaupt, nur mit einem auch im Inneren geeinten China Aussichten auf Erfolg. Also muß er endlich mit den kommunistischen Aufständischen, deren Bekämpfung soviel Kräfte bindet, fertigwerden. Nicht alle seine Mitarbeiter teilen diese Meinung, es kommt sogar zu Revolten. Doch er bleibt hart: »Zuerst muß die Rebellion im eigenen Land unterdrückt werden, ehe man einen äußeren Feind bekämpft.«
Die Euphorie der Kommunisten nach dem zurückgeschlagenen vierten Feldzug der Kuomintang verfliegt wie Rauch, als sich Tschiang Kai-schek im August 1933 zum fünften und letzten Umzingelungsfeldzug entschließt. In dieses Unternehmen gehen alle Erfahrungen ein, die man bisher hat machen müssen. Es ist vorzüglich organisiert und weit besser geplant als sämtliche Feldzüge, die vorangegangen sind. Tschiang Kai-schek bringt fünfundsiebzig Divisionen mit nahezu einer Million Soldaten zusammen. Er verfügt über vierhundert Flugzeuge, sein Waffenarsenal scheint unerschöpflich zu sein. Der Plan dieses Vernichtungsfeldzuges hat der deutsche General Hans von Seeckt, der wichtigste Militärberater Tschiang Kai-scheks, entworfen.
Tschiang Kai-schek kesselt die Roten weiträumig ein, zieht den Ring systematisch und unerbittlich immer enger, sichert die Linien durch Stacheldraht, Betonbunker und breite Zonen verbrannter Erde, räumt zielstrebig das ganze Gebiet um Kiangsi von Guerillas, deportiert die Bauern oder läßt sie erschießen. Bis zu einer Million Menschen sollen während dieses letzten Feldzuges gefallen oder in den abgeriegelten "roten Schlupfwinkeln“ verhungert sein. Jede Woche bringt die Kuomintang dem Ziel näher: dem völligen Abwürgen der kommunistischen Basis im Südosten, in Kiangsi. Als Mao und Tschu Teh bemerken, daß sie dieser schraubenartigen Verengung der militärischen Ringe nicht gewachsen sind, empfehlen sie schon frühzeitig, daß die Rote Armee die Basis aufgeben, die Umzingelung durchbrechen und im Norden und Osten hinter den Frontlinien zum Guerillakrieg übergehen solle. Maos Gegner im eigenen Lager aber setzen weiterhin auf die traditionelle Form des Defensivkrieges: Schützengräben, Bunker, Stellungskampf.
Im April 1934 wird ihnen von Tschiang Kai-schek die Antwort gegeben. Die Roten werden in einer Schlacht an der Grenze zwischen Fukien und Kiangsi katastrophal geschlagen, sie beklagen viertausend Tote und zwanzigtausend Verwundete. Damit ist die Rote Armee so gut wie verstümmelt, ja im Rückgrat gebrochen. Der Tag, da Tschiang Kai-schek in der roten Hauptstadt Juikin des Kiangsi-Sowjets einmarschieren wird, ist bereits in Sicht.
Ausbruch
Jetzt gab es keine Diskussionen mehr über die richtige militärische Strategie, jetzt gab es nur noch Überlegungen, wie die Reste der Roten Armee zu retten waren oder ob man Verharren und den „heldenhaften Untergang“, die totale Vernichtung, hinnehmen sollte. Zunächst wurden drei getrennte Durchbruchsversuche in unterschiedliche Richtungen unternommen. Später bezeichnete man sie, nicht ganz glaubhaft, als Ablenkungsmanöver, um den Ausbruch der Hauptarmee vorzubereiten. Mao Tse-tung litt in dieser schlimmsten Zeit der roten Revolution Chinas noch immer an der Malaria, wurde geschüttelt von Fieberanfällen. Die militärische Lage war deprimierend, die Bauernsoldaten warfen die Waffen weg und suchten einen Weg nach Hause. Eine rote Armeezeitung stellte fest: "Desertion ist jetzt ein schrecklicherer Feind geworden als Tschiang Kai-schek."
Der entscheidende Entschluß führte auch alte Gegner zusammen. In der Nacht des 2. Oktober 1934 wurde der Entschluß gefaßt, die Basis in Kiangsi aufzugeben und den Ausbruch zu versuchen. An der Besprechung nahmen sowohl Mao als auch Tschou En-lai teil. Die ganze Aktion war nichts weiter als der verzweifelte Versuch, einer verzweifelten Lage noch so etwas wie ein Überleben abzugewinnen. Alle späteren Erklärungen und Behauptungen, daß dem Ausbruch ein bestimmter, weitreichender Plan zugrunde gelegen hätte, sind Beschönigungen. Am aufrichtigsten war Mao, als er 1936 nach dem Konzept gefragt wurde: „Wenn Sie meinen, ob wir exakte Pläne hatten, lautet die Antwort, wir hatten keine. Wir beabsichtigten, aus der Einkreisung auszubrechen und uns mit anderen Sowjets zu vereinigen.«
Der Durchbruch gelang. Doch unter welchen Opfern! Ein chinesischer Historiker schreibt: »Erschöpft nach monatelangen Kämpfen, Unterernährung, Salzmangel, Niederlagen waren die Männer der Roten Armee geschwächt. Aber diese unglaublichen Bauern und Arbeiter warfen sich gegen die Linien der Bunker, MG-Nester, Gräben, Befestigungen und Stacheldrahtverhaue, welche die Juikin-Basis einschlossen, und durchbrachen sie. Neun Schlachten wurden gegen die hundert Regimenter der Kuomintang gefochten, fünfundzwanzigtausend Rote Soldaten ließen bei dem Durchbruch ihr Leben.«
Zwanzigtausend Verwundete mußten zurückgelassen werden. Die Erste Frontarmee der »Kommunistischen Partei Chinas", die zum Langen Marsch aufgebrochen war, bestand aus den Resten der noch verhältnismäßig intakten Kampfgruppe der Roten Armee. Die Gesamtzahl ist nicht mehr festzustellen. Die niedrigste Schätzung beläuft sich auf fünfundvierzigtausend reguläre Soldaten, die höchste auf etwa achtzigtausend. Dazu kamen rund fünfzehntausend Beamte der chinesischen Sowjetregierung. Nicht eingeschlossen sind eine erhebliche Zahl von Guerillas und Partisanen; es handelte sich aber schwerlich um mehr als dreißigtausend Kämpfer. Dazu kamen schließlich noch zahlreiche Familien der regulären Soldaten, kamen ihre Frauen und die Kinder.
Am hinderlichsten bei dem Marsch war die Schwerfälligkeit des Trosses. Druckerpressen, alle Geldbestände in Goldbarren und Silber, Abertausende von Dokumenten, schwere Waffen, Munition, Reis, Büromaterial, Werkzeuge, Maschinenteile, das ganze Gepäck wurde auf Maultiere und Esel verladen, und diese Kolonne zog den Kerntruppen mühselig nach. Manchmal blieb sie bis zu fünf Tagesmärschen zurück. Und Tag für Tag, Woche für Woche wurden während des Langen Marsches die Kolonnen Maos aus der Luft angegriffen, mit Bomben und Maschinengewehrfeuer belegt. Etliche hunderttausend Mann der Kuomintang griffen ununterbrochen von den Flanken aus an. Tschiang Kai-schek mobilisierte seine besten Truppen. Er baute Befestigungslinien, die Maos Rote Armee in die ödesten Gebiete abdrängte, über fünftausend Meter hohe, schnee- und eisbedeckte Berge zwang, durch reißende Fluten und tückische Sümpfe. Mao und seine Soldaten brachten eine Strecke von mehr als zehntausend Kilometern hinter sich, sie waren ein volles Jahr unterwegs, genau dreihundertachtundsechzig Tage. An zweihundert Tagen fanden Schlachten statt, zu kleineren Gefechten kam es fast täglich. Von den rund einhunderttausend Mann erreichten nur fünftausend das Ziel. Bis auf die wenigen, die während des Marsches zurückblieben, fielen die anderen in den Kämpfen, verhungerten, erfroren, ertranken in den Flüssen, starben an Schwäche, stürzten in Schluchten, wurden Opfer von Seuchen.
Mao litt bei Beginn des Langen Marsches noch unter der abklingenden Malaria. Einer der Teilnehmer schildert ihn als „dünn und abgezehrt“. Trotz seiner Schwäche lehnte er später ein Pferd oder die Beförderung in einer Sänfte ab und marschierte meist zu Fuß. Als er einen Rückfall erlitt, mußte er auf einer Bahre getragen werden.
Die zuverlässigste Hilfe war seine unermüdliche Ordonnanz, der zwanzigjährige Leibwächter Tschen Tschang-feng. Er schrieb später ein kleines Buch über den „Langen Marsch“. Die einfache Schilderung ist eindrucksvoller als das meiste, was später von so vielen, die nicht daran teilgenommen hatten, geschrieben wurde:
AUS DEM BERICHT VON TSCHEN TSCHANG-FENG ÜBER DEN „LANGEN MARSCH“
Mit Beginn des Fünften Einkreisungsfeldzugs des Feindes wurde die Lage kritisch. Seine Flugzeuge erschienen zu jeder Tageszeit über unseren Köpfen, warfen Bomben ab und belegten uns wahllos mit Maschinengewehrfeuer.
In diesen Tagen hatte Vorsitzender Mao noch mehr zu tun als früher. Mit Genossen Hsieh Tschueh-tsai zusammen wohnte er in einem großen Tempel auf einem Berg.
Am Tage stieg er drei Li herab, um an den Sitzungen des Militärrates teilzunehmen. War er zurückgekehrt, blieb er noch lange auf und schrieb. Oft schickte er mich noch spät nachts hinab, um die Sachen, die er geschrieben hatte, dem stellvertretenden Vorsitzenden Tschou En-lai und anderen Funktionären zu übergeben. Ich wußte nicht, was das für Manuskripte waren, bis sie später als auf rotem und grünem Papier gedruckte Broschüren erschienen. Es waren die Schriften über Fragen der Taktik im Partisanenkrieg. Um diese Zeit erhielten wir vom Vorsitzenden Befehl, uns nur mit leichter Ausrüstung zu versehen, da wir an die Front gingen. (Wir wußten nicht, daß damit der Lange Marsch nach Norden gemeint war.) Wir von seiner Leibwache fanden das sehr sonderbar. Warum wurde so streng auf die Einhaltung dieses Befehls geachtet? Selbst Vorsitzender Mao ließ seinen neunfächrigen Tornister zurück. Seine ganze Ausrüstung bestand aus zwei Decken, einem Baumwollaken, einem Wachstuch, seinem abgetragenen Mantel, dem kaputten Regenschirm und einem Bündel Bücher.
„Wir gehen an die Front, um zu kämpfen“, das war überall Thema lebhafter Diskussionen. Ende September verließen wir zusammen mit Vorsitzendem Mao Gaobinao und marschierten nach Yüdu.
Der 18. Oktober 1934 ist für die Geschichte der chinesischen Revolution ein unvergeßlicher Tag. Nachmittags, kurz nach fünf Uhr, verließen wir, etwa 20 Mann, zusammen mit Vorsitzendem Mao Yüdu. Das war der erste Schritt auf dem Langen Marsch.
Als wir uns einem etwa 20 Li von Yüdu entfernten Ort näherten, hörten wir rufen und sahen in einiger Entfernung Licht schimmern. Der Heilgehilfe Dschung Futschang und ich wußten nicht, was wir davon halten sollten. „Das sind unsere Truppen“, klärte uns Vorsitzender Mao auf. Unsere Truppen? Ich überlegte. Als wir Yüdu verließen, waren wir keinem einzigen Soldaten begegnet. Wie konnten sich dann hier plötzlich so viele an einem Ort versammelt haben? Schließlich stießen wir auf eine große Ansammlung von Truppen der Roten Armee, zu beiden Seiten des Flusses. Der ganze Platz war von Lärm erfüllt. Tausende von Fackeln bewegten sich hin und her. Singen, Lachen und Rufen hallte aus einer Richtung zur anderen. Aus Pontons war über den breiten Fluß eine Brücke geschlagen worden, über die die Truppen in endlosem Strom marschierten.
Begeistert stürzte ich zum Vorsitzenden. "Woher haben wir die vielen Truppen?“ fragte ich erregt. „Das sind noch nicht alle“, war seine ruhige Antwort. „Viele sind diesen schon vorangegangen."
Passieren des Miao Gebietes
Nachdem die Rote Armee die vierte Blockadelinie des Feindes am Hsiang-Fluß durchbrochen hatte, erreichte sie im November 1934 eine Hauptverkehrsstraße an der Grenze der Provinzen Kuangsi und Hunan. In stockdunkler Nacht kam unsere kleine Gruppe dort an; wir waren zumeist nachts marschiert, um nicht von feindlichen Flugzeugen entdeckt zu werden. In der Morgendämmerung erreichten wir ein winziges Gebirgsdorf.
Wir waren marschiert und hatten gekämpft, und Vorsitzender Mao konnte keine vernünftige Mahlzeit zu sich nehmen. Sobald wir Rast machten, begaben sich Dseng Hsiän-dij - ein Genosse von der Leibwache - und ich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Die Bauern dieses kleinen Dorfes waren sehr arm. Das Einzige, was wir kaufen konnten, waren etwa 20 Pfund Süßkartoffeln. Ich kochte einige davon und brachte sie dem Vorsitzenden. Er saß auf einem kleinen Hocker und plauderte mit den Genossen von der Leibwache und dem Pferdepfleger, die sich um ihn versammelt hatten.
"Der Übergang über den Hsiang-Fluß war ein großer Erfolg“, sagte er. Wirklich war der Übergang über den Hsiang-Fluß am Abend vorher keine Kleinigkeit gewesen.
Dann erklärte er: „Wir werden bald das Gebiet erreichen, das von der Miao-Nationalität bewohnt ist.“
Das Gebiet der Miao! Das war etwas Neues. Ich erinnerte mich, daß uns ein Lehrer im politischen Unterricht einmal erzählt hatte, daß die Miao-Nationalität eine nationale Minderheit wäre, kulturell und wirtschaftlich sehr rückständig, daß sich ihre Gewohnheiten und Bräuche sehr von den unsrigen unterschieden und daß sie von der weißen Armee noch schlimmer verfolgt worden wären als wir. Aber wie sie aussahen, war mir immer noch ein Geheimnis.
»Es sind gerade solche Menschen wie wir von der Han-Nationalität", fuhr der Vorsitzende Mao fort. "Auch sie wollen gegen die Unterdrückung durch die weiße Armee den revolutionären Kampf führen. So sind sie unsere Brüder.« Vorsitzender Mao erzählte uns ausführlich, wie die Miao-Nationalität von der weißen Armee unterdrückt worden war, sprach über ihre Gewohnheiten und Bräuche, über ihre Religion u. a. m. Er trug uns auf, uns jetzt, wo wir durch das Gebiet der Miao-Nationalität marschierten, noch strikter als sonst an die Regeln für die Arbeit unter den Massen zu halten. Er warnte uns, herumzuwandern und Sachen der Miao-Nationalität anzurühren, die uns nicht gehörten.
Der Bericht des Vorsitzenden Mao hinterließ bei uns gewisse Zweifel. Kamen wir nun in eine „verbotene Zone?" Wie sollten wir uns verhalten, wenn wir unser Lager aufschlugen und uns irgendwelche Dinge borgen wollten? Ich fragte Vorsitzenden Mao, ob es zulässig wäre, eine Holztür für ihn zum Schlafen abzunehmen, wie wir es gewöhnlich taten, wenn wir irgendwo übernachteten. „Nein, das geht nicht!“ sagte er bestimmt. Dann fuhr er lächelnd fort: „Habe ich euch gewarnt, die Habe der Miao anzurühren?“ »Ja, worauf wollen Sie dann schlafen?« »Alles geht, nur nicht ihre Türen!«
Ich war ein bißchen niedergeschlagen und wußte nichts mehr zu sagen. Als der Morgen zu dämmern begann, brüllten die feindlichen Flugzeuge wieder ihren Todesgesang, warfen von Zeit zu Zeit Bomben ab, zerstörten die Heime der Menschen und entwurzelten den Reis auf den Feldern.
Im Morgengrauen des nächsten Tages, es ging gerade wieder einen Berg abwärts, erblickten wir am Fuße eines kleineren Berges uns gegenüber sonderbar aussehende Holzhäuser, wie wir sie früher nie gesehen hatten. Sie waren weder einstöckig noch zweistöckig, sondern hingen wie Körbe in der Luft. Vorsitzender Mao erklärte uns, daß wir jetzt im Gebiet der Miao wären.
Am Nachmittag kam eine Gruppe von etwa zehn Mann zu uns herauf, sie trugen Han-Kleidung, waren bewaffnet und fragten nach dem Vorsitzenden.
"Haben Sie einen Empfehlungsbrief?« fragte ich.
„Ja, ja!« Ein großer Bursche holte einen kleinen Zettel aus seiner Tasche.
Ich überbrachte ihn dem Vorsitzenden, der gerade eine Karte studierte.
Der Vorsitzende las den Zettel und wandte sich leuchtenden Blickes mir wieder zu. "Bitte sie, sogleich hereinzukommen.« Dann ging er ihnen selbst entgegen, um sie zu begrüßen. Ich begleitete die Fremden bis ins Zimmer des Vorsitzenden und zog mich dann ein wenig verwirrt wieder zurück. Was wollten die Leute? Warum begegnete ihnen der Vorsitzende so freundlich?
Die Fremden blieben lange beim Vorsitzenden. Erst gegen Sonnenuntergang verließen sie ihn wieder.
„Vorsitzender, was waren das für Leute?«
"Das waren Miao-Genossen«, antwortete er in gehobener Stimmung.
»Haben denn die Miao auch Waffen?“ wunderte ich mich.
Der Vorsitzende blickte mich strahlenden Gesichts an. „Das waren Miao-Partisanen - unsere Genossen!" „Haben wir auch Genossen unter den Miao?“ fragte ich erstaunt. „Wir haben überall Genossen, und überall gibt es Kommunisten.“ Seine Augen blitzten. „Nimmst du an, wir würden die Revolution monopolisieren?“ fragte er humorvoll.
Neujahr im Wudjiang
In den letzten Tagen des Jahres 1934 erreichte die Zentrale Rote Armee den Kreis Huangping, Provinz Kueitschou. Wir hatten vor, in Houtschang bei Huangping zu kampieren und den Jahreswechsel zu feiern. Houtschang war ein Marktflecken. Auf dem Markt ging es sehr geschäftig zu. Es war die größte Stadt, auf die wir stießen, nachdem wir Juidjin verlassen hatten. Gleich nach unserer Ankunft begab sich Vorsit