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Fortsetzung, Teil II:
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Gleich nach unserer Ankunft begab sich Vorsitzender Mao zu einer Versammlung ins Hauptquartier des Militärrats.
Gegen zehn Uhr war die Versammlung beendet. Als der Vorsitzende seinen Mantel anzog, ging ich mit der Laterne zu ihm. Wir waren ein kleines Stück des Wegs gegangen, da fragte er uns, wie weit es bis zu seinem Nachtquartier wäre. Ich antwortete, etwa zwei bis drei Li.
Es schneite; ein scharfer Wind hatte sich erhoben. Die Kleidung, die der Vorsitzende trug, war nicht warm genug. Als ich hinter ihm herging, die Laterne in der Hand, übermannte mich plötzlich große Rührung. Wir waren jetzt schon über zwei Monate unterwegs, seitdem wir das Sowjetgebiet verlassen hatten, und der Vorsitzende war immer so beschäftigt gewesen, daß er kaum Zeit gefunden hatte, sich auszuruhen. Wie oft hatte er auf dem Weg sein Pferd schwachen oder kranken Genossen überlassen und war selbst zu Fuß gegangen. Wenn wir Rast gemacht und die meisten von uns sich schlafen gelegt hatten, hatte er an Versammlungen teilgenommen, Telegramme gelesen, Dokumente entworfen und anderes erledigt. Wie lange wurde er das aushalten können? Wie herrlich wäre es, wenn er an einem so schönen Ort wie diesem hier einige Tage Rast machen und froh Neujahr feiern könnte! Ich konnte nicht länger an mich halten. "Vorsitzender", sagte ich, „jetzt ist Neujahr. Wir sollten hier eine gute Ruhepause einlegen. Wir haben schon alles vorbereitet!“ Der Vorsitzende blieb stehen, drehte sich zu mir um, rückte meine Mütze zurecht und sagte sehr gütig: „Was, ihr habt alles für eine Neujahrsfeier vorbereitet?“ „Ja, alles ist fertig!“ bestätigte Dseng Hsiän-dji. Der Vorsitzende sah mich wortlos an und dann Dseng, als wäre er ganz in Gedanken versunken.
Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht hatte er nicht gehört, was wir gesagt hatten? Vielleicht dachte er noch an die Fragen, die auf der Versammlung diskutiert worden waren.
Nach geraumer Zeit erwiderte der Vorsitzende: „Wir können hier nicht bleiben. Es gibt wichtigere Dinge zu tun als Neujahr zu feiern.“ „Was gibt's denn zu tun?« fragte ich verwirrt. »Wir müssen mit der Zeit um die Wette laufen und die große Barriere, den Wudjiang, überwinden«, begann der Vorsitzende, als er stehen blieb und uns auf die Schultern klopfte. »Wir sind die Rote Armee. Was ist zur Zeit das Wichtigste für uns Rote Armee? Die Feinde bekämpfen und vernichten. Den Wudjiang, diese Barriere, zu überqueren ist sehr wichtig. Ihr meint, Houtschang sei ein großer Ort. Nein, es gibt viele große Orte in China, viel größere als dieser. Dsunyi zum Beispiel. Und es gibt noch größere Städte als Dsunyi. Wenn wir den Fluß überquert und Dsunyi eingenommen haben, wird es viel interessanter, dort Neujahr zu feiern.“
Er klärte uns kurz über die allgemeine Lage auf. Tschiang Kai-schek hatte verschiedene Truppenabteilungen unter Leitung Hsüä Yüäs und Dschou Hun-yüans ausgeschickt, uns dicht auf den Fersen zu folgen. Wir hatten so schnell wie möglich den Wudjiang zu überschreiten, um eine Berührung mit dem Gegner zu vermeiden.
Am Goldsand-Fluß
An einem Aprilabend des Jahres 1935 erreichten wir - das waren das 9., 1. und 5. Armeekorps, alles Teile der 1. Frontarmee der Roten Armee - den Goldsand-Fluß. Kurz vor der Morgendämmerung setzte ich mit Vorsitzendem Mao in einem Boot über. Gleich nach der Landung begab sich Vorsitzender Mao zu Genossen Liu Botscheng, dem Generalstabschef, um gemeinsam mit ihm die nächste Marschroute zu planen. Ich machte mich auf die Suche nach einem Arbeitsraum und einer Unterkunft für ihn.
Für dieses Unterfangen schien wenig Hoffnung zu bestehen. Ich suchte vergeblich nach Planken oder etwas Stroh für ein Bett. Schließlich legte ich ein Stück Wachstuch auf die Erde und die Wolldecke darauf. Hier, dachte ich, wird er sich schließlich hinlegen können, hatte er doch die ganze Nacht nicht geschlafen und überhaupt in den letzten Tagen nicht geruht.
Meine nächste Aufgabe war es, die Dokumente, Landkarten und Papiere auszulegen. Gewöhnlich erledigte ich das gemeinsam mit seinem Sekretär, Genossen Huang You-feng, wenn wir Rast machten. Wir richteten immer eine Art Tisch oder ein Pult her. Aber hier gab es wirklich gar nichts, das als Nothelfer hätte dienen können, und Genosse Huang war noch auf der anderen Seite des Flusses. Wie sollte der Vorsitzende da seine Arbeit beginnen? Schließlich versuchte ich, eine Landkarte an einer Seite der Höhle anzunageln, aber auch das ging nicht; die Wand war aus Sand; der Nagel hielt nicht. Auch war kein Platz da, worauf man die Dokumente hätte ausbreiten können. Soviel Zeit hatte ich schon verschwendet! Vorsitzender Mao konnte jeden Augenblick von der Sitzung zurückkommen, und nicht einmal ein Tropfen heißes Wasser war da! Und ich wußte, er würde es brauchen, nach all dem, was er hinter sich hatte. Also ließ ich Dokumente Dokumente sein und eilte, das Wasserproblem zu lösen.
Es war heller Tag, als Vorsitzender Mao zurückkehrte und nach mir schickte. Als ich die Höhle erreichte, stand er tief in Gedanken versunken da.
„Oh, Sie sind da. . .“, sagte ich. „Hm - ist alles fertig?“ „Ich habe getan, was ich konnte", sagte ich und zeigte auf das "Bett". „Bretter sind nicht zu finden, da habe ich dieses hergerichtet. Wollen Sie sich nicht ein bißchen hinlegen? In einer Minute wird das Wasser kochen.“
Ich wollte nach dem Wasser gehen, doch er rief mich zurück. »Hast du keine Stelle zum Arbeiten für mich fertiggemacht?“ fragte er. »Genosse Huang ist noch nicht hier", sagte ich, ohne zu überlegen. „Ich konnte nichts finden, was wir als Pult benutzen könnten. Wollen Sie nicht ein bißchen heißes Wasser trinken?“
Er kam einen Schritt auf mich zu, als ob er meine Worte nicht gehört hätte, und sagte sehr ernst, aber nicht gerade ärgerlich: „In einem Augenblick wie jetzt ist Arbeit das Wichtigste. Schlafen, essen, trinken, das ist jetzt Nebensache. Zwanzig- bis dreißigtausend unserer Genossen warten darauf, den Fluß zu überqueren. Dreißigtausend Menschenleben sind in Gefahr!" »Du bist jetzt schon einige Jahre bei mir“, sagte er. „Warum weißt du noch immer nicht, was zuerst an die Reihe kommt? Zuerst immer alles für die Arbeit zurechtmachen! Essen und Schlafen kommen dann erst in zweiter Linie. Du mußt verstehen, Arbeit ist unter allen Umständen immer das Wichtigste."
Drei Tage und drei Nächte dauerte es, bis die Truppen - etwa 30000 Mann - den Goldsand-Fluß überquert hatten. Während dieser drei Tage und Nächte verließ Vorsitzender Mao nie seinen "'Tisch".
Schneegebirge und Sumpfsteppe
Nachdem wir im Juni 1935 den Dadu-Fluß überquert hatten, erreichten wir den Fuß des Djiadjin, eines Berges mit einem hochragenden, schneebedeckten Gipfel.
Wir rasteten einen Tag am Fuß des Berges. Vorsitzender Mao hatte uns geraten, als Vorbeugungsmittel gegen die bittere Kälte bei der Bewältigung des Bergpasses Ingwer und Paprika zu sammeln. Am frühen Morgen des nächsten Tages begannen wir den Aufstieg.
Zu Beginn des Aufstiegs lag noch wenig Schnee, und das Steigen fiel uns noch ziemlich leicht. Nach etwa zwanzig Minuten Aufstieg aber wurden die Schneewehen immer tiefer. Vorsitzender Mao hatte sich an die Spitze gesetzt; mit gekrümmten Schultern mühte er sich mit dem Aufstieg ab. Manchmal rutschte er mehrere Schritte zurück. Dann stützten wir ihn. Aber auch uns war es schwierig, festen Halt zu finden; rutschten wir ab, packte er mit festem Griff unseren Arm und riß uns wieder hoch. Seine Kleidung war ungefüttert. Die dünnen grauen Hosen waren bald durchnäßt, und die schwarzen Baumwollschuhe glitzerten frostüberzogen. Der Aufstieg forderte das Letzte von uns.
Ich kletterte zum Vorsitzenden Mao: „Vorsitzender, es ist zu schwer für Sie. Lassen Sie uns Ihnen behilflich sein!" Ich stand fest an seiner Seite. Doch er antwortete kurz: "Nein, ihr seid ebenso müde wie ich“, und strebte weiter.
Als wir den Berg zur Hälfte erklommen hatten, erhob sich plötzlich ein scharfer Wind. Dicke schwarze Wolken ballten sich um die Bergspitze zusammen. Windstöße wirbelten den Schnee auf, der wild um uns herumfegte.
Ich eilte ein paar Schritte vorwärts und zupfte an des Vorsitzenden Jacke. »Vorsitzender, ein Schneesturm kommt auf“, schrie ich. Er blickte in die Windrichtung. "Ja, er ist gleich da. Bereiten wir uns darauf vor.“ Kaum hatte er ausgesprochen, als schon Hagel, so groß wie Taubeneier, auf uns niederprasselte. Schirme waren gegen dieses stürmische Schnee- und Eismeer nutzlos. Wir verkrochen uns alle - der Vorsitzende Mao in unserer Mitte - unter einer großen Wachstuchdecke, die wir hochhielten. Der Sturm tobte, als wollte der Himmel einstürzen. Alles, was wir vernahmen, waren die wirren Schreie von Menschen, Pferdegewieher und ohrenbetäubendes Donnergetöse. Dann hörten wir plötzlich über uns eine heisere Stimme: »Genossen, haltet aus! Laßt euch nicht unterkriegen! Widerstand heißt Sieg!« Ich hob meinen Kopf und blickte nach oben. Auf dem Gipfel des Berges wehten rote Fahnen.
Fragend sah ich den Vorsitzenden Mao an. „Wer ruft dort?“ „Das sind Genossen von der Propaganda-Abteilung,“ antwortete er. »Lernen wir von Ihnen! Sie haben einen unbeugsamen Willen.«
Der Abstieg war leichter als der Aufstieg. Aber da auf dieser Seite keine Sonne schien, war es kälter. Wir trugen alle dieselbe dünne Baumwollkleidung und zitterten vor Kälte. Ich wickelte mich in eine Decke und stieg, rutschte und rollte so die schneebedeckten Abhänge hinunter.
Bald danach trafen wir Genossen von der 4. Frontarmee, die Banner trugen, auf denen die Losung stand: "Erweitert die revolutionäre Basis in Nordwest Szetschuan!" Die Kräfte kehrten in unsere Glieder zurück. Wir begrüßten die Genossen wie Brüder, von denen wir uns vor langer Zeit getrennt hatten.
Als wir das letzte Stück des Berges überwunden hatten, schaute ich zum Gipfel zurück. Die roten Fahnen wehten noch immer über dem schneebedeckten Berg. Noch immer klangen die unermüdlichen Stimmen der Genossen von der Propaganda-Abteilung in den Ohren.
Auf dem Liupan-Berg
An einem Abend Mitte September kamen wir in ein Dorf in der Nähe von Ladsikou.
Ladsikou war bekannt als ein strategisch wichtiger Paß, der die Provinzen Szetschtian und Kansu verbindet, und war einer der wichtigsten Pässe, die wir auf dem Marsch nach Nord-Schensi passieren mußten. Es schien mir sicher, daß der Vorsitzende mit den anderen Chefs hierüber diskutierte, so zog ich mich geräuschlos zurück. Vorsitzender Mao kam in jener Nacht erst sehr spät zur Ruhe.
Aber am nächsten Morgen bereits attackierten wir diesen Paß und nahmen ihn bald ein. Ohne Halt zu machen, setzten wir unseren Marsch fort.
Endlich daheim
Nachdem wir das Liupan-Gebirge überwunden hatten, kamen wir in das Gebiet der Hui-Nationalität in Kansu. Die Hui-Bevölkerung war uns Roter Armee sehr herzlich gesonnen. Wohin wir auch kamen, standen die Bewohner Spalier und begrüßten uns.
Sie sagten uns, daß die 25. Armee-Einheit unserer Roten Armee auf ihrem Marsch im Juli mit ihrer eisernen Disziplin ihnen einen sehr tiefen Eindruck hinterließ. Als wir uns dem Norden der Provinz Schensi näherten, ließ uns unsere Begeisterung alle Mühsal und Leiden, die wir durchgemacht hatten, vergessen. Wir sehnten uns danach, den Boden von Schensi zu betreten und unser künftiges „Zuhause“ zu erreichen.
Während des 80 Li langen Marsches von Tjüdschi bis zum Grenzgebirge an der Kansu-Schensi-Grenze hatten wir 18 Geplänkel mit der Kavallerie des Kuomintang-Kriegsherren Ma-Hung-kui. Aber sobald wir mit ihnen in Berührung kamen, sprengten sie davon.
Der trockene Humor des Vorsitzenden in den Bemerkungen über diese Truppe machte uns Freude. »Sie wagen uns nicht anzugreifen, wenn sie wissen, daß sie die Rote Arbeiter- und Bauernarmee vor sich haben“, meinte er. »Sie sind nur Spezialisten im Davonlaufen!«
Auf dem Gipfel des Berges stand eine große Tafel, die in fetten Schriftzeichen verkündete: „Grenzlinie“. Es war die Grenze zwischen den Provinzen Kansu und Schensi. Der Vorsitzende las die Schriftzeichen auf der Tafel. »Wir haben schon zehn Provinzen durchquert“, sagte er frohgestimmt. »Wenn wir diesen Berg jetzt hinabsteigen, betreten wir die elfte Provinz, Schensi. Das ist unsere Basis, unser Zuhause!«
Endlich kam der große Tag. Wir standen mit dem Vorsitzenden auf einem kahlen Gipfel. Zu Beginn des Kampfes ratterten unsere Maschinengewehre. Die erschrockenen Pferde rissen wiehernd nach allen Richtungen aus und versuchten, dem Kugelregen zu entwischen; sie warfen ihre Reiter ab oder rollten mit ihnen den Abhang hinunter. Die Unverletzten rannten um ihr Leben. Es machte richtig Spaß, die Schlacht von der "hohen Warte" aus zu betrachten.
Während die Truppen in Wutji Rast machten, begleiteten wir den Vorsitzenden nach Hsiaschiwan, dem Sitz des Provinz-Parteikomitees und des Provinzsowjets von Schensi-Kansu. Es war schon dunkel, als wir Hsiaschiwan erreichten. Wir vernahmen Gongs und Trommeln und den Lärm vieler Menschen. Aus der Ferne sahen wir schon auf einem geräumigen Platz vor dem Dorf eine große Menschenmenge. Die Bevölkerung hatte sich versammelt, um den Vorsitzenden zu begrüßen.
Sobald die Versammelten ihn erblickten, brachen sie in tosenden Beifall ans. Unter dem mächtigen Getöse der Gongs und Trommeln stürzte die Menge mit kleinen roten und grünen Fahnen in den Händen auf uns zu. Die Fahnen trugen die Inschriften:
Willkommen, Vorsitzender Mao!
Wir begrüßen die Zentrale Rote Armee!
Erweitert das Sowjetgebiet von Schensi-Kansu-Ningsia!
Zerschlagt die dritte feindliche Einkreisung!
Lang lebe die Kommunistische Partei Chinas!
In seinem abgetragenen Mantel, den er aus Kiangsi mitgebracht hatte, und mit seiner alten Mütze auf dem Kopf stand der Vorsitzende da und nickte und winkte der Menge immer wieder zu. Dann gaben die Versammelten den Weg frei für eine Gruppe führender Genossen. Sie gingen zu ihm, schüttelten ihm die Hände. Unter ihnen befanden sich Liu Dschi-dan und Hsü Hai-dung (Kommandeur der 25. Roten Armee). Um den Vorsitzenden hatten sich die Genossen Tschou En-lai, Dung Bi-wu, Hsü Tö-li, Lin Bo-tjü und Hsiä-Düä-dsai versammelt, um die Willkommensgrüße entgegenzunehmen. Sie begrüßten die Umstehenden mit Händedruck und stellten einander vor. »Willkommen, Vorsitzender Mao!« jubelte die Menge. Die Willkommensrufe ertönten von allen Seiten, daß ringsum die Erde erdröhnte.
Und Dseng Hsiän-dji und ich schrieen laut: »Wir haben gesiegt! Wir haben gesiegt!«
Rotchinas Mythos
So sehr der Bericht von Tschen Tschang-feng auch durchsetzt ist mit pathetischen Verklärungen, so augenfällig sind doch die Grundzüge des Bildes, das er vom Langen Marsch entwirft. Es entspricht dem tatsächlichen Verlauf, ja es untertreibt die unerhörten Strapazen, es geht auch fast durchweg über die schrecklichen Verluste hinweg. Zwei Monate, nachdem die Reste der Roten Armee in Schensi eingetroffen waren, Ende 1935, gab Mao Tse-tung ein nüchternes, leidenschaftsloses Resümee. Er gab zu, daß es nicht gelungen war, die ursprünglichen Sowjetzentren zu halten; doch allein die Tatsache, daß der Lange Marsch überhaupt stattgefunden hatte, sei gleichbedeutend mit einem Sieg gewesen. Dementsprechend hätten die Kuomintang die Vernichtung der Sowjetbasen als einen Sieg verbuchen können, doch sie hätten weder „Einkreisung und Vernichtung", noch „Verfolgung und Vernichtung“ durchsetzen können: „Nur die eine Feststellung ist korrekt, daß wir den Langen Marsch tatsächlich durchgeführt haben."
In seiner charakteristischen Diktion zieht Mao Tse-tung folgende Bilanz: »Wir sagen, daß der Lange Marsch der erste seiner Art ist, der in der Geschichte verzeichnet wurde, daß er ein Manifest, ein Agitationskorps und eine Sämaschine ist. Hat es in der Geschichte jemals einen so langen Marsch wie den unseren gegeben? Nein - niemals. - Der Lange Marsch ist ein Manifest. Er proklamiert der Welt, daß die Rote Armee eine Armee von Helden ist und daß die Imperialisten und ihre Schakale, - Leute wie Tschiang Kai-schek und seinesgleichen völlig unwesentlich sind. Er erklärt den Bankrott der Einkreisungs-, Verfolgungs-, Behinderungs- und der Abfangversuche der Imperialisten und Tschiang Kai-scheks. - Der Lange Marsch ist auch ein Agitationskorps. Er erklärt den annähernd 200 Millionen Menschen der elf Provinzen, daß nur der Weg der Roten Armee zur Befreiung führt. Wie hätten die Massen ohne den Langen Marsch so schnell erfahren können, daß es in der Welt so große Ideen gibt, wie sie von der Roten Armee aufrechterhalten werden? - Der Lange Marsch ist auch eine Sämaschine. Er hat viele Saaten in elf Provinzen gepflanzt, die Sprossen, Blätter entwickelten, Blüten, die zu Blumen werden, Frucht tragen und in der Zukunft eine Ernte einbringen werden. Um es zusammenzufassen: der Lange Marsch endet mit unserem Sieg und der Niederlage des Feindes.«
Militärisch könnte man die Ankunft des völlig erschöpften Restes der Ersten Armee der Roten in Schensi als fast belanglos bezeichnen. Aber die Stärke von Soldateneinheiten hat sich noch nie in der Geschichte anhand der reinen Zahlen festlegen lassen. Von denjenigen, die zum Langen Marsch angetreten waren, kam nur jeder zwanzigste an. Doch das zählte kaum gegenüber der Tatsache, daß durch den Langen Marsch das Zentrum des kommunistischen Aufstandes vom Süden in den Norden verlegt wurde. Die revolutionäre Bewegung erhielt dadurch einen gewaltigen Zuzug von neuen Kämpfern; sie milderten auch zahlenmäßig ein wenig die Verluste des Langen Marsches. Daß dieses von Anfang an fast aussichtslose Unternehmen doch zu Ende geführt werden konnte - diese Tatsache genügte im übrigen, um der Roten Armee Chinas den Nimbus der Unzerstörbarkeit zu verleihen, ja dem chinesischen Volk selbst seinen nationalen Stolz und ein unerschütterliches Selbstbewußtsein zu vermitteln.
Zum Langen Marsch gehörten natürlich auch Zufall und Glück. Keine militärische Operation kommt ohne diese Elemente aus; daß sich Glück und Zufall nicht planen und berechnen lassen, gehört zu ihrer Natur. Doch sie schlagen nicht zu Buche, wenn sie nicht begleitet werden von Mut, Opferbereitschaft und Stärke des Charakters. Mao Tse-tung hat mehr als genug davon besessen, genügend vor allem, um damit unerschöpflich auf seine Mitkämpfer einzuwirken. So wurde der Lange Marsch zum entscheidenden Ereignis in der neuzeitlichen Geschichte Chinas. Wäre Maos Langer Marsch gescheitert, hätten die Chinesen - ein Viertel der Erdbevölkerung - nicht den Weg in die Moderne, ins zwanzigste Jahrhundert gefunden."
(Quelle: Hellmut Diwald, Die Großen Ereignisse, Bd. 6, S. 365 – 389)